Blinde Bosse

Um den Produktionsfaktor Information besser zu nutzen, treten jetzt die Chief Information Officer an.

 

WIRTSCHAFTSWOCHE 11/1998

Die Sprücheklopfer der EDV-Steinzeit lagen gar nicht so falsch mit der Auswahl ihrer Angriffsziele. Ein Chef, der seinen Betrieb ruinieren wolle, hänselten sie beim Mittagstisch die Programmierer, habe drei Möglichkeiten: Am schönsten sei es mit einer Geliebten. Am schnellsten gehe es in der Spielbank. Die sicherste Methode jedoch sei die Anschaffung eines Computers.

Die meisten Geschäftsführer entschieden sich damals offenbar für die dritte Variante. Heute schieben jedenfalls Softwareexperten in aller Welt kräftig Überstunden, um zu verhindern, daß aus dem Kantinenspott der Hippiezeit bitterer Ernst wird. Überall lauern digitale Zeitbomben, die irgendwann während der letzten 30 Jahre ohne böse Absicht scharf gemacht wurden: Gelingt es den Computerleuten nicht, bis zum 31. Dezember 1999 in sämtlichen Programmen alle traditionellen Datumsfelder (Schema: TT.MM.JJ/01.01.00) aufzustöbern und die Jahreszahl auf vier Ziffern zu verlängern, beginnt für sie das erste Jahr des dritten Jahrtausends womöglich mit einem geschäftlichen Super-Gau. Schon eine einzige Doppelnull an der falschen Stelle kann eine virtuelle Zeitreise ins Jahr 1900 auslösen, die vielleicht nicht zum Ruin des ganzen Unternehmens, aber zu unkalkulierbaren Betriebsausfällen und massivem Ärger mit den Kunden führt.

Das „Jahr-2000-Problem“ ist symptomatisch für den distanzierten Umgang vieler Konzernlenker mit der Informationstechnik. Als handle es sich um den Fuhrpark, delegieren sie das Thema am liebsten an den Kassenwart – und damit an den Falschen. „Finanzvorstände achten auf Kriterien wie Zuverlässigkeit, Kosten- und Termintreue“, moniert der Münchner Managementberater Helmuth Gümbel, „welche Wettbewerbsvorteile eine neue Technik bringt, ist für sie von untergeordnetem Interesse.“ Darum fallen auch Versäumnisse erst auf, wenn sie ins Geld gehen.

In kaum einem Bereich verlassen sich Bosse so blind auf das Urteil interner und externer Spezialisten wie in der Informationstechnik. Zwei bis drei Prozent vom Umsatz – mitunter Milliardenbeträge – pumpen Vorstände von Banken und Versicherungen, von Handelsgruppen und Speditionen, von Fluggesellschaften und Autoherstellern jedes Jahr in Unterhalt und Modernisierung ihrer weitverzweigten Computernetze. In der Hoffnung, die Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens
zu verbessern, steigern sie bedenkenlos dessen Abhängigkeit von Softwarepaketen, deren Komplexität selbst Fachleute nur mit Mühe durchdringen.

Dabei geht ihnen offenbar selbst der kaufmännische Überblick verloren. „Nicht einmal zehn Prozent der Vorstände“, schätzt der Leonberger Branchenveteran Bernhard Dorn, seien sich darüber im klaren, wieviel Geld sie in die Informationstechnik stecken. Dom muß es wissen: Als IBM-Geschäftsführer hat er der Topriege der deutschen Wirtschaft jahrelang sündhaft teure Großrechner samt Software, Service und Zubehör verkauft.

In seiner neuen Funktion als selbständiger Unternehmerberater will Dorn seiner Kundschaft jetzt helfen, das Instrumentarium der Hardware- und Softwareindustrie professioneller einzusetzen. Der Ex-Vertriebsmann erinnert die Vorstände an eine alte Empfehlung einschlägiger Consultingfirmen: Wer in der Informationsgesellschaft bestehen will, solle sich kompetente Unterstützung in die Chefetagen holen – am besten das, was die Amerikaner Chief Information Officer (CIO) nennen.

Der typische CIO ist ein Wanderer zwischen den Welten: Sein Hauptquartier ist der Markt, auf dem das Unternehmen verwurzelt ist; von dort aus unternimmt er seine Expeditionen in die Gefilde der Computerei. Wenn es um die Vergabe solcher Jobs geht, haben phantasielose Technokraten aus der EDV schlechte Karten; technisches Verständnis wird zwar erwartet, gilt aber als Sekundärtugend. „Diese  Leute müssen etwas von Informationskonzepten verstehen und vom Geschäft“, postuliert Helmuth Gümbel, „Techniker, die etwas verdrahten, findet man immer.“

Während hierzulande die ersten Visitenkarten mit der importierten Berufsbezeichnung in Umlauf kommen – Chief Information Officers gibt es zum Beispiel bei Bahn und Bertelsmann, Rheinmetall und Siemens – pokern cros in den USA bereits ihre Gehälter hoch. Für diese Manager im Alter zwischen 30 und 40, die als Kommunikationsstrategen über einen direkten Draht zum großen Boß verfügen, ist ein Jahressalär von 300000 Dollar nicht ungewöhnlich. „Seit drei Jahren beobachten wir weltweit eine unglaubliche Nachfrage nach CIOs“, bestätigt Tilman Gerhardt, Koordinator Informationstechnik bei der Personalberatung Egon Zehnder International GmbH in München,
„die Nachfrage ist immens.“

Besonders bei amerikanischen Banken sind gute Leute so begehrt, daß ein hochkarätiger CIO einschließlich Erfolgsprämie bis zu zwei Millionen Dollar pro Jahr mit nach Hause nehmen kann. Aber nicht nur die Vergütung ist hoch, auch der Anspruch. „New Enablers“ hätten die CIOs zu sein, meint das US-Magazin „Farbes“, Leute, die ein Unternehmen in die Lage versetzen, etwas zuvor für unmöglich Gehaltenes zu tun.

Für Menschen mit solchen Talenten kann der CIO-Posten ein Sprungbrett nach ganz oben sein. So beförderte Amerikas größte Bank Chase Manhattan kürzlich ihren obersten Informationsmanager Denis O’Leary, unter dessen Aufsicht die Chase-Rechner täglich zwei Billionen Dollar umwälzten, zum Vizechef des weltweiten Privatkundengeschäfts. Von der Ausbildung her Volkswirt und klassischer Banker, glaubt der 41jährige EDV-Autodidakt O’Leary: „Wer im Banking gut sein will, muß die Technik beherrschen.“

Nicht nur dort. „In der Medienbranche wächst die Informationsverarbeitung aus ihrer Dienstleisterrolle heraus und wird zum Geschäft“, erklärt Michael Behrens, CIO bei Bertelsmann und gleichzeitig Chef des konzerneigenen Systemhauses Media Systems. „Damit bekommt die CIO-Funktion einen zusätzlichen unternehrnerischen Aspekt.“

Als Helmut Grohmann 1993 von Thyssen zur Deutschen Bahn (DB) wechselte, gab es seinen heutigen Titel noch nicht. Der Eisenbahn-CIO und Ex-IBM-Mann begann als Chef des Bereichs Informationsverarbeitung (IV). Erst Ende 1996 überredete Bernhard Dorn die DB-Führung, die nach Jahren der Mangelverwaltung ein konzernweites Informationsmanagement etablieren wollte, mit dem CIO-Konzept auch die Bezeichnung einzuführen. „Ich habe ein Störgefühl mit dem Namen“, gesteht Grohmann, „Chief Operating Strategist wäre mir lieber.“ Dafür lobt der Manager mit Doppelstudium Betriebswirtschaft und Elektrotechnik die Kooperationsbereitschaft seiner Vorgesetzten: „Ich habe Zugang zu allen Vorständen.“ Direkt unterstellt ist er freilich nach alter Sitte dem Finanzchef.

Während andere Konzerne erst einmal klein anfangen, wird bei Siemens in München richtig geklotzt. Im vergangenen Jahr berief der Zentralvorstand des Elektromultis mit Chittur Ramakrishnan den ersten Konzern-CIO. Der 47jährige Ramakrishnan, weit im Konzern herumgekommen und eine Zeitlang Chef der Auslandsrevision, sieht seine Aufgabe zwar durch die Brille des Kaufmanns, aber nicht durch die eines Sparkommissars: „Die Investitionen, die uns strategische Wettbewerbsvorteile verschaffen sollen, werden gleichbleiben oder sich sogar erhöhen.“

Ramakrishnans Ehrgeiz geht dahin, Heinrich von Pierers Vision vom Unternehmen als „lernender Organisation“ umzusetzen, in der jeder Mitarbeiter an jedem Standort jederzeit Zugriff auf das benötigte Wissen hat. Und weil der Konzern festgestellt hat, daß der Dienstleistungsanteil
an seiner Wertschöpfung stetig wächst, hat die CIO-Organisation auch noch eine Infrastruktur zu schaffen, die es erlaubt, beliebige Siemensianer ad hoc zu virtuellen Teams zusammenzuschalten – egal, in welcher Region oder Tochterfirma auch immer.

Formale Macht hat der kosmopolitische Manager, der als Inder jahrelang die Interessen seines deutschen Arbeitgebers in den USA vertrat, allerdings nicht. Er sieht sich als Diplomat, dem es zugute kommt, daß er im Laufe eines Vierteljahrhunderts „die meisten handelnden Personen“ kennengelernt hat. Eines seiner ersten Erfolgserlebnisse ist, daß mehrere Mitglieder des Zentralvorstands das interne E-Mail-System nutzen, dessen konzernweite Vereinheitlichung zu den Jobs der CIO-Mannschaft gehört. „Die Vorstände lassen sich die E-Mails nicht durch ihre Sekretariate filtern und antworten auch selber.“

Zu von Pierers Vision vom Kulturwandel gehört freilich mehr als der reibungslose Versand von E-Mails. Wolfgang Heimsch, CIO der Siemens Nixdorf Informationssysteme, wird sich künftig die Arbeit mit einem Chief Knowledge Officer (CKO) teilen, der sich gerade einarbeitet. „Der CKO analysiert, wer welche Informationen braucht und wo er sie innerhalb der Organisation bekommt“,  umreißt Heimsch das Konzept, „der CIO sorgt dafür, daß die Technik dies wirtschaftlich in die Tat umsetzt, und der Personalchef kümmert sich um die Schulung der Mitarbeiter, die diesen Kulturwechsel mitmachen sollen.“

Jemanden, der die Geschäftsprozesse des ganzen Konzerns neu gestalten soll, nach dem Vorbild der Chase Manhattan Bank direkt dem Vorstandsvorsitzenden zu unterstellen, dazu konnten sich bisher allerdings weder die Bahn noch Bertelsmann oder Siemens durchringen. Zumindest Berater Gümbel hält das für einen Fehler: „Selbst bei einem CIO wie Ramakrishnan würde eine direkte Anbindung an die Unternehmensspitze die Produktivität um ein Vielfaches steigern.“

ULF J. FROITZHEIM

RISIKOKAPITAL: Engel dringend gesucht


Wie deutsche Investmentgesellschaften agilen Jungunternehmern den Start ins Geschäftsleben erleichtern und welche Ideen erfolgreich sind.

Aufstrebende Firmengründer zu enttäuschen ist für Waldemar Jantz Routine. Jeder zweite, der dem Managing Partner der TVM Techno Venture Management schreibt, erhält eine Absage. Weitere 30 Prozent der Aspiranten scheitern an gezielten Nachfragen des Münchner Venture-Capital-Spezialisten. Nur das verbleibende Fünftel hat eine Chance, zu einem persönlichen Treffen eingeladen zu werden – und am Ende vielleicht von einem der millionenschweren TVM-Fonds zu profitieren.

Kein Zweifel: In der Informationstechnik ist eine neue Gründerzeit angebrochen. Motiviert nicht zuletzt durch die Interneteuphorie und ein florierendes Geschäft mit Computerspielen, drängen junge Informatiker in die unternehmerische Selbständigkeit. Zwischen 700 und 1000 Kandidaten, schätzen deutsche Wagnisfinanzierer, suchen dieses Jahr Geldgeber. Ihre Ideen sind nicht immer originell. „Der 193. Internet Service Provider“, stöhnt Jantz, „interessiert uns nicht.“ Auch Systemintegratoren, die im Kielwasser großer Konzerne wie SAP und Microsoft schwimmen, haben schlechte Karten. Bei der ebenfalls in München ansässigen Atlas Venture fallen rund 97 Prozent der Anträge durch den Rost.

Die Investoren glauben den Grund zu kennen, warum immer noch viele unausgegorene Ideen auf ihren Schreibtischen landen: Das Wort Business-Plan ist ein Fremdwort im Sprachschatz der meisten Informatiker. Ohne überzeugendes Geschäftskonzept gibt’s jedoch kein Geld für die Jungunternehmer. Doch „welche deutsche Universität bietet denn schon Unternehmensführung als Lehrfach an?“, macht Atlas-Venture-Partner Werner Schauerte seinem Unmut Luft, „in den USA kann man an jeder Hochschule Kurse dafür belegen“. In Deutschland hingegen beginnen gerade erst zarte Pflänzchen heranzuwachsen. So erhält die European Business School in Oestrich-Winkel bei Rüdesheim zum  Wintersemester den ersten Lehrstuhl für Existenzgründung, gesponsert von der bundeseigenen Deutschen Ausgleichsbank und dem Bonner Wirtschaftsministerium. An der Isar plant derweil der Förderkreis Neue Technologien (FNT), der eng mit den örtlichen Unis zusammenarbeitet, eine „Münchener Entrepreneur-Akademie“.

Die Technologieholding VC (TH) in München greift zur Selbsthilfe. Auf Anfrage verschickt die Holding Business-Pläne als Vorlage. „Die Einstiegshilfe Business-Plan“, so VC-Geschäftsführer Falk Strascheg, „muß man schon nehmen, wenn man zum Gespräch eingeladen werden will.“ Auch die Unternehmensberatung McKinsey leistet Starthilfe. Vor einigen Monaten luden die Unternehmensberater angehende Existenzgründer in München und Berlin zu Business-Plan-Wettbewerben
ein. Die Teilnehmer konnten dabei nicht nur bis zu 30.000 Mark gewinnen, sondern bekamen auch einen erfahrenen Manager als Ratgeber an die Seite gestellt.

In München kam die Veranstaltung so gut an, daß die Technologieförderer vom FNT solche Wettbewerbe jährlich veranstalten wollen. Für Geschäftsführer Curt Winnen und seinen Vereinsvorstand Eberhard Färber, im Hauptjob Chef des Softwarehauses Ixos, ist der Wettbewerb „das ideale Werkzeug, um ein Gründerumfeld zu institutionalisieren“.

Die Softwarelandschaft braucht mehr als jede andere Branche finanzielle Aufbauspritzen. Der Grund: Im Internetzeitalter gibt es für solche Produkte keine geschützten nationalen Märkte mehr. Außerdem werden die Innovationszyklen immer kürzer. Um da mitzuhalten, braucht man jede Menge Kapital. Doch Geldinstitute rücken allein für eine tolle Idee nichts heraus. „Von Banken bekommt man nur Geld für Dinge, die man wegschmeißen kann“, spottet der Holländer Peter Vos, dessen Paderborner Softwarefirma Onestone mit Geld aus dem TVM-Topf derzeit auf den US-Markt drängt.

„Ein Unternehmen dieser Branche braucht ein Eigenkapital von fünf bis zehn Millionen Mark“, steckt Waldemar Jantz den Rahmen ab. Als Gegenleistung verlangen die Venture-Capital-Firmen freilich Mitspracherechts – etwa bei der Besetzung wichtiger Managementpositionen in Vertrieb und Marketing. Mit erfahrenen Branchenprofis, die bereits Zugang zu den richtigen Etagen haben, lasse sich die Markterschließung durchaus um ein Jahr abkürzen, schätzt Schauerte.

Dem Münchner Jungunternehmer Gregor vom Scheidt hingegen kam neben Können für seinen unternehmerischen Einstieg auch der Zufall zu Hilfe. Dem 26jährigen Informatikdoktoranden (und 1992er Bundessieger bei „Jugend forscht“) war während seines Studenten jobs als Programmierer von Softwarespielen eine Idee gekommen, wie sich zeitraubende Routinearbeiten mit einem Programmierwerkzeug automatisieren lassen. Er versuchte sein Glück beim Münchner Business-
Plan-Wettbewerb. Sein Coach Keith Gruen, einer der Gründer des erfolgreichen Hotelsoftwareherstellers Fidelio und ein alter Hase in der Branche, fand das Konzept so überzeugend, daß er beschloß, es gemeinsam mit seinem Schützling in die Tat umzusetzen. Seit Juli teilen sich vom Scheidt und sein sechs Jahre älterer Rat- und Geldgeber Gruen nun die Geschäftsführung der NxN Digital Entertainment GmbH.

Für FNT-Geschäftsführer Winnen ist diese Konstellation, die in den USA unter der Bezeichnung „Business Angel“ geläufig ist, „ein Glücksfall“. Er hofft, daß das Beispiel Schule macht. Weitere prominente Mitstreiter zur Gründung eines „Angel-Clubs“ hat er schon gefunden. Die beiden ehemaligen Geschäftsführer von Microsoft und Orade, Christian Wedell und Franz Niedermaier, wollen sich bei FNT mit Managementwissen und Finanzspritzen engagieren. Derweil verhandelt “ Engel“ Gruen gerade um die erste Unterstützung: rund vier Millionen Mark. Dabei soll es nicht bleiben.

In fünf Jahren will NxN 250 Mitarbeiter beschäftigen, davon die Hälfte in Großbritannien, USA und Singapur. „Unser Traum“, verrät der gebürtige Kalifornier, „wäre es, in der zweiten Runde mit einer kalifornischen Venture-Capital-Firma zusammenzuarbeiten.“ Der rechtzeitige Blick über den Atlantik ist ein Muß in der Softwarebranche. Ob ein Produkt zum Hit wird, entscheidet sich stets in den USA. Viele deutsche Newcomer drängen über den großen Teich oder wandern sogar aus:
❏ Stephan Schambach, Erfinder der Internet-Shopping-Software Intershop, verlagerte sein Hauptquartier von Jena ins kalifornische Burlingame;
❏ Dirk Bartels, Gründer des Hamburger Objektsoftwarehauses Poet, ist jetzt President der Poet Holdings Inc. in San Mateo;
❏ Alex Pinchev, Entwickler einer kostensenkenden Steuersoftware für große PC-Netze, zog mit seiner Neugründung Maincontrol nach Vienna in Virginia.

Mit einer Identität als US-Unternehmen haben es die Europäer leichter, den US-Kapitalmarkt anzuzapfen, auf dem das Geld nach wie vor munter sprudelt. Das hat auch Michael Hoppe erkannt, dessen Firma FIT derzeit große Stückzahlen ihrer Organisationssoftware „Focus Manager“ in den Media-Märkten umschlägt. In spätestens sechs Monaten will er eine Fit Inc. gründen, die dann mit amerikanischem Kapital und amerikanischen Mitarbeitern den amerikanischen Markt abgrasen soll.

Dabei wäre es aus finanziellen Gründen gar nicht mehr unbedingt nötig, in die USA zu gehen. Nicht zuletzt durch den Neuen Markt, der den Anlegern lukrative Ausstiegsmöglichkeiten beschert, verbessert sich hierzulande das Umfeld für Venture-capital. „Sogar Investoren, die sich früher gescheut haben, mit Hochtechnologie-Firmen überhaupt zu reden“, weiß Werner Schauerte, „fangen an, neugierig zu werden.“

Das Hauptproblem derzeit ist der Mangel an erfahrenen Fonds-Managern – Folge der Branchenkrise Ende der achtziger Jahre, die diesen Beruf hatte unattraktiv werden lassen. Die Venture-capital-Firmen könnten expandieren, wenn sie die richtigen Leute bekämen. Bedauert Waldemar Jantz: „Es gibt viel Geld, aber nicht genug Geld mit Know-how.“

Hoffentlich sind die neuen Experten so weit, bevor den Exponenten des neuen Softwarebooms die Puste ausgeht.

ULF J. FROITZHEIM


(Text im Heft am Schluss leicht gekürzt)






Hoher Geräuschpegel*

* erschienen unter „Geld sparen“

Virtuelle Seminare, Studium per Netz – Reformer wollen den Lehrbetrieb effizienter gestalten.

Studenten kennen das Ritual: Semester für Semester referieren Professoren immer gleiche Texte, deren Inhalt sich in schriftlicher Form viel besser aufnehmen ließe. Für den Saarbrücker Wirtschaftsinformatiker August-Wilhelm Scheer gehört dieser Urtypus des Frontalunterrichts ins Museum. „Die Vorlesung ist antiquiert“, wettert Scheer. „Sie stammt aus der Zeit, als es noch keine Bücher gab.“

Scheer, der an der Saarbrücker Universität lehrt und zugleich ein erfolgreiches Softwareunternehmen führt, ist längst weiter. Sein Lehrbuch über Wirtschaftsinformatik ist komplett auf einem Universitätsrechner gespeichert. Die Studenten können sich die Texte per Datenleitung jederzeit auf den eigenen Rechner laden und durchackern. Zudem hat Scheers Lehrstuhl im Internet eine Plauderecke eingerichtet, in der die Studenten via elektronischer Post (E-Mail) fachsimpeln.

Wie Scheer suchen auch andere Hochschullehrer nach Wegen, den schwerfälligen Lehrbetrieb an den Universitäten effizienter zu gestalten. Dabei setzen die Reformer auf die Nutzung neuester Informations- und Kommunikationstechniken. Ganze Arsenale von multimediafahigen Personalcomputern (PC), leistungsstarken Workstations und Videokonferenzsystemen sollen im Verbund mit schnellen Datennetzen die Dozenten von Routinetätigkeiten entlasten, den Studenten mehr Lernautonomie verschaffen – und obendrein die Kosten senken. „Unsere halb bankrotten Universitäten könnten mit einem systematischen Einsatz moderner Kommunikationstechniken viel Geld sparen“, glaubt Peter Glotz. Der SPD-Vordenker baut derzeit als Gründungsrektor die Universität Erfurt auf.

Die Befürworter sehen weitere Vorteile in der Vernetzung. Die Studenten erschließen sich via Internet das Wissen dieser Welt, statt in der Universitätsbibliothek nach längst inaktuellen Büchern anzustehen. Sie schalten sich von zu Hause aus in Vorlesungen und Seminare ein, statt in überfüllten Hörsälen zu sitzen. Bei den Überlegungen steht das pragmatische Konzept der Fernuniversität Pate: Egal, wo und wann die Studenten lernen – Hauptsache, sie beherrschen hinterher den Stoff.

Der Weg zur virtuellen Universität ist allerdings noch weit. Erst einmal sind multimediale Lehrveranstaltungen selbst Gegenstand der Forschung: Was ist die beste Technik? Welche Konzepte sind unter welchen Bedingungen rentabel? Wie muß sich die Didaktik ändern, damit die technischen Möglichkeiten optimal ausgeschöpft werden?

Ermutigt durch eine Empfehlung der Hochschulrektorenkonferenz, neue Kommunikationsmedien stärker für die Lehre zu nutzen, sammeln einige Universitäten erste Praxiserfahrungen. Ob Seminar, Vorlesung oder Tutorium, ob Hörsaal oder Übungsraum – das gesamte Hochschulvokabular bekommt Doppelgänger mit dem Präfix „Tele-“ oder „virtuell“. Eine Erhebung der Rektorenkonferenz zeigt allerdings, daß der Einsatz elektronischer Lernrnedien in den Fachbereichen noch stark auseinanderklafft. Während Informatiker, Physiker und Mathematiker Computer und Internet beinahe wie selbstverständlich nutzen, machen Juristen und Mediziner kaum davon Gebrauch (siehe Grafik Seite 187).

Im vergangenen März führte der Lernpsychologe Hermann Körndle von der Technischen Universität Dresden auf der Computermesse Cebit beispielhaft vor, wie der Studierplatz 2000 aussehen könnte: Als wäre die Uni ein Dienstleister und der Student ihr Kunde, soll dieser künftig in seiner Wohnheimbude online Zugriff haben auf die gesamte Pflichtlektüre seines Studiengangs. Die Dozenten sind verpflichtet, ihre Skripts mit weiterführenden Quellen im Internet zu verbinden. So verplempern die angehenden Akademiker keine Zeit mehr mit Lektürebeschaffung in Büchereien und Bibliotheken. Sie können tagsüber jobben und unabhängig von Öffnungszeiten und starren Seminarterminen ihr Studium vorantreiben – sogar mitten in der Nacht.

Was Körnle „effizientes Studieren“ nennt, würde den Lehrbetrieb an den Hochschulen völlig umkrempeln. Dozenten und Professoren müßten ihr Lehrmaterial komplett neu aufbereiten, die Studenten ihre gewohnte Rolle als passive Rezipienten verlassen. Per Internet durchstöbern
sie vielmehr Datenbanken auf der Suche nach aktuellem Wissen. Sie bestimmen Lemtempo, Lernort und Lernschwerpunkte weitgehend selbst – ungehindert von übereifrigen oder begriffsstutzigen Kommilitonen.

Mit dieser aktiven Rolle kommen längst nicht alle zurecht. Nach ersten Erfahrungen mit kursbegleitenden Internet-Diskussionsforen attestiert Jürgen Ewert, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bank- und Finanzwirtschaft an der Fernuniversität Hagen, den Studenten eine gewisse Medienscheu. Gerade ein Prozent der 8500 eingeschriebenen Teilnehmer habe sich per E-Mail zu Wort gemeldet.

Ähnlich ernüchternde Erkenntnisse sammelte vor zwei Jahren das Institut für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einem virtuellen Seminar. Die Teilnehmer hätten sich über E-Mail „eher selten“ ausgetauscht, resümieren Professor Heinz Mandl und sein Doktorand Nicolae Nistor. Bei einer Befragung am Semesterende stellte sich heraus, daß einige Studenten Angst hatten, sich mit naiven Fragen zu blamieren und dies auch noch schriftlich vor aller Augen zu dokumentieren.

Mittlerweile scheinen sich solche Ängste abzubauen. Die Münchner verzeichnen neuerdings eine „hohe Akzeptanz“ – vor allem bei Studenten, denen erst die freie Zeiteinteilung das Studium ermöglicht, etwa alleinerziehenden Müttern. Nach dem fünften Tele-Semester weiß Nistor aber auch, daß nicht jeder mit dem elektronischen Lernen klarkommt. „Ob die Teilnehmer sich zurechtfinden, hängt mit ihrer Einstellung zum Computer zusammen“, erläutert der Wissenschaftler. „Es brechen vor allem die ab, die diese Art von Kommunikation langweilig finden.“

Tatsächlich müssen die virtuellen Studiosi schon viel Enthusiasmus mitbringen, um nicht vor den Tücken der noch unausgereiften Technik zu kapitulieren. Britta Schinzel etwa, Professorin am Institut für Informatik und Gesellschaft in Freiburg, blieb nichts anderes übrig, als ihre Televorlesung auf die unchristliche Zeit von acht Uhr morgens zu legen. Zu einer späteren Stunde hätte das einsetzende Datengewimmel im Wissenschaftsnetz die Bildübertragung der Vorlesung zum Glücksspiel macht. Zumal auch noch Übertragungskapazität für eine elektronische Tafel benötigt wurde, auf der die Professorin ihre Ausführungen mit Grafiken und Schaubildern erläuterte.

Der Bonner Informatiker Volker Wulf, der das Projekt im Breisgau mit aufgebaut hat, zieht aus dem Engpaß die Konsequenz: „Wir brauchen reservierte Bandbreiten, um virtuelle Vorlesungen zu jeder Zeit störungsfrei abhalten zu können.“ Das Problem: Reservierungen sind im Internet nicht vorgesehen. Der Dresdner Professor Alexander Schill, zuständig für die Rechnernetze an der dortigen Universität, testet zwar mit Unterstützung des Computerherstellers Digital diese Möglichkeit, doch wird sie frühestens zur Jahrtausendwende funktionieren.

Vor allem Bildübertragungen strapazieren die knappen Netzressourcen. Das zeigen Versuche in Bayern und Thüringen, wo sich Universitäten aus Kostengründen Professoren teilen. Damit sie nicht zwischen den Studienorten pendeln müssen, werden Vorlesungen und Seminare via Netz übertragen. Wenn jedoch das Bild etwa des Jenenser Professors in Ilmenau oder Weimar auf der Projektionsfläche erscheint, sind bereits bis zu 30 Prozent der 34-Megabit-Datenrennstrecke des Breitband-Wissenschaftsnetzes (BWin) okkupiert.

Das ist nicht das einzige Problem. Bei der Freiburger Fernvorlesung fiel Mitinitiator Wulf auf, daß ohne Aufsicht die Disziplin in den zugeschalteten Hörsälen schnell flöten ging. Wulf: „Die Studenten waren weniger aufmerksam als in normalen Vorlesungen, der Geräuschpegel war höher, und manche verschickten auf ihren PC lieber E-Mails, als dem Stoff zu folgen.“

Besser sind da die Erfahrungen, die der Saarbrücker Hochschullehrer Scheer mit interaktiven Lerngruppen gesammelt hat, in denen Studenten Themen via Internet gemeinsam bearbeiten. „Die fangen sofort an zu meckern, wenn das System mal acht Tage lang nicht aktualisiert worden ist“, berichtet Scheer. „Ein besseres Zeichen für die Akzeptanz kann es nicht geben.“

Scheer mahnt die hiesigen Universitäten, nicht den Anschluß an internationale Entwicklungen zu verpassen. So steigen in den USA immer mehr renommierte Universitäten wie Stanford, Harvard oder die wiederbelebte New York University in den Weiterbildungsmarkt ein. Karrierebewußte aus aller Welt können dort via Fernstudium gegen Gebühren Zusatzqualifikationen erwerben. Scheer will mit seinem Institut in diesem Geschäft ebenfalls reüssieren. Aus seiner Beratungstätigkeit, unter anderem für den Walldorfer Softwarekonzern SAP AG, weiß er, daß der Bedarf steigen wird. „Die Firmen verlangen zunehmend, daß sich Mitarbeiter auch in ihrer Freizeit weiterbilden.“ Scheer will die Mühe mit Programmen belohnen, bei denen das Lernen durch die Einbeziehung spielerischer Elemente Spaß macht.

Das wäre allerdings eine Revolution: Mit Unterhaltsamkeit hatten deutsche Professoren sich bislang noch keinen Namen gemacht.

ULF J . FROITZHEIM

 

aus der WIRTSCHAFTSWOCHE NR. 42/1997

Blutleere Begriffe

WIRTSCHAFTSWOCHE 28/1997

Ein Computerprogramm der Kölner Universität enttarnt hohles Geschwätz.

Wenn Hans Messelken wieder einmal einen umfangreichen Text begutachten soll, nimmt er ihn am liebsten mit nach Hause in die Eifel. Nicht weil der Kölner Universitätsprofessor dort mehr Ruhe zum Lesen fände. Nein, sein eigener Computer erledigt diesen Job viel schneller als die betagten PCs am Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik.

WirtschaftsWoche 28/1997

Reichlich Rechenpower ist ein Muß für Messelken und seinen Assistenten Matthias Ballod. Die beiden Sprachwissenschaftler haben nämlich ein Programm namens Cut (Abkürzung für Computerunterstützte Textanalyse) entwickelt, das alle Arten von Text seziert und auf ihren Gehalt prüft – vom literarischen Klassiker bis hin zur profanen Bedienungsanleitung eines Videorecorders.

Dabei liefert Cut auf Knopfdruck nicht nur eine knappe Inhaltsangabe der Schrift, sondern vermittelt auch Wertungen über deren Verständlichkeit. Cut geht vor allem Schaumschlägern an den Kragen: Autoren, die ihre Leser mit blutleeren Begriffen strapazieren, werden unbarmherzig geoutet. Prominentes Opfer: Jürgen Rüttgers, mit dessen Presseverlautbarung zum Thema „Klonierung beim Menschen“ Messelken seinen Rechner für die Wirtschaftswoche gefüttert hat (siehe Grafik Seite 66). Die programmgenerierte Wertung in den Worten Messelkens: „Die abstrakten, meist undefinierten  Begriffe vermindern die Eindeutigkeit der Aussage.“ Die Frage, ob man klonen dürfe, komme überhaupt nicht vor. Urteil des Professors: „Sprache im Leerlauf.“

So klug die digitale Prüfung, von Messelken verständlich ausformuliert, auch anmutet: Von Künstlicher Intelligenz (KI) will der Wissenschaftler in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Zwar sei das Programm vollgestopft mit linguistischem Expertenwissen; es mache aber Forscher, Lektoren, Redakteure oder Kritiker keineswegs überflüssig. „Verstehen ist letztlich ein Willensakt“, ist Messelken überzeugt.

Zum Beweis der Leistungsfähigkeit der Software fütterten die Kölner kürzlich auch den umfangreichen Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ in den Rechner. Cut lieferte schon nach wenigen Minuten eine aussagekräftige Zusammenfassung des Textes von Daniel Goldhagen. Schon träumt Verständlichkeitsforscher Messelken vom Einsatz seiner computerisierten Textanalyse in Wirtschaft, Medien und Verwaltung. Marketing- und PR-Manager könnten beispielsweise über eine Art Controlling der schriftlichen Korrespondenz sicherstellen, daß alle Mitarbeiter der Kundschaft gegenüber eine einheitliche Sprache sprechen. Lektoren in Schulbuchverlagen könnten Texte dem erlernten Vokabular der jeweiligen Jahrgangsstufe besser anpassen. Und Redakteure hätten es leichter, eine Nachricht aus aufgeplusterten Politikerreden zu destillieren, ohne sich mit leeren Floskeln herumquälen zu müssen.

In vereinfachter Form eignete sich eine solche Software sogar zur Selbstkontrolle, glaubt Messelken: Redenschreiber, Schriftsteller und Journalisten kämen ihren eigenen rhetorischen Marotten auf die Spur. Und bei entsprechender Computerkapazität könnte eine automatisierte Textanalyse sogar die Trefferquote von Suchdiensten in Datennetzen steigern.

Sollten die Bürger dann wirklich via PC und Internet den Politikern auf den Mund schauen, müßte sich Minister Rüttgers hinter seiner Staatssekretärin Elke Wülfing verstecken. Die versteht – sagt Cut – das Kommunikationshandwerk viel besser als ihr Ressortchef. Nur in Behörden, die Messelken gern zur Zielgruppe seines Produkts zählen würde, läßt sich Cut nicht einfach einsetzen: Die vielen Abkürzungen im typischen Amtsdeutsch reduzieren die durchschnittliche Wortlänge derart, daß der Computer einen Text für verständlicher halten würde, als er ist.

Um die tatsächlichen Marktchancen zu eruieren, stellen die Kölner Cut bald ins Netz: Ab dem 15. Juli können Interessenten eigene Texte via Internet einreichen, die mit dem Cut-Prototyp auf Herz und Nieren geprüft werden (http://www.uni-koeln.de/ewfak/cut).

ULF J. FROITZHEIM

Sprache im Leerlauf

Hans Messelken: Textauszüge bekannter Autoren und ihre Computerauswertung

Franz Kafka: „Auf der Galerie“

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind, vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Da es aber nicht so ist, eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet. vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es [ … ]

Wertung*: Die extreme Häufung von Wortformen, die ein einziges Mal vorkommen (169 von 205), deutet auf einen schwer zu verstehenden Text hin: Üblicherweise versucht ein Autor, die wesentlichen Punkte mehrfach beim Namen zu nennen. Die vielen Variationen zeugen jedenfalls von einer starken ästhetischen Ausdruckskraft, auf die es bei literarischen Texten ankommt. Etwa jedes vierte Wort ist texttypisch, nicht zuletzt weil Kafka aus alltäglichen Wörtern ungewöhnliche Zusammensetzungen bildet, die in den Wortschatz-Datenbanken nicht enthalten sind (etwa „lungensüchtig“ statt „lungenkrank“ oder „schwindsüchtig“). Besonders auffällig ist die Häufung von Partizipien.

❏ Daniel Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker“

Wie einzigartig Höchstädters cri de coeur in seiner Nüchternheit, seiner „Unnormalität“ und auch seiner Hilflosigkeit ist, wird deutlich, wenn man ihn neben die antisemitischen Außerungen der Bischöfe, Kirchenführer und anderer bekannter Kirchenmitglieder stellt – etwa neben die Bemerkung von Pastor Martin Niemöller, des berühmten NS-Gegners, die Juden vergifteten alles, was sie berührten; oder neben die von Bischof Dibelius überlieferte Hoffnung, die jüdische Gemeinde würde aufgrund ihrer niedrigen Geburtenrate aussterben und Deutschland so von ihrer schädlichen Gegenwart befreien; oder neben die Versicherung von Bischof Wurm, er „bestreite mit keinem Wort“ das Recht des Staates, die Juden als ein gefährliches Element zu bekämpfen, das auf „religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet“ zersetzend wirke; oder neben die Außerung von Bischof August Marahrens, mit der er nach dem Krieg, im August 1945, sein Bekenntnis der Schuld, nicht für die Juden eingetreten zu sein, ergänzte: „Wir mögen im Glauben noch so sehr von den Juden geschieden sein, es mag auch eine Reihe von ihnen schweres Unheil über unser Volk gebracht haben, sie duften aber nicht in unmenschlicher Weise angegriffen werden.“

Wertung*: Stilistisch entspricht der Text einer gutbürgerlichen Tageszeitung. Er läßt sich ohne große Umstände einfach herunterlesen: Für einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch eine bemerkenswerte Leistung. Das Buch enthält jedoch auch syntaktische Problemzonen, die sich durch die Computeranalyse leicht lokalisieren lassen. Der längste Satz etwa erweist sich mit seinen 172 Wörtern als syntaktisches wie lexikalisches Schwergewicht. Allerdings mögen allzu häufige Wiederholungen dem Leser das Gefühl geben, man wolle ihm die sprachliche Botschaft einhämmern, um die Kraft der Argumente noch zu verstärken.

❏ Jürgen Rüttgers: „Klonierung beim Menschen“

Eineiigen Zwillingen darf die Einzigartigkeit und Schutzwürdigkeit ihrer Persönlichkeit nicht bestritten werden. Entscheidend für die Ächtung des Klonierens ist deshalb nicht die Tatsache der identischen Erbinformationen per se. Ethisch zu verwerfen ist die Klonierung deshalb,
a) weil Menschen zu einem bestimmten Zweck geplant und erzeugt werden
b) und weil Menschen sich erheben, über die Zweckgebundenheit noch zu schaffender Menschen
zu entscheiden.

Die Würde des Menschen und die Integrität der Person ergeben sich aber gerade daraus, daß die Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung prinzipiell frei und damit auch zweckfrei sind und bleiben. Die Entscheidung über den Zweck anderer Menschen kann nach dem Verständnis unserer Werteordnung niemandem zustehen. Sowohl die Zweckgebundenheit als auch die Fremdbestimmtheit von Menschen sind fundamental als menschenunwürdig abzulehnen. [ … ]

Wir brauchen internationale Vereinbarungen zur weltweiten Ächtung des Klonierens von Menschen. Der Eindeutigkeit der rechtlichen Bestimmungen in Deutschland steht der Handlungsbedarf auf der internationalen Ebene gegenüber.

Wertung*: Beim ersten Blick auf die Daten scheint der Text leicht verständlich zu sein – die Syntax ist einfach, die Satzgewichte nicht zu hoch. Geht man jedoch in die Feinheiten und betrachtet die Wortlisten, ändert sich der Eindruck. Hier häufen sich sogenannte Prinzipalia – Adjektive mit kategorischem Geltungsanspruch, die für die Unverbindlichkeitsprosa des Politjargons charakteristisch sind: etwa fundamental, prinzipiell.

Dieser administrative Stil, zu dem auch viele institutionelle Begriffe wie Handlungsbedarf und internationale Ebene gehören, erschwert den Zugang zum Text. Die abstrakten, meist undefinierten Begriffe vermindern die Eindeutigkeit der Aussage und vermitteln dadurch den Eindruck einer Sprache im Leerlauf.

* Formuliert von Professor Hans Messelken für meinen Beitrag in der WirtschaftsWoche

Klare Töne

Digital Audio Broadcasting (DAB), der Nachfolger des UKW-Radios, droht an enormen Kosten zu scheitern.

WirtschaftsWoche 12/1997

Pionier des „Radio-Highways“ zu werden ist kein billiger Spaß. Die Aufnahme in den ebenso exklusiven wie virtuellen Club ist kaum unter 800 Mark zu haben. Was seine Mitglieder eint, ist die Bereitschaft, dem Innovationsstandort Deutschland Zeit und Geld zu opfern.
So lassen sie mittels „irreversibler Einbauarbeiten“ – wie derzeit im Bundesland Bayern und in Berlin – ihr Automobil mit sperrigem elektronischem Gerät ausrüsten, welches wohl schon Ende nächsten Jahres reif fürs Deutsche Museum sein wird, pappen sich einen ,,Ich bin DABei“- Sticker an die Heckscheibe und verpflichten sich vertraglich, Marktforschern mehrmals ihre Meinung zum getesteten Multimedia-Komfort-Radio zu sagen.

Diese selbstlosen Avantgardisten der Informationsgesellschaft sind zudem an einem deutschen Rekord beteiligt: Nie zuvor liefen im Medien- und Telekommunikationssektor so viele Pilotprojekte nebeneinanderher wie bei Digital Audio Broadcasting (DAB), dem designierten Nachfolger der Ultrakurzwelle (UKW). In sämtlichen Bundesländern südlich des NDR-Sendegebiets hat der Probebetrieb mit Bürgerbeteiligung entweder begonnen oder steht kurz bevor.

Ob sich der Aufwand lohnt, ist höchst ungewiß. Denn vom Ausgang der Versuche in elf Bundesländern hängt nicht nur ab, wie der digitale, mit allerlei Extras aufgemöbelte Hörfunk aussehen soll, sondern ob er überhaupt deutschlandweit kommen wird. Daß auf der Internationalen Funkausstellung (IFA) Anfang September der Startschuß zum Regelbetrieb fällt, wie es der Lobby-Verein DAB-Plattform auf seiner Internetseite trotzig behauptet, gilt nicht nur wegen der kurzen Vorlaufzeit als unwahrscheinlich.

Die Beteiligten sind heftigst zerstritten: Der Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT) etwa hat schon voriges Jahr dem Lobby-Verein die Gefolgschaft gekündigt, weil er seine Interessen nicht angemessen vertreten sah. Mehrere ARD-Vertreter sollen nur murrend an Bord geblieben sein, und auch die Telekom macht lediglich gute Miene zu einem Spiel, das ihr so gar nicht gefällt.

Es geht – natürlich – ums Geld. Der Fall erinnert fatal an das Gezerre um die Magnetschwebebahn Transrapid: Zehn Jahre nach Beginn der DAB-Entwicklung im Rahmen des Programms Eureka 147 und sechs Jahre nach Betreten der „Plattform“ sind die technischen Fragen im Detail ausdiskutiert; nur fehlt immer noch ein plausibles wirtschaftliches Konzept für das Radio in CD-Qualität, das zusätzliche Informationen huckepack vermitteln soll, einen individuell zugeschnittenen Verkehrsfunk beispielsweise.

Nutznießer von DAB wären nach derzeitigem Stand nur die Lieferanten der Infrastruktur: Hersteller von Radios und Sendeanlagen sowie die Telekom. Für Medienunternehmen bedeutet die Technik eine Investition ohne absehbaren Gewinn. Denn sie müßten DAB solange parallel zum bestehenden UKW-Netz betreiben, bis die Verbraucher ihre Radiowecker, Stereotuner, Ghettoblaster, FM-Walkmen und Autoradios verschrottet hätten und es deutschlandweit nur noch DAB-Radios gäbe. Bei den Werbeeinnahmen drohte während der großen Publikumswanderung ein Nullsummenspiel: „Digital statt analog“, stöhnt Karlheinz Hörhammer, Geschäftsführer der Antenne Bayern Hörfunkanbieter GmbH & Co., „heißt ja nicht, daß ich mehr Zuhörer gewinne.“

Da haben es die öffentlich-rechtlichen Anstalten schon besser. Seit der Erhöhung der Rundfunkgebühren am 1. Januar 1997 zahlt ihnen jeder Teilnehmer monatlich elf Pfennig DAB-Abgabe. Über die Laufzeit des neuen Gebührenstaatsvertrags, kalkulierte der VPRT, sind dies stattliche 174 Millionen Mark – eine Quasi-Subvention, auf die private Funkhausbesitzer neidisch schielen.

Zwar hat der Bayerische Rundfunk seinem privaten Konkurrenten Antenne Bayern für zwei landesweite Programme Platz gemacht. Die meisten deutschen Privatstationen sind aber auf Sender im sogenannten L-Band bei 1,4 Gigahertz angewiesen, die ihnen die Telekom nur bis zum Ende der Pilotphase kostenlos überläßt. Danach wird es teuer. Die Sendekosten sind wegen der geringeren Reichweite bis zu viermal so hoch wie im UKW-nahen Fernsehkanal VHF, über den DAB auch ausgestrahlt werden könnte.

Zudem macht die Telekom mit Vorleistungen Schluß. „Unentgeltlich werden wir keine weiteren Netze aufbauen“, versichert Eberhard Siebert, DAB-Chef des Telefonkonzerns, mit Blick auf die T-Aktionäre. Der Bonner Manager will auch nicht mehr mit Anbietern einzelner Programme verhandeln, sondern nur noch mit Institutionen, die komplette Programmblöcke buchen – aus technischen Gründen strahlen DAB-Sender immer sechs oder sieben Programme gemeinsam aus. Damit wären die Landesmedienanstalten gefordert, sich neben der Lizenzvergabe auch um die Vermietung der Sendeplätze zu kümmern.

Konfrontiert mit den subventionsverwöhnten öffentlich-rechtlichen Rivalen und der Telekom, die das unternehmerische Risiko lieber der Medienbranche überläßt, planen private Sender vorsichtig den Rückzug. Zwar macht Hans-Dieter Hillmoth, Fachbereichsvorsitzender der Hörfunkbetreiber im VPRT, keine klare Aussage zum digitalen Autoradio. „Keiner will DAB mit vollem Herzen anpacken“, windet sich der Chef des Frankfurter Senders Hitradio FFH. „Aber es will auch niemand den Anschluß verpassen“, wenn DAB eines Tages doch UKW ablöst.

Bisher ging es aber weiter nur darum, pro Testgebiet ein paar hundert Freiwillige zum Mitmachen zu überreden. Bisher fehlt eine griffige Formel, die Konsumenten ganz wild auf DAB macht. Der optionale Datenbildschirm etwa, der freie Parkplätze oder Staus anzeigt, ist kaum der Knaller: Er darf im Zweifelsfall nur vom Beifahrer benutzt werden, weil er den Fahrer ablenkt; auch über sinnvolle Inhalte grübeln DAB-Protagonisten und Testsponsoren wie Karstadt, Deutsche Bahn und ADAC immer noch nach.

Daher will Telekom-Mann Siebert DAB vor allem als HiFi-Audiosystem schmackhaft machen: „Der Empfang ist echt besser. Wer DAB gehört hat, will nicht wieder auf UKW zurück.“ Guten Sound für unterwegs bieten freilich auch mobile CD- und Minidisc-Player, und das sogar ohne Werbeunterbrechung.

Nicht einmal den vielzitierten Vorteil der DAB-Gleichwellentechnik – Hunderte von Kilometern fahren, ohne das Programm zu verlieren – lassen Kritiker gelten. Das biete, so Hitradio-FFH-Chef Hillmoth, ein moderner Analogempfänger mit RDS (Radio Daten System) schon längst. Bliebe DAB als Bestandteil der häuslichen Stereoanlage. Bislang hat allein Bosch Multimedia es gewagt, einen Empfänger zu konstruieren. Denn der Bedarf an klaren Tönen ist unklar: So war Digital Satellite Radio (DSR) von Eutelsat ein grandioser Flop.

Auf der Suche nach dem Markt, dem eine Technik wie DAB wirklich noch gefehlt hat, sind die Testpiloten von DAB-Plattform und Telekom inzwischen auf den Monitoren der novitätenhungrigen Computerfreunde gelandet. Zumindest technisch ist sichergestellt, daß sich Dateien im Internetformat und andere Multimedia-Softwareobjekte per Digitalrundfunk verbreiten und auf dem PC speichern lassen. Per Decoder könnten sogar geschlossene Benutzergruppen aktuelle Informationen drahtlos empfangen, die nicht für jedermann gedacht sind.

Für diesen Zweck hat die Telekom an alles gedacht: Wer freie DAB-Datenkanäle füllen will, kann diese Arbeit beim ostfriesischen Daten-Service Center (DSC) Norddeich in Auftrag geben; sollte die Nachfrage steigen, plant der Fernmelderiese weitere DSCs in den Regionen.

Als Empfänger präsentiert das Erfurter Ingenieurbüro Techno Trend auf der Cebit eine PC-Steckkarte mit einer Spezialantenne für den DAB-Empfang, die im Auftrag der Telekom gemeinsam mit dem Eifeler Elektronikhersteller Technisat entwickelt wurde.

Sollten bis dahin keine Internetseiten durch den Äther segeln, läßt sich die Steckkarte auch als digitaler Radiorecorder nutzen, der die DAB-Songs Bit für Bit auf die Festplatte des Rechners bannt – mit automatischer Titelverwaltung und integriertem Schnittstudio. Nur an HiFi-Boxen für den PC hat bisher niemand gedacht.

ULF J. FROITZHEIM