Mutmaßliche Nachrichtenredakteure

Nachrichtensendungen im Radio und Fernsehen, aber auch Zeitungsberichte sind für mich zur Zeit schwer erträglich. Es sind nicht nur die grauenvollen Inhalte der Nachrichtenbeiträge, es ist auch der erschreckend unsensible, unpräzise, inkompetente Umgang mit der Sprache.

Der ZDF-Kollege Mitri Sirin, Redakteur im Studio bei heute, ist nur einer von vielen. Dass ich ihn exemplarisch herausgreife, kommt allein daher, dass mir bei seiner gestrigen Sendung etwas besonders drastisch auffiel, das beileibe nicht nur er praktiziert: Formulierungen, die mich fast zu Mutmaßungen darüber treiben, ob der russische Botschafter in Berlin vielleicht heimlich einen Sitz im Fernsehrat erhalten hat. Allerdings müsste dann auch die Süddeutsche Zeitung bedroht worden sein, denn meine Tageszeitung drückt sich sehr ähnlich aus wie „heute“.

Es ging in Sirins Anmoderation und im Bericht von Katrin Eigendorf um die Greueltaten in Butscha. Bekanntlich waren dort die Leichen gefesselter und gefolterter Zivilisten aufgefunden worden. Um passende Worte für die Taten zu finden, muss ein Moderator oder eine Korrespondentin kein zweites juristisches Staatsexamen abgelegt haben. Man kann vielleicht noch darüber streiten, ob die spitzfingerige Distanzierung „sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten“ nur ein tollpatschiges Zugeständnis an die vielen unbelehrbaren Putin-Apologeten im Lande ist, die das deutsche Gebührenfernsehen eh hassen. „Mutmaßliche Nachrichtenredakteure“ weiterlesen

Wenn Geisteswissenschaftler über Technik schreiben

Ein Journalist ist angeblich jemand, der anderen Menschen einleuchtend Dinge erklärt, die er selbst nicht verstanden hat. Ich stelle gemeinhin höhere Ansprüche an mich selbst und versuche, nur über Dinge zu schreiben, die ich verstanden habe. Und bei brand eins gibt es da noch die Kolleginnen von der Doku, die auch mir auf die Finger schauen und schon den einen oder anderen Lapsus entdeckt haben, der mir trotz aller Sorgfalt unterlaufen ist. P.M., vielen noch bekannt als Gerhard „Peter“ Moosleitners „interessantes Magazin“, scheint solches Fact Checking nicht mehr so wichtig zu sein. Deshalb kommt heute mal wieder etwas in meine Rubrik „Ja, liest denn keiner mehr gegen?“.

Ein Kollege, der mit seinem „universellen Halbwissen“ kokettiert, das „typisch Geisteswissenschaftler“ sei (da widerspreche bitte jemand anders), ließ sich also in P.M. zu einem eigentlich spannenden Thema aus, nämlich „grüner surfen“. Wieviel Strom verplempern wir online? Ja, das wüssten wir alle gerne.

Will man das wirklich hart recherchieren, damit am Ende brauchbarer Nutzwert für die Leser herauskommt, ist das eine Menge Arbeit, für die man Ahnung von den technischen Abläufen braucht. Es wäre gut, so einen Auftrag an eine Fachjournalistin (w/m/d) zu vergeben. Von einem halb- oder viertelwissenden Geisteswissenschaftler würde ich mir da nicht viel versprechen. Und so liest sich der Text dann eben auch: oberflächlich und immer dann, wenn es droht konkret zu werden, pseudo-präzise bis zur Absurdität. Dass die Überschrift nicht passt, weil E-Mail mit Surfen rein gar nichts zu tun hat, will ich dabei sogar mal ignorieren.

Schauen wir mal, was der Kollege so schreibt:

Zitat 1: „Das Verfassen und Senden einer Mail mit rund einem Megabyte setzt rund zehn Gramm CO₂ frei. Macht man das zehnmal am Tag, entspricht das übers Jahr dem CO₂-Ausstoß von 200 gefahrenen Auto­kilometern.“

Das sind natürlich völlig willkürliche, hypothetische Annahmen ohne Alltagsbezug. Ich kann zwar zurückrechnen, dass der Kollege von einem Auto mit einem Verbrauch von 7,7 Litern Benzin oder 6,9 Litern Diesel auf 100 km ausgeht. Aber aus welcher Luft die Schätzung mit den zehn Gramm gegriffen ist, bleibt schon im Nebel. Und wie oft verschickt man denn im richtigen Leben eine E-Mail mit einem Volumen von einem Megabyte? Ich eigentlich fast nie. Die meisten Mails haben keinen Anhang und sind deswegen wenige Kilobyte groß. Hängt eine Word-Datei oder eine Tabelle dran, sind es vielleicht 50 KB. Von solchen Mails könnte ich also nicht zehn, sondern Hunderte am Tag versenden, „Wenn Geisteswissenschaftler über Technik schreiben“ weiterlesen

Nicht-Flugtaxi: Lilium-Märchen wird immer abstruser

Wenn man denkt, der Gipfel der Absurdität müsste langsam überschritten sein, geht der Steigflug plötzlich weiter. So ist es beim Nicht-Flugtaxi „Lilium Jet“ – und der Berichterstattung über einen Unternehmer, bei dem das Jahr 403 Tage hat.

Kürzlich hatte ich hier schon am Beispiel eines Beitrags aus der „Welt“ die vollkommen weltfremden Behauptungen des Weßlinger Flugzeug-Nichtherstellers Lilium auseinandergenommen, die es trotz ihres eklatanten Mangels an Plausibilität in die Presse geschafft hatten. Heute legte die Zeitung aus dem Springer-Verlag noch einmal nach und bewies damit, dass PR- und IR-Manager mit der nötigen Chuzpe manchen Kollegen – und Investoren – wirklich die abstrusesten Zahlen vorlegen können, ohne dass diese endlich mal sagen: „Ja, spinnt Ihr denn jetzt endgültig?“

Schon die Überschrift des Beitrags anlässlich des jetzt vorgestellten Börsenprospekts ist eine reinrassige Ente. Lilium wolle für 1,16 Euro je Kilometer fliegen, heißt es unter der – ebenso entenhaften – Dachzeile „Flugtaxi-Start-Up“. Es wird sich allein schon deshalb niemand für 1,16 Euro pro Kilometer ein Flugtaxi kommen lassen können, weil niemand Flugtaxis bauen will, sondern den „ICE der Lüfte“.

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Lilium: Flixflugzug zum Taxipreis

Habe ich schon mal erwähnt, dass der Aerokurier fast das einzige deutsche Medium ist, dem ich beim Thema Flugtaxis wirklich vorbehaltlos vertraue, weil der zuständige Kollege die richtigen Fragen™ stellt? Wenn nicht, sei dies hiermit nachgeholt. An den Medien, mit denen der Weßlinger Flugzeugkonstrukteur Lilium unaufgefordert spricht, also etwa ausgewählten Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern, verzweifle ich hingegen. Selbst Kollegen, die ich sonst eigentlich schätze, lassen sich blenden, statt mal zum Taschenrechner zu greifen und die Plausibilität der PR-Ansagen zu checken.

Screenshot von welt.de

Ich möchte niemanden persönlich durch den Kakao ziehen, an der Nennung des Mediums Welt komme ich aber nicht vorbei. Dort las ich gestern, Lilium (der Möchtergern-Hersteller des eleganten 36-rotorigen Senkrechtstarters für fünf oder sieben Insassen) positioniere sich „nicht als Großstadt-Flugtaxi, sondern als Ersatz für ICE- oder Autobahnverbindungen für bis zu 250 Kilometer Entfernung“. Lassen wir mal außer acht, dass ein Unternehmen weder ein Taxi sein noch eine ICE-Verbindung ersetzen kann. Wir wissen ja, was der Autor meint.

Interessant ist daran, dass Lilium angeblich Menschen befördern will, die sich heute entweder allein zu selbstbestimmter Zeit in ihr Auto setzen, um ohne Umsteigen von einem Haus in A-Stadt zu einem Haus in B-Stadt zu fahren, oder sich einem fixen Fahrplantakt unterwerfen, um bequemer und schneller gemeinsam mit Hunderten anderen Menschen von A-Stadt Hbf nach B-Stadt Hbf zu sausen, wobei sie natürlich auch noch irgendwie vom und zum Bahnhof kommen müssen. Für das Geschäftsmodell ist es ziemlich entscheidend, ob Lilium das eine oder das andere angreifen will: Der Verweis auf die Autobahn ist absurd, wenn die Fliegerchen nicht die gleiche Leistung erbringen wie ein Taxi oder eben der motorisierte Individualverkehr, nämlich (zumindest annäherungsweise) von Haus zu Haus fahren.

Ist das nicht möglich (Spoiler: das ist es wirklich nicht), unterliegt dieses Verkehrsmittel ohne Wenn und Aber den Gesetzmäßigkeiten des öffentlichen Personenverkehrs: Es ist dann Teil einer mehrgliedrigen Mobilitätskette, die mit Fahrrad, ÖPNV oder eigenem Auto beginnt und/oder endet. Um konkurrenzfähig zu sein, müssen die kleinen Batterieflugzeuge außerdem ihre Transportleistung schneller oder billiger erbringen als das Verkehrsmittel, das sie verdrängen sollen. Oder beides: schneller und billiger.

Rechnen wir mal nach: Bis zu 250 Kilometer – das wäre zum Beispiel die Strecke München-Stuttgart. „Lilium: Flixflugzug zum Taxipreis“ weiterlesen

Augsburger allgemeine Dramaqueen (m/w/d)

Ein Begriff, dessen sich die Genderexpert:innen dringend annehmen sollten, ist die Dramaqueen. Allzu oft, eigentlich allermeistens, sind es schließlich Männer, die Dinge dramatisieren und sich in Selbstmitleid ergehen. Daher ist es unfair, dass der populärste Begriff dafür ein generisches Femininum ist, die Dramakönigin. Ein Exemplar dieser Gattung ist Matthias Z., ein Journalist, der mich durch seinen Aufmacher in der Augsburger Allgemeinen (Foto oben) dazu getrieben hat, meine alten Kollegenschelte-Rubriken „Ja, liest denn keiner mehr gegen?“ und „Ja, rechnet denn keiner mehr nach?“ gleichzeitig zu reaktivieren.

 

Ein paar Fakten vorweg: Redakteur Z. ist Arbeitnehmer, ein „abhängig“ Beschäftigter, ein sozialversicherungspflichtiger Angestellter. Ein Mann in den besten Jahren, der laut Tarifvertrag pro Jahr 67.513,50 Euro ohne die im Tageszeitungsgewerbe sporadisch anfallenden Sonntags- und Feiertagszuschläge verdient. Wenn er gut verhandelt hat, verdient er mehr. Er hat Anspruch auf 32 Urlaubstage pro Jahr, und seine tarifliche Arbeitszeit beträgt 36,5 Stunden pro Woche beziehungsweise sieben Stunden und 18 Minuten pro Arbeitstag. Natürlich steht ein Redakteur nicht auf und geht, wenn die Sieben-Stunden-und-neunzehnte-Minute beginnt. Wahrscheinlich muss der Kollege nicht nur Überminuten, sondern sogar Überstunden schieben, die er nicht vollständig in Form freier Tage abfeiern kann. Je nachdem, ob es ein arbeitnehmer- oder arbeitgeberfreundliches Jahr ist, muss jemand wie er zwischen 213 und 221 Tage arbeiten, im Durchschnitt gut 217 Tage. An 144 bis 152 Tagen hat er frei. Das Verhältnis von Arbeitstagen zu freien Tagen beträgt 6:4.

„Genaue Zahlen fehlen“

Diese Informationen sind wichtig, um sich zumindest ein ungefähres Bild davon machen zu können, von welcher Warte aus ein Mann wie er die Welt sieht. Schließlich geht es in seinem zerpflückenswerten Text ja ums Geld und die Leiden des deutschen Arbeitnehmers in Zeiten von Corona. Um die „Zeche“, die so einer dafür zahlt, nicht ins Büro fahren zu dürfen. „Augsburger allgemeine Dramaqueen (m/w/d)“ weiterlesen