Uns geht’s wohl zu gut – immer noch

Wer ein privates Fest in einer Gaststätte besucht, ist entweder Teil des Problems oder weiß nicht, an wem er mehr verzweifeln soll: an den Gastronomen oder den anderen Gästen. Ein Rant über unseren Umgang mit Essen und Trinken.

Das Wort „Lebensmittelverschwendung“ wird man im Jahr 2022 schon mal gehört haben. Du oder Sie auch, oder? An einem Teil der Menschen, denen ich am Wochenende zum ersten und vorläufig letzten Mal begegnet bin, muss es aber vorbeigerauscht sein, ohne irgendwelche Reaktionen im Gehirn zu hinterlassen.

Es war die Hochzeitsfeier eines guten Freundes, nicht mehr der allerjüngste Bräutigam, aber bedeutend jünger als ich. Er arbeitet in einem weltbekannten Schweizer Unternehmen in der Finanzkommunikation, seine Frau ist Kardiologin. Die beiden können es sich also leisten, in gediegenem Rahmen zu feiern. Da Freunde und Familie überwiegend im süddeutschen Raum und der Schweiz zu Hause sind, hatte sich das Brautpaar ein Hotel am Bodensee ausgesucht. Und damit jeder Gast (m/w/d) mit der Beköstigung zufrieden ist, hatte das Brautpaar auf der Antwortkarte zur Einladung abgefragt, ob die Eingeladenen unter Allergien oder Unverträglichkeiten leiden oder ob sie ein vegetarisches Gericht wünschen.

Tja, und dann landeten doch mehrere feinste Rumpsteaks im Müll.

Man könnte jetzt ausgiebig darüber streiten, ob es überhaupt noch in die heutige Zeit passt, dass Hotels bei der Buchung einer Hochzeitsfeier ganz selbstverständlich ein Menü vorschlagen, dessen Hauptspeise ein imposantes Stück Fleisch in den Mittelpunkt stellt, das mit einer Sättigungsbeilage wie Kartoffelgratin und einem Portiönchen Pro-forma-Gemüsebeilage serviert wird. Das lassen wir mal. Dass von 50 Gästen mindestens 30 ernsthaft enttäuscht bis schwer angefressen wären, wenn ihnen kein Steak oder Filet oder Schnitzel vorgesetzt würde, darf man wohl auch unterstellen. Woher sollen die Leute denn wissen, dass man sich auch an sehr schmackhaften Gemüsegerichten satt essen kann, die sich bei Bedarf mit einer winzigen, aber höchst delikaten Fleischgarnitur dekorieren ließen? Wenn der Gastgeber dann auch noch selbst als Carnivore sozialisiert ist, dessen geliebter Opa für seine Hausschlachtungen bekannt war, würde diese Sorte Gäste sich fragen, was denn auf einmal in ihn gefahren ist.

Also gut, es ist halt so: Vegetarier:innen fallen in der Gastronomie ebenso unangenehm auf wie Menschen, die beim Empfang nach alkoholfreiem Sekt fragen (ja, so etwas gibt es) oder zum Essen ein alkoholfreies Bier bestellen. Nein, das gehört sich nicht. Gegessen oder getrunken wird, was dem Wirt frommt, sonst wirft der Kellner indigniert die Stirn in Falten. Die einzige sozial akzeptierte Begründung einer partiellen Ess- oder Trinkverweigerung ist, dass man etwas nicht verträgt, dass man keinen Hunger hat (oder beim Alkohol, dass einer ja das Auto fahren muss).

Damit wären wir bei den Rumpsteaks in der Hotel-Mülltonne. Eines davon geht auf das Konto einer mageren Dame mit dem Appetit eines Kolibris, die bereits vom als Vorspeise gereichten Pfifferlingssüppchen mehr als gesättigt war, sich aber ungeachtet dessen den Teller mit Steak, Gratin und Gemüse hinstellen ließ, nur um ihn am Ende vollständig zurückgehen zu lassen. Überrascht vom Anblick der Hauptspeise kann sie nicht gewesen sein, denn die Menüfolge stand von Anfang an fein säuberlich gedruckt vor ihrer Nase. Es war ihr aber offenbar weniger peinlich, den unangerührten Teller hinterher wieder abräumen zu lassen, als vorher zu sagen, dass sie keinen Hunger hat und deshalb bitte das Hauptgericht auslassen möchte.

Leider fiel auch das erste meiner Frau zugedachte Rumpsteak der Entsorgung anheim. Sie hatte auf der Antwortkarte angegeben, dass sie keinen Knoblauch verträgt. Kaum hatte sie das erste Stück vom Steak abgeschnitten, erschien der Ober, entschuldigte sich dafür, dass sie einen Teller erhalten habe, auf dem das Gemüse mit einem Hauch Knoblauch versetzt sei. Er nahm ihr den Teller wieder weg und ersetzte ihn durch einen frischen Teller mit ungeknofeltem Gemüse. Auf die Rückfrage meiner verdutzten Frau, was er jetzt mit ihrem Steak mache, antwortete er: „Das schmeißen wir weg.“ Es klang, als wollte er sagen: „Machen Sie sich keine Sorgen, alles in Ordnung.“ Auch ich war so perplex, dass ich nicht sagen konnte: „Bevor sie so ein gutes Stück Fleisch vernichten, esse ich lieber zwei davon.“ Natürlich wäre es mir auch peinlich gewesen, vor anderen Leuten eine derartige Menge Fleisch zu vertilgen, und einen Doggy Bag habe ich mir bisher nur geben lassen, wenn die Rechnung auf mich ging.

Was mir aber nicht in den Kopf geht: An den Steaks war kein Knoblauch. Kann man nicht einen Teller mit knoblauchfreien Beilagen nehmen und das Fleisch einfach darauf umbetten? Warum muss es auch ein neues Steak sein?

Damit sind die Fälle von Verschwendung an unserem Acht-Personen-Tisch aber immer noch nicht vollständig erzählt. Die Frau meines Sitznachbarn ließ die Hälfte ihrer stattlichen Portion retour gehen. Auch dies hätte sich vermeiden lassen, wenn dieses Hotel nicht alle Teller so gefüllt hätte, dass die Fleisch- und Gratin-Menge auf die Maximalbedürfnisse von übergewichtigen Boomern wie mir abgestimmt gewesen wäre. Denn es ist keine große Kunst, die Gäste von vorneherein zwischen normalen und kleineren Portionen wählen zu lassen, auch als Kinder- oder Seniorenteller bekannt. Gerade bei Veranstaltungen, bei denen alle (außer Veganern und Allergikern) das Gleiche zu essen bekommen, servieren schlaue Gastronomen zunächst eine eher kleine Portion und schicken ihre Bedienungen nach einer Weile herum, um denen, die den Teller leergegessen haben, einen Nachschlag anzubieten. Der Vorteil: Was noch nicht auf dem Teller eines Gastes gelegen hat, muss nicht vernichtet werden. Für die Reste findet sich schon jemand, der sich ihrer erbarmt – nein, der sie zu schätzen weiß. Und wenn das Personal sie mit nach Hause nimmt.

Das Verhalten mancher Gäste und der Angestellten dieses feinen Hotels am Bodensee kann man freundlich als „gedankenlos“ bezeichnen, aber ich halte auch „dekadent“ nicht für übertrieben hart. Der einzige Kommentar, den ich mir bei Tisch nicht verkneifen konnte, war: „Das hat das Tier, das dafür gestorben ist, nicht verdient.“ Ein Gespräch über das Thema hat sich daraus aber nicht entwickelt, und ich fürchte, dass man mich für etwas sonderlich gehalten hat. Aber ich kann da nicht aus meiner Haut: Wer keinen Respekt vor dem Essen und Trinken hat, das uns hier immer noch im Überfluss zur Verfügung steht, während in anderen Ländern die Leute hungern, dem geht es zu gut.

Und nein: Ich fühle mich nicht als Moralapostel, wenn ich das schreibe.

P.S.: Für den Nachtisch mussten zwar keine Tiere geschlachtet werden, dafür war die Gleichgültigkeit der Gäste und das Desinteresse des Personals fast noch größer. Wie oft bei solchen Events entwickelte sich zwischen Hauptgang und Dessert eine gewisse Mobilität im Saal. Gäste verlassen ihren Platz, gehen aufs Klo oder zum Rauchen vor die Tür, reden mit Freunden und Verwandten an anderen Tischen. Damit der Wirt die volle Anzahl an Nachspeisen abrechnen kann, stellen seine Austräger aber an jeden Platz eine Portion, ganz egal, ob da jemand sitzt. Die Leute kehren aber auch nicht an ihren Tisch zurück, wenn die Bedienungen anfangen, die Desserts auszuteilen. So schmilzt das Eis oder Sorbet vor sich hin, warme Törtchen werden kalt, kleine kulinarische Kunstwerke zerfallen zu Matsch. Können Menschen, die sich nichts aus Süßspeisen machen, nicht vorher sagen, dass sie keine möchten? Das wäre auch nur fair gegenüber den Gastgebern, die sonst ordentlich Geld dafür hinlegen, dass gutes, leckeres Essen, mit dem sich das Küchenpersonal viel Mühe gegeben hat, in der braunen Tonne endet. 

 

Sie sind der oder die 2125. Leser/in dieses Beitrags.

2 Antworten auf „Uns geht’s wohl zu gut – immer noch“

  1. Danke für den Finger in der Wunde. Danke für die Gedankenanregungen und das Aussprechen der Wahrheit.
    Danke für diese Webseite.

    Sehr erfrischend und aufbauend in dieser Zeit des permanenten Schönredens, einer Zeit des verlogenen, sozial Media gestützten , einzig der Monetarisierung dienenden Ideologierens Einzelner (mit z.B. kronischer Geldknappheit. Ups, ist sowas Freudscher Vertipper? )

    1. Kronische Geldknappheit… Es entzieht sich leider meiner Kenntnis, ob der Herr Nichtdoktor aus dem Dorf immer noch nicht wieder an seine Kohle rankommt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert