Rückzug in den Elfenbeinturm

Ich bin vielleicht nicht der einzige, der im Sommer eine Diskussion über Wissenschaftskommunikation verpasst hat. Jedenfalls ist es ziemlich unfassbar, dass sogar Kommunikationswissenschaftler aus nicht immer glücklichen Darstellungen von Wissenschaft in den Medien den Schluss ziehen, es sei wohl besser, wenn sich die Wissenschaftler darauf beschränkten, mit ihresgleichen zu kommunizieren:

„…es gibt eben auch keine aus der Funktion von Wissenschaft, aus ihrer Eigenlogik ableitbare Notwendigkeit von Öffentlichkeit. Um es ganz deutlich zu formulieren: Die Idee und Praxis von Wissenschaftskommunikation, so wie der Begriff hier verstanden wird, ist im Prinzip wissenschaftsfremd.“

Im Wesentlichen räsonieren die Autoren darüber, was denn die Wissenschaft davon habe, wenn Wissenschaftler an die außerakademische oder außerfachliche Öffentlichkeit gehen, und diese Frage ist für ihn rhetorisch. Sie sehen ja weitaus mehr Nach- als Vorteile.

Was sie davon hat, das kann ich ihnen sagen: Sie behält vielleicht ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Relevanz. Wenn sich die Akademiker im Elfenbeinturm verschanzen und nichts mehr nach draußen lassen, wecken sie auch keine Neugier mehr beim Nachwuchs. Dann bleiben ihnen die Studenten weg. Statt dessen raunen irgendwelche Verschwörungstheoretiker über die düsteren Machenschaften hinter den Mauern dieses aus Stoßzähnen gewilderter Elefanten geschnitzten Bauwerks: Wissenschaftler sind Leute, die geschützte Arten abschlachten lassen…

Nein, ganz so bescheuert sind natürlich nicht mal die Verschwörungsfritzen, dass sie den Elfenbeinturm wörtlich nehmen. Aber das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft wird fraglos zunehmen.

Die Gesellschaft, die den Professoren die Forschung ermöglicht, hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, was mit ihrem Steuergeld geschieht. Wer ohne Transparenz forschen will, soll das von seinem eigenen Geld als Privatgelehrter tun. Es verlangt ja niemand, dass jeder Wissenschaftler gleich ein Harry Lesch werden muss. Aber wenn ich mir vorstelle, dass sich die Öffentlichkeitsverweigerer in den Gründertagen des Fernsehens durchgesetzt hätten, wäre nicht einmal ein so bedächtiger Mann wie Heinz Haber auf den Schwarzweiß-Bildschirm gekommen. Die Öffentlichkeitsphobiker von heute würden einen wie ihn wohl schon als mediengeilen Profilneurotiker ansehen.

Nein, das Letzte, was wir an den Hochschulen dieses Landes brauchen können, sind weltfremde, kontaktscheue und standesdünkelhafte Eliten.

Mehr dazu hier und hier.

Schlank aus dem Sommerloch

Die Dino-Diät oder: Forschung ist am schönsten, wenn niemand ihre Angaben nachmessen kann.

Othniel Charles Marsh ahnte gar nicht, welch treffenden Namen er sich für das Urzeitmonster ausgedacht hatte, dessen Knochen 1877 in Wyoming am Ostrand der Rocky Mountains entdeckt worden waren: Apatosaurus, die trügerische Echse. Dies war eigentlich eine Anspielung auf eine Besonderheit im Knochenbau, die falsch zu deuten sich ein Paläontologe hüten musste. Zwei Jahre später verpasste Marsh einem anderen Skelett den Namen Brontosaurus, also Donnerechse. Zwar stellte sich bald heraus, dass der Forscher lediglich einem weiteren Trugsaurier auf den Leim gegangen war. Abertausenden von Saurierbuchautoren war der Irrtum aber egal. Sie betrogen die jugendlichen Dinofans um den älteren, wissenschaftlich korrekten Namen, weil Brontosaurus gewaltig klingt, Apatosaurus hingegen apathisch und damit nicht gerade verkaufsförderlich.

Welch massive trügerische Kraft das Gerippe von Wyoming in den Gehirnen junger und alter Urzeitforscher entfaltete, kam erst im Sommerloch 2009 so recht ans Licht. Wenn der US-Saurologe Gary Packard sich nicht verrechnet hat, müssen Abermillionen von Bildbänden eingestampft werden, die in Kinderzimmerregalen thronen. Dann müssen Steven Spielberg und seine Epigonen alle seit „Jurassic Park I“ gedrehten Animationen ersetzen: Das traditionell als prähistorischer Fettwanst mit Minihirn gezeichnete Tier hätte dann nur einen Bruchteil dessen auf den Rippen gehabt, was die Wissenschaft ihm bisher nachsagte. Nach Packards Berechungsmethode hätte des Pflanzenfressers Körpermasse nicht jener von acht, sondern nur der von vier afrikanischen Elefantenbullen entsprochen: schlanke 18 Tonnen. Bei anderen Gattungen wären die Gewichtsverluste nicht gar so monströs, aber immer gravierend genug, dass der Vorher-nachher-Vergleich jeden Diätvermarkter vor Neid erblassen ließe.

Nun ist man es als Technikautor ja gewohnt, dass Forscher grobe Schätzungen dank neuer Formeln und Modelle präzisieren. Eine so ungeheuerliche Fehlerquote wie bei der Betrügerechse weckt indes das journalistische Ur-Misstrauen. Woher wissen Wissenschaftler Dinge, die kein Mensch überprüfen kann? Niemand hat einem Apatosaurus je beim Fressen zugeschaut, keiner hat ihn auf die Körperfettwaage gestellt. Waren alle Exemplare gleich muskulös, oder gab es, wie beim Menschen, die Bandbreite vom asketischen Sportler bis zum hemmungslosen Fresssack? Man muss sich nur mal vorstellen, ein Anthropologe der Zukunft fände das Skelett jenes Mannes namens Enrico, der in der TV-Show „The Biggest Loser“ mit 192 Kilo startete und am Ende nur noch gut die Hälfte wog, und sollte daraus dessen exaktes Lebendgewicht rekonstruieren. Außerdem: Auch die Zoologie der Gegenwart kennt Tiere, die man nicht am Stück auf die Waage legen kann. Manche Arten muss man einfach tranchieren, um zu validen Aussagen zu gelangen. So bekommt die Schutzbehauptung der Japaner, ihre weltberüchtigten Harpunenboote seien doch nur eine Flotte von Walforschungsschiffen, eine ganze neue Facette: Was wüssten wir ohne sie über die Meeressäuger? Das Gewicht schon mal nicht.

Die georgisch-britische Sängerin Katie Melua unterscheidet in ihrem empiriekritischen Werk „Nine Million Bicycles“ zwischen Tatsachen (fast jeder Einwohner Pekings hat ein Rad!, „that’s a fact“) und Annahmen (wir sind zwölf Millionen Lichtjahre vom Rand des Universums entfernt, „that’s a guess“). Solange niemand bis dorthin geflogen ist, um das nachzumessen, könnten wir Meluas Song ja vielleicht zur Hymne der Naturwissenschaft erklären.

ULF J. FROITZHEIM, freier Journalist, kennt das Phänomen, dass an einem Knochengerüst mal mehr und mal weniger Speck hängt, von sich selbst.

Aus der Technology Review 9/2009, Kolumne FROITZELEIEN