Sprachliche Blähungen und optisches Tuning

Was machen Journalisten, die kein Gefühl für die Größe einer Zahl haben? Sie bewerben sich beim Wirtschaftsteil. Wenn sie (oder Sie, liebe Leserin, lieber Leser) Pech haben, hat der Ressortleiter kein Gespür fürs Thema und lässt diese Schreiber gewähren. Für beide Kollegen ist Relevanz auf jeden Fall eine quantitative Dimension. Zahlen müssen möglichst groß sein. Dabei kommt dann oft eine „allein“-Formulierung heraus, die allein dazu da ist, einer Zahl das nötige Mindestgewicht zu verleihen. „Optisches Tuning“ nannte man diese Art von Wichtigtuerei beim Manta mit Heckspoiler und Rallyestreifen. Also meldete kürzlich die Süddeutsche:

„Auf Twitter gab es allein im zweiten Quartal dieses Jahres 263 Millionen Einträge zu Fernsehsendungen.“

Nun hat das Jahr allein im zweiten Quartal 91 Tage. An einem gewöhnlichen Tag muss man also von den 263 Millionen Einträgen allein 90 Einundneunzigstel abziehen, um sich der Größenordnung der Menschen anzunähern, die diese Einträge verfassen. Pro Tag sind es demnach 2,92 Millionen Menschen. Weltweit. Nicht einmal ein Promille der Zuschauer in aller Welt twittert also an einem normalen Tag übers Fernsehprogramm. Anders gesagt: Der normale Zuschauer hackt nicht einmal alle drei Jahre einen Tweet in seinen Second Screen. Da der typische Twitteraner es aber nicht mit einem Tweet oder Retweet bewenden lässt, ist diese Angewohnheit wohl noch viel weniger verbreitet.

Korrekt wäre also gewesen:

„Auf Twitter gab es im zweiten Quartal lediglich 263 Millionen Einträge zu Fernsehsendungen – gemessen an grob geschätzt einer Billion Fälle, in denen ein Mensch eine Sendung gesehen hat.“*

Aber dann wäre die Sau so tot gewesen, dass keine Redaktion sie durchs Dorf hätte treiben können. Merke: Das Wörtchen „allein“ lässt Mediendorfsäue von den Toten auferstehen.

 

* Wenn Sie sich fragen, wie ich auf diese Ballpark Figure komme: Wenn die Hälfte der Weltbevölkerung auch nur in durchschnittlich drei Sendungen pro Tag reinzappt, sind wir schon bei über zehn Milliarden Zuschauerkontakten. Fürs Quartal nehmen wir das knapp mal Hundert, und voilà, die Billion ist in Sicht.

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