Nu mal langsam, Herr Steingart!

Gestern abend saß Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart noch bei Sigmund Gottlieb in der Münchner Runde und gab den Amerika-Experten, der die Amerikaner besser versteht als sein verzweifelt um Gehör kämpfender Nachbar Ron Williams. Heute morgen ließ Steingart – quasi zum Nachlesen – sein Morgen-Briefing verschicken, in dem er folgende Analyse feilbietet:

Die großen Heilsversprechen der Moderne – Globalisierung, Digitalisierung und die Bildung multikultureller Gesellschaften – überfordern eine Mehrheit der Bürger, überall im Westen.

Der Welthandel schafft Wohlstand, aber nicht für alle. Der Börsenkapitalismus lässt die einen zu den Sternen aufsteigen, derweil andere den sozialen Absturz erleben. Die Digitalisierung gibt jedem eine Stimme, aber zugleich entwertet sie die menschliche Arbeitskraft. Man muss kein Marxist sein, um zu verstehen, dass ökonomische Prozesse dieser Wucht Folgen für den politischen Überbau haben. Disruption ist für die Wirtschaftselite ein Modewort und für den Rest der Menschheit eine Bedrohung. Albert Camus: „Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der Nein sagt.“

Halt mal. Langsam. Globalisierung, Digitalisierung und Multikulti-Gesellschaften in einem Atemzug, und diese drei „Heilsversprechen“, so es denn welche sind, überfordern überall im gesamten Westen die Mehrheit der Bürger? Der Gedankengang überfordert jetzt mich.

Globalisierung dürfte in der öffentlichen Wahrnehmung noch nie ein Heilsversprechen gewesen sein. Oder warum sonst assoziiert das Gehirn spontan das Suffix -skritiker, wenn es die ersten Silben wahrnimmt?  „Nu mal langsam, Herr Steingart!“ weiterlesen

Knopflos in Peking

Kurz vor den Olympischen Spielen erwacht die Industrie aus ihrer China-Trance. Es wurde auch Zeit.

Sie fragen sich doch bestimmt auch, wieso heute etwa 997 Promille aller Markenklamotten, Handys, Radios und Spielsachen aus China zu kommen scheinen – ganz so, als gäbe es nur ein Billiglohnland auf der Welt. Und Sie wundern sich, dass sich die weltweit größte Kaderschmiede des Raubtierkapitalismus ausgerechnet „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas“ nennt.

Dafür gibt es nur eine logische Erklärung: Ein Geheimlabor der Volksbefreiungsarmee hat eine Technik zur Telehypnose entwickelt! Wissen Sie noch, wie plötzlich alle neuen Konzernpaläste zwischen Helsinki, München und L. A. nach den Regeln des Feng Shui gebaut wurden? Die Bosse waren noch nicht eingezogen in ihre Wellness-Lounges, da schwärmten sie schon vom neuen Shangri-la. Auf ihren Gebetsmühlen stand „Globalisierung“, doch ihr Mantra klang wie „Chi-na-chi-na-chi-na-chi-na“. Die mentale Fixierung war perfekt: Vergessen waren Asiens einst gefürchtete „Tigerstaaten“, Lateinamerika und Afrika.

In ihrer Trance sahen die Manager alle Widersprüche aufgehoben: Ein Milliardenheer fleißiger Arbeiter würde dank Nanolöhnen einen Zukunftsmarkt mit Gigakaufkraft bilden. Die ameisenhaft selbstlosen Menschen würden passable Qualität produzieren, ohne einen Technologietransfer zu Lasten der Neokolonialherren zu wagen. Die Hypnose der West-Bosse gelang so perfekt, dass sie keinen Schimmer hatten, wo plötzlich all die Containerflotten voller Piraterieprodukte auf den Weltmeeren herkommen mochten.

Fast wäre sie gelungen, die Zerstörung des Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen. Dummerweise aber sind die Erben Maos kurz vor dem Ziel ihres langen Marschs gestolpert. Erst mischten Saboteure Gift ins Spielzeug. Dann legten völlig unchinesische Umweltschutzvorschriften ganze Fabriken lahm – deren Dreck, hieß es, könnte den Blick auf Olympia trüben. Als die Behörden auch noch fast Bush-artige Einreiserestriktionen für Manager und ihre Familien verfügten, überwand deren Immunsystem die Wirkung der Hypno-Strahlen.

Die deutschen Teddybären sind schon abgereist, Steiff setzt ihnen jetzt wieder in Deutschland den Knopf ins Ohr. Falls es auch den Handy-Produzenten mulmig wird: Wir wüssten da noch ein paar leer stehende Fabriken.

Aus der Technology Review 8/2008, Kolumne FROITZELEIEN