Freude am Wandel

Verstopfte Straßen, Abgaslimits, eine automüde Jugend: Deutschlands wichtigster Industriezweig müsste sein Produkt eigentlich neu erfinden. Die Autokonzerne haben aber viel zu verlieren. In diesem Spannungsfeld sieht Benoît Jacob den Reiz seines Jobs. Als Designchef der Elektro-Submarke „i“ Bei BMW darf er die Grenzen des Machbaren ausloten.

Daimler, VW und BMW sind in einer kniffligen Lage. Ähnlich wie zur Jahrtausendwende die Fotobranche und die Musikwirtschaft oder ein paar Jahre später die Hersteller von Handys und Glühlampen leben die Autokonzerne nicht schlecht von dem, was sie schon immer gemacht haben. Doch das Neue ist in der Welt, und es könnte ihr auf Diesel- und Ottomotoren fixiertes Geschäftsmodell schon bald ins Wanken bringen. Womöglich geht es aber auch noch sehr lange weiter wie gehabt. Schließlich beäugt das Publikum Elektroautos bis dato mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis: Wo soll man sie aufladen? Wann wächst ihre Reichweite? Wann sinken die Preise? Wie schnell verschleißen die teuren Akkus? Keine 1.000 Käufer im Monat trauen sich deshalb an ein batteriebetriebenes Modell heran. Selbst Erdgasautos sind Bestseller im Vergleich zu den 20.000 Stromern, die im Land herumfahren. Auch in den USA, Heimat des Elektropioniers Tesla, sind aufladbare Autos Nischenprodukte. Alle Anbieter zusammen verkaufen dort pro Monat weniger als 10.000 Akku-Vehikel – die Teilzeit-elektrischen Plug-in-Hybride schon eingeschlossen.

Sollte es allerdings einem Anbieter gelingen, eine kritische Masse an Kunden für abgasfreie Mobilität zu begeistern, drohen der Branche erdrutschartige Verwerfungen. Jede neu entwickelte Generation eines Benziners könnte die letzte sein. Die Disruption träfe nicht nur die Produzenten hart, die ohnehin daran knabbern, dass die junge Generation sich nur noch schwer dafür begeistern lässt, viel Geld in ein eigenes Auto zu investieren. Auch für Werkstätten, Tankstellen und den Gebrauchtwagenmarkt hätte eine Elektrifizierung des Individualverkehrs dramatische Folgen.

Man könnte den Autodesigner Benoît Jacob also als Verteidiger sehen, der mit seinen Teamkollegen BMW den Rücken freihalten soll, falls es Tesla und möglichen anderen Angreifern wirklich gelingt, die alten Spielregeln der automobilen Champions League außer Kraft zu setzen. Der ehemalige Renault-Nachwuchsstar, der vor elf Jahren zu den Bayern wechselte, fühlt sich als Chefdesigner der i-Modelle aber überhaupt nicht in der Rolle des Defensivspielers. »Disruption ist eine Chance«, sagt Jacob mit einem Funkeln in den Augen. »Extrem ausgedrückt: Es ist der Beginn eines goldenen Zeitalters. Für uns Designer wird es nicht härter, sondern cooler.«

Nierenattrappe bedient Sehgewohnheiten

Markenchef Steven Althaus, der im Restaurant der BMW-Welt mit am Tisch sitzt, hat da schon rhetorisch vorgelegt: Seine ganze Branche sei konfrontiert mit einem »Iconic Change, einem nachhaltigen, dramatischen Wandel« der Einstellungen zum Auto, der sich keineswegs auf die Antriebsart beschränke. BMW habe sich jedoch »schon immer als Wegbereiter für die Mobilität der Zukunft verstanden« – beispielsweise im Projekt Drive Now, dem gemeinsam mit Sixt betriebenen Ad-hoc-Mietservice, der die Zielgruppe der Carsharing-Fans abzuschöpfen und auf die Fahrzeuge des Hauses einzuschwören versucht.

Aus Sicht von Ex-Werbeagentur-Chef Althaus, der seit zwei Jahren die BMW-Markenfamilie verantwortet, gehört der proaktive Umgang mit neuen Entwicklungen und Trends zur Unternehmenskultur: »Wir sind in uns selbst disruptiv.« Das ist freilich nicht so zu verstehen, dass BMW zugunsten einer schöpferisch zerstörerischen Innovation etwa die Dreier-Baureihe aufs Spiel setzen würde. Zumindest packen die Münchner aber das Thema Elektromotor deutlich offensiver an als die Rivalen in Stuttgart, Wolfsburg und Ingolstadt. Die zu Versuchszwecken gebauten Elektroversionen des Mini und des Einsers waren kaum auf der Straße, da entschloss sich der Vorstand unter Norbert Reithofer schon, nicht verschämt mit umgerüsteten Serienprodukten auf den Markt zu gehen. Während e-Golf, e-Up, Audi A3 e-tron oder B-Klasse Electric Drive allesamt Ableger braver Volumenmodelle sind, die ihre Andersartigkeit nur dezent dem Connaisseur offenbaren, brauchte das i-Team um Projektleiter Ulrich Kranz weder beim Hybrid-Sportcoupe i8 noch beim Pendlervehikel i3 in den Konzernbaukasten zu greifen. »Eine separate Marke zu führen und ihr eine eigenständige Struktur zu geben, ist ganz wichtig«, betont Althaus, »es ging ja darum, entlang der ganzen Wertschöpfungskette alles radikal neu zu denken – von der Entwicklung über die Produktion bis zur Marktbearbeitung.« Einzige Bedingung: Die Batteriefahrzeuge mussten bei aller sonstigen Autonomie als BMWs erkennbar bleiben. Deshalb fahren sie am Bug funktionslose Deko-Elemente in markentypischer Nierenform spazieren. Benoît Jacob steht zu diesen Kühlergrillattrappen, die als markantes Statement die aerodynamische Ideallinie brechen, und beteuert: »Wir sind frei von Dogmen.«

Imagetransfer statt Abgrenzung

Diese KlarsteIlung ist dem Chefdesigner vielleicht auch deshalb wichtig, weil die i-Sparte formalrechtlich keine autarke Einheit ist. Während der Tuning-Ableger BMW M als GmbH einen eigenen Geschäftsführer und ein separates Rechnungswesen hat, handelt es sich bei Ulrich Kranz‘ Team nur um eine Abteilung mit dem Privileg, ein Eigenleben führen zu dürfen. Anders als beim Macho-Veredler M GmbH oder der femininen Flitzer-Tochter Mini zählt letzten Endes weniger der Ergebnisbeitrag in der Bilanz der Mutter als vielmehr die Verzinsung auf deren Imagekonto. In der Sprache der Markenmanager bekam die Submarke i als Startkapital einen Reputationsvorschuss der Hauptmarke BMW mit auf den Weg, darauf spekulierend, dass sie später kräftig auf deren Wert einzahlt.

Der bereits durch die Apple-Produktnomenklatur mit Assoziationen aufgeladene Kleinbuchstabe soll Großes symbolisieren: i wie inspirierend, i wie innovativ, i wie intelligent. Das Design soll diesen Anspruch anschaulich machen – als Gegenpol zum unverfälschten Freude-am-Fahren-Mythos, für den das große M steht. Ein Flop würde indes unmittelbar dem Stammhaus wehtun. Daimler und die VW-Gruppe riskieren weniger: Verpatzt einer von deren Elektro-Ablegern sein Marktdebüt, brauchen sie lediglich eine von vielen Modellvarianten aus dem Katalog zu streichen. Der Preis für dieses Flachhalten des Balls ist freilich, dass es im Erfolgsfall kaum einem Verkehrsteilnehmer auffallen wird, wie viele Golfs bereits elektrisch fahren. Die nötige PR kostet die Hersteller also extra. Bei BMWs i-Modellen ist sie (genau wie bei den E-Autos von Benoît Jacobs Ex-Arbeitgeber Renault) ab Werk eingebaut. Ab einer gewissen Mindestpräsenz dieser Fahrzeuge in der Öffentlichkeit transportiert das selbstbewusste Design die Botschaft – jeder Fahrer wird automatisch zum Evangelisten der Elektromobilität.

Schlankes Team für leichte Autos

Hätte der BMW-Vorstand die i-Modelle innerhalb der gewachsenen Strukturen entwickeln und gestalten lassen, wäre der Ende 2013 lancierte i3 wohl bis heute noch nicht zu kaufen. »Wir sind ein kleines Startup in der großen Firma«, sagt Jacob und lobt diplomatisch die fast 100-jährige Geschichte seines Arbeitgebers, bei dem sich natürlich Best Practices entwickelt hätten, also als ideal definierte Strategien, Regeln und Prozesse, die niemand einfach ignorieren kann. Trotz der Hommage an die Tradition lässt der Franzose, der bisweilen in Sekundenbruchteilen zwischen drei Sprachen hin- und herschaltet, keinen Zweifel daran, dass ihm der normale Rhythmus der Autoindustrie zu behäbig ist: »Heritage and History können auch ein Hindernis sein.« Die Entwicklung des i8 habe nur 38 Monate gedauert. Das ist etwa die Hälfte des branchenüblichen Produktzyklus bei Benzinern.

»Wir waren sehr, sehr frei«, schwärmt Jacob von der Chance, Autos kompromisslos neu zu konzipieren – rnutige Entwürfe, die nicht als handgefertigte Concept Cars von der Autoshow direkt ins Firmenmuseum wandern, sondern in Serie gehen. Schncll wird aber klar, dass er übertreibt, dass ihm und seincn Kollegen eben doch große Disziplin abverlangt wurde. Eine der Grenzen der Gestaltungsfreiheit heißt bei BMWs Elektrikern »Design to Weight«. Je schwerer das Auto wird, desto schneller sind die Batterien leer. Deshalb rangen die Designer des i3 und des i8 in ihren wöchentlichen Meetings mit den Konstrukteuren um »alles über 20 Gramm«. Wie in der Flugzeugindustrie wurde vor jeder Änderung eines Details an Karosserie und Ausstattung akribisch durchkalkuliert, wie sich dies aufs Gewicht des Wagens auswirken würde.

Hätte Projektleiter Uli Kranz beim i8 alle Wünsche von Jacobs Team kompensationsfrei durchgehen lassen, schleppte der muskulöse Sportwagen 300 Gramm mehr Speck mit sich herum – nicht zuletzt deshalb, weil dem Chefdesigner die Pfeilung des Bugs noch nicht gefiel. Nach dem kosmetischen Eingriff am Claymodell war die Nase gerade einmal zehn Millimeter länger, doch der Computer befand, das zusätzlich nötige Material bringe 150 Gramm auf die Waage. »Das geht natürlich schlecht, wenn die Techniker schauen müssen, wo sie 20 Gramm einsparen können«, gibt Jacob zu. Die salomonische Lösung aus der Chefetage sah dann so aus, dass die Designer ihren Willen bekommen sollten, wenn sie die Gewichtszunahme durch Verschlankungen an anderen Stellen kompensieren konnten. Fündig wurden sie unter anderem beim Leder.

Fahrendes Statement mit digitalen Extras

In der Rückschau auf die Entwicklung der bei den ersten elektrischen Serien-BMWs bewertet Jacob die Sachzwänge, die ihm Grenzen setzten, positiv – quasi als Freude am Umfahren von Hindernissen: »Es gibt kein gutes Design ohne gute Vorgabcn.« Die zweite große Herausforderung neben der Gewichtsoptimierung bestand darin, das Auto nachhaltigcr herzustellen, also vor allem den Energieeinsatz und den CO2-Ausstoß während der Produktion zu minimieren. Beide Ziele zwangen Kreative und Ingenieure zu ungewohnt enger – und damit fruchtbarer – Zusammenarbeit. Letztlich saßen beide Gruppen in einem Boot: Alle waren motiviert, zu beweisen, dass das Inhouse-Startup so etwas hinkriegt. Die Konstellation als Task Force außerhalb der angestammten Hierarchie ließ den Ressortegoismen und Eitelkeiten, die in jedem Großunternehmen zu Reibungsverlusten führen, wenig Raum und Zeit.

Und was hat das Projekt i dem Konzern bisher gebracht? Neukunden, sagt Steven Althaus; die i-Modelle machten BMW auch interessant für Stammkunden anderer Marken, die sich noch nicht zum Einstieg in die Elektrik durchringen könnten. Beim i3 selbst kämen 80 Prozent der Käufer von anderen Marken. Es handle sich typischerweise um Menschen, die sich nichts beweisen müssten, assistiert Jacob, der selbst jede Gelegenheit nutzt, mit Kunden zu reden. Da dieser Klientel das Auto selbst Statement genug ist, legt sie wenig Wert auf eine lange Ausstattungsliste, zumal physische Extras dem Leichtbauziel zuwiderlaufen. So hat BMW im Projekt gelernt, dass Individualisierung via Software nicht nur beim Smartphone funktionieren kann, sondern auch bei Autos – eine wichtige Erkenntnis angesichts der zentralen Rolle der Extras im Geschäftsmodell der Branche.

Auch wenn nicht klar ist, ob wirklich bald die große elektrische Disruption die Branche erschüttert, sieht Althaus die bisherigen Erfahrungen durchweg positiv. »Wir sind dadurch auch für viele Mitarbeiter interessanter geworden«, sagt der Markenchef, »ob in Design, Engineering oder Marketing und Kommunikation.« Die Frage ist nur, ob ein agilerer Autokonzern wirklich mehr Fachkräfte braucht, weil er in kürzerem Takt neue Modelle bringt – oder ob die eigentliche Lehre darin besteht, dass auch viel kleinere Teams gute Autos bauen können.

Erschienen im design report 1/2015.

Zwischen Kreativität und Zerstörungswut

Das Wort Disruption wird inflationär verwendet, aber nicht jeder versteht das Gleiche darunter. Ein Definitionsversuch von Ulf Jochen Froitzheim.

Das passiert einem Autor nicht alle Tage: Die Redaktion bittet ihn, ein in Mode gekommenes Fremdwort zu erklären, dessen Bedeutung ihm völlig klar ist. Bei der Suche nach dem Ursprung des Begriffs, der mittlerweile zum festen Alltagswortschatz vieler Ingenieure, Manager und Kreativarbeiter gehört, stellt er jedoch fest, dass dieses lateinisch klingende Hauptwort offiziell gar nicht existiert. Jedenfalls haben es weder die Duden-Redaktion noch die Freizeit-Enzyklopädisten der Wikipedia eines eigenen Eintrags für wert befunden; auch die Vocabularia der Lateiner schweigen sich aus.

Erklärt sich vielleicht von selbst, was unter Disruption zu verstehen ist? Wenn dem so wäre, würden sich darüber wohl nicht sogar Professoren der Harvard-Universität öffentlich in die Haare geraten. Fest steht, dass die neulateinische Wortschöpfung aus dem amerikanischen Wirtschaftsenglisch in unseren Sprachraum eingewandert ist und demzufolge »Dissrapptschen« auszusprechen wäre. Die negativ besetzte Vorsilbe »Dis« legt die Vermutung nahe, es handle sich um eine Extremform von »Interruption«. Anders als eine bloße Unterbrechung würde die Disruption den Betrieb nicht nur vorübergehend stören, sondern womöglich auf Dauer. In diesem Sinne wird der Terminus auch meist verwendet, beispielsweise im Zusammenhang mit der Energiewende: Der Boom von Fotovoltaik und Windrädern zwingt Energieversorger wie Eon, ihr altes Geschäftsmodell zu verschrotten.

So schlüssig diese Herleitung auch klingt, so falsch ist sie. Am Anfang stand ein harmloses Adjektiv, das allenfalls Zoologen geläufig war: Ein »disruptiv« gefärbtes Fell oder Gefieder ist grob gescheckt; es verleiht Tieren in steinigem Gelände eine bessere Tarnung als ein einfarbiges.

Die heutige Hauptbedeutung des Adjektivs geht zurück auf den amerikanischen Innovationsforscher Clayton Christensen, Professor an der Harvard Business School in Cambrige (Massachusetts). In seinem Bestseller »The Innovator’s Dilemma« widmete sich der Ökonom 1997 dem Phänomen, dass etablierte Unternehmen, deren Geschäft gut läuft, dazu neigen, auf Trends und technische Neuheiten zu spät zu reagieren – womit sie es agilen Newcomern leicht machen, ihnen Marktanteile abzunehmen.

Für solche bahnbrechenden Erfindungen oder Innovationen, die auch einen Marktführer in Bedrängnis bringen können, prägte Christensen den Begriff »disruptive Technologien«. Eines seiner Beispiele war der Hydraulikbagger, der Mitte des 20.Jahrhunderts den über lange Stahlseile angetriebenen Bagger vom Markt fegte, ein anderes das Stakkato von immer kleineren Speicherlaufwerken für Computer, bei dem wiederholt wendige Startup-Firmen den alteingesessenen IT-Firmen die Butter vom Brot nahmen. Disruptive Technologien stellen nicht nur Branchentraditionen in Frage, sie entwerten vor allem Investitionen in herkömmliche Produkte.

Christensens These rankte sich ursprünglich nicht um große Paradigmenwechsel, die ganze Wirtschaftszweige um ihre Existenz bringen, sondern viel banaler um die Probleme einzelner Unternehmen, deren Chefs die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Ein typisches Merkmal der Art von Fortschritt, die der Harvard-Ökonom untersuchte, war der Ersatz aufwändiger Produktionsverfahren und teurer Produkte durch simplere und billigere Lösungen. Disruptiv ist demnach nicht unbedingt etwas, das nachhaltigen Fortschritt oder gar Qualitätssteigerungen bewirkt. Die Verlagerung der Textilfertigung in Billiglohnländer lässt sich ebenso als Folge disruptiver Geschäftsmethoden definieren wie die Verdrängung langlebiger Produkte durch Wegwerfartikel oder der Discounthandel à la Aldi.

Im Kern skizziert Christensen allerdings nichts anderes als das Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaft, das der aus Mähren stammende amerikanische Nationalökonom Joseph Schumpeter 1942 »schöpferische Zerstörung« taufte: Fortschritt ereignet sich in Innovationszyklen; Neues macht regelmäßig Altes obsolet, sodass Unternehmer, die darauf nicht reagieren, über kurz oder lang scheitern.

Obwohl die These von den »disruptiven Technologien« nur Altbekanntes variierte und sogar den Scheinwerfer auf die Verlierer des Fortschritts richtete, entwickelte sich daraus ein regelrechter Kult. Christensen schrieb Fortsetzungen zu seinem Bestseller und verdiente gut als Vortragsreisender. Unternehmensberater sprangen auf den Zug auf. Binnen weniger Jahre kehrte sich – besonders in den USA – die Wahrnehmung disruptiver Entwicklungen um. Im Fokus stand nicht mehr die Schattenseite des Fortschritts, die bedrohliche Begleiterscheinung, sondern der offensive Einsatz des Prinzips als Waffe in einem zunehmend auf Verdrängung ausgerichteten Wettbewerb.

Disruption mutierte quasi zum Selbstzweck, wie die Harvard-Historikerin Jill Lepore ihrem Kollegen von der Wirtschaftsfakultät erst 2014 in einem Essay im New Yorker böse hinrieb: »Disruptive Innovation ist die Wettbewerbsstrategie für eine vom Terror gelähmte Zeit.« Vor lauter Angst, die Konkurrenz könnte einem zuvorkommen, kannibalisiert man sein Geschäft selbst und zieht vorsorglich die Kostenschraube noch strammer an – als komme es vor allem darauf an, den anderen das Geschäft zu vermasseln, und nicht, selbst Geld zu verdienen. In der Praxis lassen sich disruptive Wettbewerbsstrategien am besten im Onlinehandel besichtigen: Aggressive Anbieter wie Amazon und Zalando nehmen klassischen Einzelhändlern zwar massiv Marktanteile ab, verdienen selbst aber so gut wie kein Geld.

Zum Glück ist das nicht die einzige Sicht der Dinge. Bei Schumpeter ist die Zerstörung nur die Voraussetzung für einen schöpferischen Akt. Als Apple das iPhone entwickelte, bedeutete dies zwar den Untergang von Nokia, aber von einem Billigersatz für die finnischen Handys konnte keine Rede sein. Die Mobilfunkbranche wurde erschüttert und umgekrempelt – so wie es das lateinische Ursprungsverb dirumpere ausdrückt: »etwas aufbrechen, zerreißen, zum Platzen bringen«. Das iPhone war die Egge, die den erstarrten Acker umbrach, damit Neues sprießen konnte – der gänzlich neue Markt für Apps, Milliarden Gigabytes an Datentraffic in den Netzen und schließlich das Genre der Tablet-Computer. Diese bedeuten wiederum eine Disruption des ohnehin gesättigten Computermarkts: Viele Privatleute brauchen keinen neuen PC mehr. Der Absatz schrumpft, aber das geschieht peu à peu und ist planbar.

Die Atommeiler von Eon oder benzinbetriebene Autos verschwinden ebenfalls nicht über Nacht – und auch nicht ersatzlos. Der Mensch braucht weiterhin Strom und will mobil bleiben. Beide Branchen müssen sich auf gewaltige Umwälzungen einstellen, aber es trifft sie nicht unvorbereitet wie eine Vulkaneruption. Wenn das ähnlich klingende Wort Disruption aus der Mode kommt, wäre es nicht schade darum. Das einzige Anwendungsbeispiel, das der Redaktion der Pons-Vokabelsammlung zur Substantivierung diruptio (ohne s) einfiel, war ausgerechnet die »diruptio atomica«  – also Atomexplosion.

Erschienen im design report 1/2015.

Schwergewichtiger Kolibri

Der Frankfurter Investor, Wirtschaftsberater und Lobbyist Helmuth von Grolman, bei der Berliner Akkufirma Kolibri Power Systems AG derzeit mal wieder persönlich in der häufig wechselnden Rolle des Vorstandsvorsitzenden, gab dem Branchendienst Electrive kürzlich ein Interview, in dem er auf die Frage, ob Kolibri-Akkus demnächst doch noch in Autos auftauchen werden, antwortet, dies könne er nicht ausschließen.

Bevor jetzt wieder jemand auf die Idee kommt, das als Zeichen auszulegen, diese Firma verfüge über eine für die Elektromobilität interessante Technik, empfehle ich einen Blick auf die widersprüchlichen Angaben auf deren Website. Unter Technologie behauptet Grolmans Firma, die Energiedichte liege bei „ca. 200 Wh/kg“ und der Energiegehalt bei „ca. 250 Wh/Liter“. Schaut man aber die Daten der Traktionsbatterie an, die bisher in Gabelstaplern und neuerdings angeblich in Rollfeldfahrzeugen bei Qatar Airways eingesetzt wird, sieht es ernüchternd aus. Das Trumm wiegt 375 Kilo, nimmt fast einen halben Kubikmeter ein und speichert doch nur 25,2 Kilowattstunden. Brutto sind es also 67 Wh/kg und 52 Wh/l. Mit anderen Worten: In ihr Gehäuse montiert, beanspruchen die geheimnisvollen Zellen das Vierfache ihres Volumens und das Doppelte ihres Gewichts zusätzlich als Drumherum. Summa summarum sind sie dreimal so schwer und fünfmal so groß, wie es auf beim flüchtigen Lesen der Marketingaussage erscheint.

Wer das relativieren möchte, bedenke bitte, dass man für die knapp 100 Kilowattstunden, die der in meiner brandeins-Story „Kurzschluss“ beschriebene umgebaute Audi A2 intus gehabt haben soll, vier Exemplare dieser Traktionsbatterie gebraucht hätte. Sie hätten fast zwei Kubikmeter gefüllt (kennen Sie einen Kombi mit 1952 Liter Gepäckraum?) und 4×375 Kilo gewogen, also 1,5 Tonnen. Das war in etwa das zulässige Gesamtgewicht des Kleinwagens.

So viel dazu.

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Aus Überzeugung unzufrieden

kvp-trainerWer mit dem Erreichten niemals zufrieden ist, wird schnell als Nörgler abgestempelt. In der Industrie ist es aber wie im Leistungssport: An der Spitze hält sich nur, wer den Drang hat, immer noch ein wenig besser zu werden. Deshalb gehören zu einem Kontinuierlichen Verbesserungsprozess, kurz KVP, auch speziell ausgebildete Antreiber, die das Unternehmen Schritt für Schritt voranbringen – die KVP-Trainer.

Kontiunierliche Verbesserungen sind auch bei einer der weltweit bekanntesten Weißbierbrauereien ein großes Thema: bei Erdinger Weißbräu in Oberbayern. Lars Goschenhofer und Manfred Brummer betreuen hier den „EVP“, den „Erdinger Verbesserungsprozess“. Am Anfang hatte das Duo tatsächlich keinen leichten Stand. „Brauchen wir das wirklich?“, hätten die Kollegen skeptisch gefragt, sagt Manfred Brummer. „Wenn ein Unternehmen so gut dasteht wie Erdinger Weißbräu, ist die Notwendigkeit von Veränderungsprozessen schwer zu vermitteln.“

Dabei stand eigentlich nie zu befürchten, dass die Geschäftsleitung ihr Traditionsbewusstsein dem Drang nach Fortschritt und Effizienz opfern würde. „Der Brauprozess ist unsere heilige Kuh“, schwört Technik-Geschäftsführer Peter Liebert noch heute. Wenn seine KVP-Spezialisten es wagten, daran etwas zu ändern, etwa ihn zu beschleunigen, wären sie ihre Aufgabe wahrscheinlich sehr schnell wieder los. Zugleich war er es, der Goschenhofer und Brummer aus ihren alten Jobs als Braumeister und Logistiker herausholte, damit sie die Privatbrauerei in Erding in buchstäblich allen anderen Belangen fortschrittlicher und effizienter machen. Seit gut fünf Jahren arbeiten sie nun hin auf dieses Ziel – ein Ziel, in dessen Natur es liegt, dass es immer wieder ein Stück in die ferne rückt, sobald man ihm nahekommt.

Lars Goschenhofer und Manfred Brummer gehören zu den Vertretern eines Berufsbilds, das man nicht in akademischen Curricula findet, allein schon weil recht unterschiedliche Ausbildungswege zum Ziel führen können. Und das trägt nicht unbedingt immer den Namen KVP-Trainer oder KVP-Experte. Moritz Kramer von der BPW Bergische Achsen KG im nordrhein-westfälischen Wiehl stellt sich beispielsweise als Leiter Prozessoptimierung (PrOp) vor, Bruno Treibenreif vom Schweizer Raumfahrtspezialisten RUAG Space als Senior Manager Continuous Improvement Processes (CIP). Gemeinsamer Nenner ist ihr Interesse an Managementfragen, gern gepaart mit einem Faible für Technik und einer guten Portion Neugier. Die beiden Erdinger können neben ihren Hauptberufen einen betriebswirtschaftlichen Studienabschluss vorweisen, Kramer von BPW ist Wirtschaftsingenieur, Treibenreif von RUAG Space – von Haus aus Techniker bei einer Fluggesellschaft – bildete sich zum Betriebsökonom, Controller und IT-Spezialisten weiter. Sie alle haben eine intensive Ausbildung zum KVP-Experten durchlaufen.

KVP-Experten sind in ihren Unternehmen als Wegweiser, Lotsen und Motivatoren unterwegs. Abseits der normalen betrieblichen Hierarchie spielen sie eine Schlüsselrolle: Zu ihren Workshops bringen sie alle zusammen, die zur Lösung beitragen können – von Mitarbeitern und Vorarbeitern über Meister und Abteilungsleiter bis zur Geschäftsführung. Wer neu ins Unternehmen kommt, dem erklären sie das Kaizen-Prinzip, auf dem der KVP beruht. „Wichtig ist, den Kollegen klarzumachen, dass das Ziel nicht Stellenabbau heißt“, sagt Bruno Treibenreif, „sondern die Freischaffung von Potenzialen durch Optimierungen.“ Eine entscheidende Qualifikation ist für ihn die Fähigkeit zur Empathie. Schließlich gelte es, die Teilnehmer für die „Geisteshaltung der kontinuierlichen Verbesserung“ zu gewinnen und ihren sportlichen Ehrgeiz zu wecken: „Wer einen Marathon laufen will, muss auch trainieren.“

Es dauert eine Weile, bis aus der abstrakten Idee eine alltägliche Arbeitsweise wird, die den ganzen Betrieb erfasst, sei es in der Produktion oder in der Verwaltung. Auch bei RUAG Space, einem führenden Zulieferer für die Raumfahrtindustrie mit Sitz in Zürich, gab es nicht nur erfreute Gesichter, als der neue Senior Vice President Holger Wentscher vor zweieinhalb Jahren die Einführung von KVP bekanntgab.

Nach der von den Porsche-Beratern begleiteten Anlaufphase legte er die interne Koordination in die Hände des damaligen Controlling-Leiters Treibenreif. Dieser folgt in seiner neuen Funktion dem Motto „Überzeugen und dranbleiben“ – und weiß stets den Chef an seiner Seite. „Sie haben komplett verloren, wenn Sie nicht der Erste sind, der vorneweg geht“, warnt Wentscher seine Managerkollegen, „das erfordert viel Selbstdisziplin, wenn sich auf Ihrem Schreibtisch Dinge stapeln, die unmittelbar Einfluss auf Ergebnis und Umsatz haben.“ Würde er KVP vernachlässigen, sei er wie ein Holzfäller, der sich nicht die Zeit nehme, seine Säge zu schärfen.

Die Erdinger Weißbierbrauer sind ein paar Jahre weiter. Und so kann Lars Goschenhofer Skeptikern mit Zahlen belegen, welche Produktivitätsreserven eine subjektiv bereits erfolgreiche Belegschaft aktivieren kann, indem sie genau hinschaut und sich Gedanken macht. In der Abfüllerei schafft zum Beispiel eine Anlage, die vor vier Jahren bei 170 Hektolitern pro Stunde ans Limit zu stoßen schien, inzwischen bis zu 230 Hektoliter, fast 13 Flaschen Weißbier pro Sekunde. Dahinter steht kein großer einmaliger Eingriff, sondern eine Kaskade aus technischen und organisatorischen Verbesserungen, die erst im Zusammenwirken einen unübersehbaren Fortschritt ergeben. Das Beste daran: Der Erfolg hat viele Eltern, deshalb darf die ganze Abteilung stolz auf ihn sein.

Noch viel länger pflegt der westdeutsche Achsenhersteller BPW seine KVP-Kultur. Die Zusammenarbeit mit Porsche Consulting reicht zurück bis ins Jahr 2001. Der heutige PrOp-Verantwortliche Moritz Kramer kam 2007 als Assistent eines persönlich haftenden Gesellschafters in das mittelständische Unternehmen. Als er 2011 die Leitung der Abteilung Prozessoptimierung übernahm, war er bestens eingearbeitet in die Thematik. Heute arbeiten in seinem Team sieben Trainer, die sicherstellen, dass die Belegschaft durchgängig mit der „prozessorientierten Denkweise“ vertraut ist. „An unserem Standort“, sagt Kramer, „sind etwa 90 Prozent der Mitarbeiter schon in unserer Modellfabrik geschult und für das Thema Prozessoptimierung sensibilisiert worden. Außerdem wurden in fast allen Bereichen Workshops durchgeführt.“ Früher sei BPW methodenlastig vorgegangen und habe die Abläufe am einzelnen Arbeitsplatz optimiert, inzwischen herrsche ein „übergreifendes Prozessverständnis“ vor: „Bevor wir in einen bereich hineingehen, machen wir eine Wertstromanalyse, manchmal auch ein Wertstromdesign, um daraus die Themen abzuleiten, die uns wirklich weiterbringen.“ Im Mittelpunkt der Workshops stünden daher Ideen, die sich nicht mehr auf einzelne Prozessschritte, sondern auf die ganze Prozesskette bezögen.

Für Marc Zacherl, Leiter der Porsche Akademie, liegt genau darin der Clou: dass auch die KVP-Experten ständig an sich arbeiten, um auf ihrem Gebiet kontinuierlich besser zu werden. Aufbauend auf dem, was sie in den Train-the-Trainer-Lektionen gelernt haben – den Blick für Prozessoptimierungen zu schärfen, Best-Practice-Methoden anzuwenden und sich in die Menschen hineinzuversetzen, die vertraute Arbeitsabläufe aufgeben sollen –, müssten die Trainer in die Rolle von Innovatoren hineinwachsen. So sei es für sie zunehmend wichtig, künftige Kundenanforderungen frühzeitig zu erkennen und dafür zu sorgen, dass die Prozesse beizeiten darauf ausgerichtet werden. Als moderne Change Manager sollten die KVP-Experten aber nicht als „Lösungsgeber“ auftreten, sondern „Führungskräfte als Sparringspartner auf Augenhöhe durch Veränderungsprojekte begleiten“ und zugleich „die Stimmungslage der Mitarbeiter antizipieren“, um den anstehenden Wandel angemessen kommunizieren zu können. „Moderne KVP-Experten befähigen Organisationen dazu, Probleme zu lösen“, so Zacherl. Immer wichtiger wird laut Zacherl auch der Aufbau eines „routinierten Shopfloor-Managements“.

Diesen Ansatz forciert seit einiger zeit auch BPW. Unter dem Motto „Verbesserung im Team“, kurz „ViT“, entlasten Moritz Kramer und sein Team Führungskräfte wie Abteilungsleiter, Meister und Vorarbeiter systematisch von zeitraubenden Meetings, damit diese wieder mehr Zeit dort verbringen können, wo die Wertschöpfung stattfindet, nämlich in den Werkshallen. Stark vereinfacht gesagt sei das Ziel dieses „ViTness“-Programms: „Nicht reden, sondern machen“, so Kramer. Die Besprechungen sind nicht gestrichen, werden aber nach einem Standardschema kurz und effizient geführt. Es soll auch nicht mehr mehrere Meetings mit verschiedenen Teilnehmern zum selben Thema geben, stattdessen holt man alle an einen Tisch. „Das kam und kommt bei den Leuten besser an, als ich im Vorfeld erwartet hatte“, freut sich Kramer.

Zurücklehnen kann sich KVP-Chef Kramer allerdings nicht. Nicht selten muss er neue Leute suchen. Das liegt daran, dass seine Mitarbeiter gute Chancen haben, Karriere als Abteilungsleiter zu machen. Für Moritz Kramer ist das kein Ärgernis, sondern der beste Beweis für das Funktionieren der KVP-Idee. Auch der Brauerei-Geschäftsführer Peter Liebert betont: „Für KVP braucht man Mitarbeiter, bei denen es uns richtig wehtut, wenn man sie aus ihrem bisherigen Arbeitsbereich rausnimmt.“

Erschienen in „Porsche Consulting – Das Magazin“, Ausgabe 15 (Oktober 2014)

Just in time im Niemandsland

belomonteBelo Monte – Bauen am Amazonas

Auf einer der größten Baustellen der Welt, am Staudamm Belo Monte in Brasilien, gelten die Regeln der schlanken Fertigung. Mitten im Amazonas-Dschungel helfen Porsche-Berater den Mitarbeitern eines aus zehn verschiedenen Baukonzernen bestehenden Bau-Konsortiums, die Verschwendung von Zeit und Material zu vermeiden.

Der schöne Berg, wie „Belo Monte“ auf Deutsch heißt, steht am zivilisationsfernsten Außenposten, an dem Porsche-Berater bisher tätig waren. Es ist jedoch keine imposante Anhöhe. Beeindruckender als die Hügel in der Region Belo Monte ist das Tal, durch das sich der Rio Xingu wälzt, ein Seitenarm des Amazonas. Was ebenso ins Auge springt, sind die gigantischen Baustellen.

Dass Seniorexperte Arlan Cardoso und sein Beraterteam tief im Dschungel schwitzen, verdanken sie der Tatsache, dass in diesem abgelegenen Teil des brasilianischen Bundesstaats Pará eine der größten Talsperren aller Zeiten entsteht, als Reservoir für das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt. Die Turbinen der Usina Hidrelétrica de Belo Monte sollen ab 2019 in der Spitze bis zu elf Gigawatt erzeugen, fast soviel Strom wie alle noch arbeitenden Atomkraftwerke Deutschlands zusammen. Hauptinvestor ist die Betreiberfirma Norte Energia.

Das Spezialgebiet der Berater hat einen Namen, der im größtmöglichen Kontrast zu den gewaltigen Ausmaßen der Betonstrukturen steht, die bis zu vier Milliarden Kubikmeter Wasser zurückhalten sollen. Es heißt Lean Construction. Dabei gehört der Komplex aus Staumauern, Deichen und Kanälen zum massivsten, was Menschen seit dem Bau der Pyramiden konstruiert haben. 3,3 millionen Kubikmeter Beton müssen die Arbeiter verarbeiten.

Wenn Arlan Cardoso vom „schlanken“ Bauen spricht, meint er kein neues Konstruktionsprinzip der Architekten oder Statiker, sondern die Anwendung der „Lean Production“-Philosophie auf die Arbeitsabläufe auf Baustellen. So dürfen die Betontransporter nicht in kürzerem Takt beladen werden, als sie auf den drei Großbaustellen entladen werden können. „Früher stand der fertig angerührte Beton manchmal zu lange in der Hitze“, erzählt Cardosos Chef Rüdiger Leutz, „er trocknete und wurde hart, man konnte ihn nur noch wegwerfen.“ Die Just-in-time-Methode steigere also nicht nur die Produktivität, sie vermeide zugleich umweltschädliche Materialverschwendung sowie zeitraubende Nacharbeiten, die den Zeitplan ins Rutschen brächten.

Lean Construction ist ein wachstumsstarkes Betätigungsfeld für Porsche Consulting. Für die brasilianische Niederlassung ist es sogar schon mit Abstand das größte. 80 Prozent seines Umsatzes fährt Leutz mit seinem Beraterteam in Brasilien damit ein. „Wir hatten bereits 2010 Kontakt zur Bauwirtschaft, waren aber nicht darauf fokussiert“, sagt der Deutsche, der seit 2008 in Brasilien lebt und seit 2013 das Büro von Porsche Consulting in São Paulo leitet. Die Chance, groß in die Branche einzusteigen, bot die erweiterung eines Containerhafens in Rio de Janeiro. Im Auftrag von Andrade Gutierrez, einem der führenden Baukonzerne Lateinamerikas, brachten die Porsche-Experten Takt in die Arbeitsabläufe. Bei dieser ersten Zusammenarbeit konnte sich die Firma davon überzeugen, dass sich bewährte Methoden aus dem Automobilbau durchaus auf die Bauwirtschaft adaptieren lassen.

Leiter der Bauarbeiten beim Consórcio Construtor Belo Monte (CCBM) ist Marco Túlio Pinto. Sein Arbeitgeber Andrade Gutierrez führt das Konsortium, welches die Betonstrukturen, also Staumauern, Zulaufkanäle und Kraftwerke in den Bereichen Belo Monte und Pimental errichtet. Bei dem Megaprojekt steht weitaus mehr auf dem Spiel als in Rio. Deshalb sicherte sich Andrade Gutierrez die Unterstützung der Porsche-Berater auch für Belo Monte – in allen Bereichen des Baus. Die Partnerfirmen teilen dort nicht etwa einzelne Baulose untereinander auf, sondern arbeiten in gemischten Teams zusammen. So kommt es, dass Arlan Cardosos Mannschaft jetzt Managern und Arbeitern der drei größten Baukonzerne Brasiliens gleichzeitig das Prinzip der Lean Construction nahebringt: Außer ihrem unmittelbaren Auftraggeber, derzeit die Nummer drei auf dem Markt, gehören zu den Konsortialpartnern unter anderem auch das nächstgrößere Unternehmen Camargo Corrêa sowie der Branchenriese Odebrecht.

Die Berater arbeiten unter Bedingungen, die auch für Brasilianer gewöhnungsbedürftig sind. „Im feuchtheißen Klima des Amazonasgebiets zu arbeiten, ist per se schon eine Herausforderung“, sagt Projektleiter Túlio Pinto. Noch schwieriger ist es allerdings, sich zunächst auszumalen, was man mitten in der Wildnis tun kann, um dort mittels Lean Construction und Kontinuierlicher Verbesserung eine Kultur der „operativen Exzellenz zu etablieren – als allgemeinen Kodex, an den sich 30 000 Beteiligte halten“. Das ist nämlich sein ehrgeiziges Ziel.

Und es ist der Job von Arlan Cardoso, der immer wieder auf Menschen trifft, denen er wie ein Wesen aus einer fremden Welt erscheinen muss. „Mit Unternehmensberatern zusammenzuarbeiten, ist für die meisten hier komplett neu“, sagt der Seniorexperte. Das Teilnehmerspektrum seines Workshop-Programms reicht von gut ausgebildeten Bauingenieuren bis zu angelernten Hilfskräften aus der Region. „Die Arbeiter sind zum Teil im Dschungel aufgewachsen und haben nie lesen und schreiben gelernt“, erklärt Rüdiger Leutz. „Wir haben den Zuschlag bekommen, weil wir zugesichert haben, auch diese Menschen zu qualifizieren.“

Und das direkt auf der Baustelle.

Aber wie vermittelt man Menschen, die noch nie nach der Uhr gelebt haben, noch dazu in einem Land, zu dessen Lieblingsvokabeln „amanhã“ (morgen) gehört, dass es wichtig ist, ihre Aufgaben „just in time“ zu erledigen? „Wir versuchen natürlich nicht, unsere Modelle eins zu eins zu übertragen“, sagt Leutz, „wir adaptieren und wenden sie so individuell an, wie das am Amazonas möglich und sinnvoll ist.“ Das heißt: kaum Theorie, viele Schaubilder, angepasster Takt. Wo die schlichte Abfolge von Tag und Nacht das Leben der Menschen strukturiert, bietet sich ein Tagesrhythmus an. Arbeitsfortschritte in noch kürzeren Abständen zu messen, funktioniert nicht, längere Intervalle sind Leutz zu riskant. Abends sehen die Experten, ob die Mannschaft ihr Tagespensum erreicht hat oder wo es klemmt. In den Workshops und auf den Baustellen gehen ihnen junge Bauingenieure zur Hand, die so lernen, was Shopfloor-Management bedeutet. Die Regeln, die sie den Arbeitern vorgeben, müssen unkompliziert sein. Schließlich soll das Training fortwirken, auch wenn die Porsche-Berater wieder weg sind.

Noch sind sie mittendrin – und ständig auf Achse. 300 Kilometer pro tag fährt Arlan Cardoso zwischen den drei Baustellen hin und her. Mit den Kollegen bespricht er sich abends persönlich im gemeinsamen Zentralquartier, denn telefonieren ist wegen fehlendes Netzempfangs kaum möglich. Immerhin gibt es ein brauchbares Wegenetz. Am Anfang des Projekts existierte abseits von Altamira, der einzigen Stadt in der Xingú-Region, keine nennenswerte Infrastruktur. CCBM musste das Terrain von der nördlich vorbeiführenden Transamazônica aus selbst erschließen – mit Straßen, Betonfabriken und einem Frachthafen fürs Baumaterial. Von mobilem Internet, auf Großbaustellen in Metropolregionen Standard, können Bauleiter und Berater bis heute nur träumen. Wenigstens GPS funktioniert überall.

Und es geht endlich vorwärts mit einem der weltweit größten Vorhaben auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Die Geschichte von Belo Monte reicht zurück bis in die Siebzigerjahre. Die damals herrschende Junta träumte davon, Amazonien mit Wasserkraftwerken vollzubauen – ohne ökologische und soziale Rücksichten. Jahrzehntelang rangen Regierungen, Umweltschützer und Vertreter der in der Region ansässigen indigenen Völker um eine Lösung – politisch und vor Gericht. Der Staat machte immer mehr Abstriche gegenüber den ursprünglichen Plänen, statt einer Fläche von Bodensee-Dimension zusätzlich ein zehn mal so großes Areal zu überfluten. Norte Energia versichert heute, nicht ein zollbreit Indianerland werde überschwemmt, und es stellt Geld für Artenschutzprojekte bereit. immerhin leben im Rio Xingú einzigartige Spezies.

Nicht alle Nichtregierungsorganisationen sind mit dem Erreichten zufrieden. Doch das Wasserkraftwerk erspart Lateinamerikas aufstrebender Wirtschaftsnation den Bau mehrerer Atomkraftwerke. Im Vergleich zu den Waldflächen, die in der Amazonasregion für landwirtschaftliche zwecke gerodet wurden, ist das demnächst überschwemmte Areal verschwindend klein. Auch das Gesamtvolumen aller Bauwerke des Belo-Monte-Projekts ist überschaubar.

Marco Túlio Pinto ist guter Dinge, dass es ihm und seinen Leuten mittels Lean Construction gelingt, das Mammutbauwerk material- und damit auch kostensparend zu vollenden: „Wir konnten in verschiedenen Bauphasen Verschwendung aufspüren und Ausschuss vermeiden – und damit die Wertschöpfung steigern.“ Für Rüdiger Leutz und Arlan Cardoso ist das ein schönes Kompliment: Wer das unter den erschwerten Bedingungen mitten im Urwald schafft, der schafft es überall.

Erschienen in „Porsche Consulting – Das Magazin“, Ausgabe 15 (Oktober 2014)