Sonderangebote der Sonderklasse

TUI, Neckermann & Co. bauen ihre Vertriebsnetze aus. Exklusivverträge für Reisebüros gibt es nicht mehr. Mit Überkapazitäten steuern die Reiseriesen die Branche in den Verdrängungswettbewerb. Kleine fürchten um ihre Existenz.

Schlechte Nachricht für Freunde des sanften Tourismus: 1994 fielen sehr viel mehr Bäume der Reiselust der Deutschen zum Opfer als in früheren Jahren. Freilich mußten sie nicht pompösen Hotelneubauten weichen. Sie dienten als Rohstoff für eine wahre Papierflut, von der noch niemand ahnt, wieviel davon ungenutzt im Altpapiercontainer verschwinden wird. Niemals zuvor haben die Reiseveranstalter so viele Kataloge ausgeliefert wie zum Auftakt der Buchungssaison 1995.

Die Zusatzauflage – allein Marktführer TUI stückte um sechs auf 30 Millionen Exemplare auf – ist für Tausende neuer Verkaufsstellen bestimmt: Zum 1. November kippte TUI die Konkurrenzausschlußklausel, mit der sie bisher ihren Reisebüropartnern verboten hatte, parallel die Programme von NUR Touristic (Neckermann/Karstadt) oder ITS (Kaufhof-GruppeJ zu führen. Da fortan auch NUR die Gegenwart von ITS duldet, darf in der Praxis jedes Reisebüro ab sofort alle Marken führen. Die Vergrößerung der Vertriebsnetze glückte auf Anhieb: Allein die Neckermänner nehmen über 3600 zusätzliche Vertretungen in ihren Vertrieb auf. Die Broschüren des Dreigestirns liegen jetzt jeweils in rund 8000 Reisebüros aus – bei fast zwei Dritteln der relevanten Betriebe.

Mit der „Vertriebsliberalisierung“ wollen die Giganten dem Bundeskartellamt den Wind aus den Segeln nehmen. Die Behörde hatte schon in den 80er Jahren versucht, den Exklusivvertrieb der Ferienkonzerne auszuhebeln, war aber schließlich vor dem Berliner Kammergericht gescheitert.

Die Wettbewerbswächter ließen nicht locker und entdeckten im europäischen Recht einen neuen Hebel, den sie auch anzusetzen drohten. Diesmal ließen es die Reiseriesen nicht auf einen Streit ankommen; seit der Bananenaffäre ist bekannt, daß Brüssel beim Verdacht auf Wettbewerbsbeschränkungen keinen Spaß versteht. Brancheninsider mutmaßen indes, die Berliner Beamten hätten bei ihrem zweiten Anlauf nur offene Türen eingerannt. Anscheinend sehen sich nämlich weder TUI noch NUR vom Vonnarsch des jeweils anderen bedroht.

Im Gegenteil: Beide kalkulieren mit weiterem Wachstum, als könne die neue Konkurrenzsituation ihr Geschäft nur beleben. TUI-Sprecher Rainer Ortlepp hält zehn Prozent Mehrumsatz für das mindeste, auch wenn seine Stretch-Formulierung bis 99 Prozent paßt: „Wir rechnen mit zweistelligen  Zuwachszahlen.“ Konkreter wird NUR-Sprecher Gunter Träger: „Der Markt wächst um drei Prozent, wir planen zwölf Prozent.“

Dem Hoffnungswert von plus neun Prozent steht ein um 70 Prozent aufgeblähtes Vertriebsnetz gegenüber. „Die Großveranstalter waren mit ihren Ausschlußklauseln an die Grenzen des Wachstums gestoßen“, deutet Christian Boergen, Pressesprecher des Bundesverbands mittelständischer Reiseunternehmen e.V. in Frankfurt/Main, den scheinbaren Sinneswandel. Boergen fürchtet, daß die Konzerne ihre Expansionsgelüste vor allem auf Kosten der mittelständischen Veranstalter befriedigen werden. Darin ist er sich mit dem Präsidenten des Deutschen Reisebüro-Verbands (DRV), Otto Schneider, einig. „Die sogenannte Vertriebsliberalisierung“, wettert Schneider, „verstärkt die seit Jahren anhaltende Tendenz zur Konzentration.“

Die Riesen drängen vor allem in das Marktsegment, das sich bisher mittelgroße Me-too-Anbieter wie Hetzel (Stuttgart), Kreutzer (München) oder Fischer (Hamburg) mit den Marken der LTU-Gruppe (u. a. Meier’s Weltreisen, Jahn-Reisen, Tjaereborg) teilten. Diese Veranstalter, die an der Verkaufsfront bequem im Windschatten des jeweiligen Hauptlieferanten segelten, müssen sich künftig mehrerer übermächtiger Rivalen erwehren.
Der Kampf gegen die Schwächeren ist gnadenlos. So schürte die Karstadt-Tochter NUR Touristic schon im Herbst 1993 die Ängste der Verbraucher mit einem Inserat, das den Lesern riet, „für die kostbarsten Wochen des Jahres auf Nummer Neckermann“ zu gehen. Die Annonce, eine Anspielung auf die Pleite der Skandalfirma MP Travel Line, war dekoriert mit einer Auswahl reißerischer Schlagzeilen über gestrandete Touristen. Zum Ärger der Halbschwergewichte hatte die fiese Masche sogar Erfolg: Unter den Großanbietern erzielte NUR in der Saison 1993/94 den stärksten Kundenzulauf.

Mit der „Liberalisierung“ nimmt der Verdrängungswettbewerb an Schärfe noch zu. Je leichter die ausgebufften Vkf-Profis der Großveranstalter den Reisebüros die Arbeit machen, desto schwerer fällt es den kleineren  Wettbewerbern, überhaupt noch die Aufmerksamkeit der Expedienten und Touristen zu erregen. Scheinbar Banales wie die Präsentation der Kataloge hinter dem Counter wird zum Problem: Allein die Sommerkataloge der TUI belegen 25 Kästen. Hinzu kommen die Prospekte der allgegenwärtigen LTU-Gruppe, die ebenfalls auf ein gutes Display ihres gesamten Sortiments Wert legt. Wird dann auch noch NUR oder ITS hereingenommen, bleibt selbst bei optimaler Raumgestaltung kaum mehr Platz für die kleineren Anbieter.

Schon im Vorfeld der Saison wagte die Hamburger Fischer-Reisen GmbH deshalb den Sprung in die große Welt der Werbung. In einer Plakataktion promotete das Unternehmen eine bundeseinheitliche 0180-Rufnummer, unter der sich Urlauber direkt an den Veranstalter wenden und Kataloge bestellen konnten. „Viele haben gedacht, es ist ein Gewinnspiel“, schmunzelt Marketingleiterin Wybcke Meier über die lebhafte Resonanz des Publikums.
Die Aktion, die bis Mitte Oktober lief und durch Inserate unterstützt wurde (Tagespresse und Reisejournale sowie Kleinformate in Spiegel, Stern und Focus), hatte das alleinige Ziel, Nachfragedruck in den Büros zu erzeugen. Am Telefon waren nur die Adressen der örtlichen Fischer-Partner zu erfahren; buchen konnte man nicht. Inzwischen zeigt sich der Hamburger Mittelständler sogar ab und an im Fernsehen – im Werbeblock „Schnäppchen-Time“ des ARD-Vorabendprogramms.

Der Mittelständler Kreutzer-Reisen in München (Jahresumsatz: 500 Millionen Mark) wappnete sich für die erste Buchungssaison nach dem TUI-Day unter anderem durch eine Modernisierung seiner veralteten EDV. Um einen „stärkeren Schulterschluß mit den Reisemittlern“ zu erreichen, so Werbeleiter Albin Loidl, habe sein Unternehmen bei der Provision für die Reisebüros etwas draufgelegt und Expedienten zu Workshops und Inforeisen eingeladen. Im Gespräch sind Inserate in der Tagespresse, eine Kundenzeitschrift und Sympathiekampagnen wie jene, bei der jugendliche Fluggäste im Münchener F.J.-Strauß-Airport mit Werbe-Baseballkappen ausstaffiert und zum Fotowettbewerb eingeladen wurden.

Der schwäbische Veranstalter Hetzel-Reisen (Umsatz: 397 Millionen Mark) greift zum spitzen Bleistift und konzentriert sein Marketing auf das buchungsfreudigste Viertel seiner Vertriebspartner. In diese „Top-Agenturen“ investiert das Unternehmen den Löwenanteil des Vkf-Budgets. „Wenn uns so ein knackiges Jahr bevorsteht“, rechtfertigt Werbemanagerin Gabriele Andersen die Einführung eines Zweiklassensystems unter den Reisebüros, „müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Gelder sinnvoll einsetzen. Mit der Gießkanne über die Wüste erreiche ich nicht viel – da ist es besser, die Oasen gründlich zu bewässern.“

Breit angelegte Publikumswerbung hat bisher kaum ein Veranstalter auf die Tagesordnung gesetzt. Nur die LTU-Gruppe in Düsseldorf klotzt mit einer Printkampagne, deren Kosten bei 20 Millionen Mark liegen sollen. Die bisher eigenständigen Marken der Gruppe – Jahn-Reisen, Transair, THR-Tours, Meier ’s Weltreisen und Tjaereborg treten nur noch unter der Dachmarke LTU auf. „Wir führen diese Cl mit einem hohen Impact gegenüber dem Endverbraucher ein“, schwärmt Jörg Reese, Leiter Werbung und Promotion bei LTU, von den doppelseitigen Annoncen in der Publikumspresse, „dabei verbinden wir wunderschöne vierfarbige Motive mit knackigen Headlines und Preiselementen.“

Alle großen Veranstalter haben für die Wintersaison üppig eingekauft, denn keiner will zu wenig Plätze für die neuen Kunden haben. Hetzel-Werbechefin Andersen befürchtet als Folge im Frühjahr „ganz üble Sonderangebote“.

Außen hui, innen TUI

Der Vertrieb ist liberalisiert. Doch Experten warnen: Die Reisebüros steuern auf ein langweiliges Einheitssortiment zu.

Sie sollten sich „von bunten Argumenten in Glanzkatalogen nicht blenden
lassen“, ermahnte Albrecht Feibel, Präsident des Bundesverbands mittelständischer Reiseunternehmen, Frankfurt, im Mai die deutschen Reisebüroinhaber. Indes: Der Appell fruchtete nicht. Der Kleber „Jetzt auch hier: TUI. Schöne Ferien!“ ziert inzwischen landauf, landab die Schaufensterscheiben der Reisebüros – ein voller Erfolg für die Vkf-Spezialisten des Konzerns aus Hannover, die ihr Material mit der Parole „Außen TUI, innen TUI!“ unter die Leute brachten.

Hinter den Fassaden sieht es mehr pfui als hui aus: Schon jetzt müssen die Reisebüros, so das vorläufige Fazit eines vom Bundeswirtschaftsminister geförderten Betriebsvergleichs, mit einer hauchdünnen Nettorendite von 0,89 Prozent auskommen. Auf ihre Kosten kommen sie nur, wenn sie bei ihrem Leitveranstalter gewisse Umsatzschwellen überschreiten und sich so für Extrapunkte bei der Provision qualifizieren. Die Reisebüroketten haben deshalb in den vergangenen Jahren ihr Sortiment gestrafft. Walter Krombach, Geschäftsführer der Hapag-Lloyd-Reisebüros, hat jetzt zusätzlich zu TUI und LTU auch NUR und ITS ins Programm genommen. „Wir erwarten eine erhöhte Nachfrage aufgrund des Sicherheitsbedürfnisses der Kunden“, so Krombach.

Der Gedanke, daß die Reisebüros damit den Konzentrationsprozeß auf Anbieterseite vorantreiben, bereitet Otto Schneider, dem Chef des Deutschen Reisebüro-Verbands, Frankfurt, Kopfschmerzen: „Die großen Veranstalter werden sich nach zwei Jahren angucken, was ihnen die 8000 Reisebüros denn gebracht haben.“ Für diejenigen, die bei dieser Auslese den kürzeren ziehen, sieht der Branchenfunktionär schwarz: „Hoffentlich finden die dann noch genügend andere Veranstalter, deren Programme sie
verkaufen können.“

 

Erschienen in der w&v werben & verkaufen 45/1994.

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