Heiliger St. Googlian

Street View heißt für Deutsche: sehen, ohne gesehen zu werden.

Hallo Googli, Gooooogliiii! Ja, komm mal schnell her, mein Kind, und – BITTE!!! – pack die Kamera weg! Nein, ich will jetzt nicht fotografiert werden, ich will dir was erklä … Was soll das heißen: Deine Mutti hat’s dir erlaubt? Dann knips meinetwegen deine Mama. ICH! MAG! DAS! NICHT!!! Klaar? Du pubertärer Frechdachs, jetzt-hör-mir- doch-end-lich-mal-zu, okay?

Danke. Echt anstrengend ist das mit euch Teenies aus dem Internet. Wer hätte das gedacht, dass aus dir mal eine solche unverschämte Rotzgöre wird. Ich jedenfalls nicht. Was habe ich mich gefreut, als du auf die Welt kamst, damals, 1998. Ein echter kalifornischer Sonnenschein, endlich wieder was Nettes aus Amerika. „Don’t be evil“, waren deine zauberhaft gehauchten ersten Worte, „nicht böse sein!“

Tja, ich werd aber bald böse, wenn du so weitermachst. Du glaubst wohl, du kannst bei uns einfach so kreuz und quer durchs ganze Land zockeln in deinem komischen Auto mit dem Kameramast auf dem Dach und überall ungefragt jedes Haus mit Mann und Maus fotografieren? Um die Bilder dann in dein Online-Fotoalbum „Street View“ zu stellen. Überhaupt: Wie kommen eigentlich zwölfjährige Ausländerinnen an eine Fahrerlaubnis? Unsere Kids müssen mindestens 17 sein, und dann hockt Papa noch ein Jahr auf dem Beifahrersitz.

Aber egal. Pass mal auf, Googli, das kannst du hier nicht bringen, und wenn’s dreimal legal ist. Du bist hier nicht in Amerika, dem Land des „Anything goes“, sondern in Germany. Erinnerst du dich an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, den du Schlaumeierkind für deine Buchsuche eingescannt hast? „Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ Typisch deutsch? Na gut, vielleicht. Jedenfalls kannst du nicht einfach Häuser fotografieren, deren Besitzer das gar nicht wollen. Was meinst du, was hier los wäre, wenn das alle täten?

Wie bitte? Wir tun alle dasselbe, und zwar dich dauernd nach dem Weg fragen und über peinlichste Street-View-Schnappschüsse von irgendwelchen Amis kichern? Das ist etwas gaaaanz anderes, und das weißt du ganz genau. Schließlich gibt es bei dir 313.000 Webseiten zum Thema Ambivalenz. Anders gesagt: Wir haben kein Problem damit, unseren Mitbürgern per Internet ins Wohnzimmer zu gucken, im Gegenteil, wir brennen geradezu darauf. Aber wir selbst wollen bitte schön hinter zwei Meter hohen Hecken unsichtbar bleiben. Heiliger Sankt Googlian, verschon mein Haus, zeig‘ andere an!

Und weil wir so sind, ist es auch kein Wunder, dass dich die Tante Ilse so böse angeschnauzt hat. Unsere oberste Verbraucher-, Daten- und Heimatschützerin passt auf, dass wir uns nicht gegenseitig ausspähen. Wir könnten ja am PC sehen, was eine arme Gegend ist (Diskriminierung!) oder eine reiche (Einbruchs- gefahr!). Solche sensiblen Daten sind bei uns dem Geheimdienst vorbehalten – und großen Adresshändlern, die viel Geld damit verdienen, uns je nach Wohngegend in Bonitätsschubladen zu pressen, die sie Banken und Versandhändlern verkaufen.

Nein, ist schon klar, so ein Erwachsenenkram interessiert dich gar nicht. Street View ist für dich nur ein Kinderspiel, das dir wahrscheinlich rasch wieder langweilig wird. So wie dein angestaubtes Fotoalbum Google Earth: Da sehe ich von oben ganz genau, wessen Vormieter sein Gerümpel im Garten hat liegen lassen – vor acht Jahren.

ULF J. FROITZHEIM (51) wartet ab. ob sich das Street-View-Kameraauto überhaupt noch in seine abgelegene Gegend verirrt.

Aus der Technology Review 4/2010, Kolumne FROITZELEIEN

Digital-naiver Maoismus

Es ist doch immer wieder schön, wenn man sich eine nicht ganz mehrheitsfähige Meinung gebildet hat, diese so bescheiden wie beharrlich vertritt –  und plötzlich ganz überraschend ein Prominenter auf den Plan tritt, der viel weiter geht, der viel radikaler denkt, der viel stärker pointiert und polarisiert.

Deshalb bin ich Jörg Häntzschel und der Süddeutschen Zeitung dankbar, dass sie im Feuilleton der Printausgabe (wenn auch leider nicht auf der Aufmacherseite) einen Fünfspalter mit der Headline „Google ist das Äquivalent zur Kommunistischen Partei“ publiziert haben: ein Interview mit Jaron Lanier, einem amerikanischen Intellektuellen, Künstler und Unternehmer, der schon im Cyberspace unterwegs war, als die so genannten Digital Na(t)ives unserer Tage noch nicht mal am analogen Schnuller genuckelt haben. Den ersten Text über ihn bekam ich vor 20 Jahren „Digital-naiver Maoismus“ weiterlesen

Das alte Bild der Erde

Irgendwie beruhigend: Google Earth & Co. zeigen nie die wahre Lage im Hier und Jetzt.

Neulich wollte meine Tochter zur Geburtstagsparty einer Freundin in einer Neubausiedlung irgendwo am Rand der Großen Kreisstadt Landsberg. Technikaffin, wie Gymnasiastinnen heute so sind, warf sie ihr Notebook an und rief den Stadtplan der städtischen Website auf. Kaum hatte sie den Straßennamen eingetippt, erschien ein gestochen scharfes Satellitenfoto. Merkwürdig war nur, dass die neue Siedlung darauf exakt so aussah wie die denkmalgeschützte Altstadt – und dass keine Straße den gesuchten Namen trug.

Nun hat man als Chauffeur vom Fahrdienst „Taxi Papa“ seine Erfahrungen mit elektronischen Wegweisern und checkt das lieber noch mal gegen. Und siehe da: Übereinstimmend zeigten Google Earth und Klicktel.de an, dass die Freundin doch nicht im Stadtkern haust, sondern … in einem Bauwagen?

So musste es sein, denn die E-Kartografen hatten die neue Straße, die in der eigenen Stadt noch keiner kannte, zwar schon vektorgrafisch erfasst. In ihrer „Hybrid-Ansicht“ aber er- schien die Fahrbahn nur als Projektion auf einer frisch planierten Kieswüste. In der realen Realität war der Bau der Siedlung freilich schon so lange abgeschlossen, dass in den Gärten alles grünte und blühte. Langsam dämmerte mir, dass die Geo-Informatiker uns Landeier nicht ganz so ernst nehmen wie etwa die Münchner, deren BMW-Welt kurz nach der Einweihung mit frischem Foto in voller Pracht aus der Adlerperspektive zu begoogeln war (Nachtrag: noch mit Baukran). Ich machte die Probe aufs Exempel: Zoom auf Kaufering, unser Stadtdorf mit knapp 10.000 Seelen. Das Haus unserer Bekannten, Anfang 2006 bezogen? Nicht mal eine Baugrube. Das Naturfreibad, 2004 eröffnet? Fehlanzeige. Schwenk zum Sportzentrum, vielleicht entdecke ich ja unseren Bürgermeister beim ersten Spatenstich zur neuen Trainingshalle anno 2001. Aber nein, nichts als grüne Wiese.

Zerstört ist meine Illusion, die Digital-Landkarten der Navis und Routenplaner seien Destillate aus Satellitenfotos. In Wahrheit eilen die Straßendaten dem Bild der Erde um Jahre voraus – was auch erklärt, wieso die Straßen in der Hybridansicht fast immer mitten durch die Vorgärten schnüren. Aber irgendwie ist es auch beruhigend, dass der digitale Globus weiße Flecken hat. Wir von den Datenhamstern Missachteten wissen ja, dass die provinzielle Wüste lebt.

Aus der Technology Review 12/2007, Kolumne FROITZELEIEN

High-Tech in den Niederungen des Alltags

Aus der Computerwoche-Sonderausgabe zum 25. Geburtstag des Blattes – mit ersten Gedanken zu Google Glass, sprechenden Navis mit Augmented Reality und smarten Kühlschränken

 

Für Innovationen muß die Zeit reif sein. Manche Entwicklung verrät die Abgehobenheit oder die Naivität des Forschers, andere tragen deutlich die Handschrift von Marketiers oder Sensationsmedien.

Von Ulf J. Froitzheim

„Dialyse? Das ist ja finsterstes Mittelalter!“ Angesichts der qualvollen Behandlungsmethoden des späten 20. Jahrhunderts überkommt den Zeitreisenden „Pille“ McCoy spontanes Mitleid mit der alten Patientin. Da muß sogar der schwer verletzte Pavel Chekhov warten, den der Bordarzt und sein Boß Jim Kirk gerade aus den Fängen barbarischer kalifornischer Chirurgen retten wollten. Bevor der Gast aus dem 23. Jahrhundert durch bloßes Auflegen eines elektronischen Apparats auf die Stirn des Russen dessen lädiertes Gehirn repariert, steckt er der maladen Greisin heimlich eine Tablette zu, die ihr im Nu eine neue Niere wachsen läßt.

Für eine spätere „Startrek“ -Generation haben die Drehbuchautoren die beiden zukunftsträchtigsten Wissenschaften unserer Epoche miteinander vermählt. Die Liaison der Informationstechnik mit den „Life Sciences“ macht auf dem intergalaktischen Forschungskreuzer Voyager den Arzt überflüssig: Die holographische Projektion eines Doktors – ein lebensechtes, dreidimensionales Phantom mit dem vereinigten Wissen sämtlicher Koryphäen der Medizingeschichte – flickt Patienten jedweder humanoiden Spezies wieder zusammen.

Bei Bedarf ist das Retortenwesen, das auf den drögen Namen „medizinisches Programm“ hört, 24 Stunden am Tag fit. Damit es nicht gar so übermenschlich wirkt, haben die Software-Ingenieure der Sternenflotte ihrem Geschöpf einen Hang zur Larmoyanz in die Algorithmen eingeflochten: Ständig nölt Dr. med. Allwissend über irgendeinen Mißstand – nicht zuletzt über den, daß man ihn einfach abschaltet, wenn gerade niemand krank ist.

Eine bessere Dauer-PR als die nicht enden wollende Startrek-Saga hätten sich die Forscher und Entwickler aus Amerikas IT-Industrie kaum wünschen können: Da manövriert uns der Computer an Plätze, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Er beamt unsere biochemischen Moleküle als Quantenstrom durchs All und kocht uns als Replikator in der Bordkantine blitzschnell das Mittagessen. Paart sich menschliche Cleverness mit kühler Logik und High-Tech, das lehren uns Kirks spitzohriger Freund Spock und Jean-Luc Picards bleichgesichtiger Adjutant Data, sind wir bald alle Sorgen los: Vorsprung durch Technik. Nichts ist unmöglich. Alles wird gut.

Oder auch nicht. „High-Tech in den Niederungen des Alltags“ weiterlesen