Die Einfädler

einfaedlerWenn Unternehmen rasch wachsen, brauchen sie oft viel IT-Unterstützung. Die Folge: Bei den Informatikern droht ein Projektstau. Bentley hat das Problem beseitigt. Hier entscheiden jetzt Fachabteilungen und IT-Experten gemeinsam, was wann durchs Nadelöhr geschoben wird.

Bentley Motors steuert auf Erfolgskurs. 2012 verkaufte die britische Luxusmarke 22 Prozent mehr Limousinen, Coupés und Cabriolets als 2011 – insgesamt 8510 Fahrzeuge. Als Volltreffer bei den Kunden in den wichtigsten Wachstumsmärkten USA und China erwies sich die offene Ausführung des Continental GT. Fast jeder dritte Käufer entschied sich 2012 für die Neuauflage des Convertible, die in der stärksten Ausführung „Speed“ mit 12-Zylinder-Twinturbo 625 PS auf die Straße bringt. Weil die Top-Versionen besonders gut ankamen, legte der Umsatz sogar um fast 30 Prozent zu.

Sportliches Wachstum bleibt auch für die kommenden Jahre angesagt in Crewe, dem Städtchen im Dreieck zwischen Manchester, Liverpool und Birmingham, in dem die Lieblingskarossen der Familie Windsor seit 1946 gefertigt werden. Dabei will das Management keine Kompromisse machen. Regelmäßig misst die Volkswagen-Tochter nicht nur die Zufriedenheit ihrer Kunden, sondern auch die ihrer Belegschaft. So wurde Bentley unlängst als einer von Britain’s Top Employers ausgezeichnet, also als vorbildlicher Arbeitgeber, bei dem das Betriebsklima stimmt.

Das sensible Nervensystem

Damit die unternehmerische Strategie aufgeht, muss Bentley aber nicht nur luxuriöse Limousinen, Sportcoupés, Cabrios und vielleicht schon bald SUVs bauen, die den Geschmack der Zielgruppe in so unterschiedlichen Märkten wie China, Russland, den USA und den Öl-Emiraten treffen. Zu ihrer Umsetzung bedarf es auch jeder Menge Software. „Die IT ist nun einmal das Nervensystem des Unternehmens“, sagt Dr. Roy Sauer, Chief Information Officer (CIO) des Headquarters, „sie schafft die technischen Voraussetzungen für die wertschöpfenden Geschäftsprozesse.“ Entgegen den Versprechungen mancher Anbieter kann man die benötigten Applikationen aber nur sehr selten gebrauchsfertig von der Stange kaufen. Für die meisten Aufgaben bedeutet dies, dass die Applikationen für den größtmöglichen Nutzen in den Geschäftsprozessen anzupassen sind.

Je dynamischer sich ein Unternehmen entwickelt, desto größer ist der Bedarf an solchen maßgeschneiderten lösungen. Dann können sich die IT-Experten kaum retten vor Anforderungen, die aus subjektiver Sicht der jeweiligen Fachabteilungen alle sehr wichtig und natürlich auch sehr dringend sind. Darunter sind oft große Vorhaben, die aus Kapazitätsgründen mehrfach aufgeschoben werden mussten, und kleine mit großem Effekt, die schnell erledigt wären, wenn der zuständige Entwickler nur gerade nicht in ein größeres Projekt eingebunden wäre. Es gibt „Must do“-Projekte, wenn beispielsweise eine Gesetzesänderung umzusetzen ist, und „Can do“-Projekte, die etwa einen unrund laufenden Geschäftsprozess glätten. Was in der Praxis jedoch oft fehlt, ist ein verbindlicher, klar geregelter Entscheidungsprozess, der sicherstellt, dass nicht versehentlich die Wünsche einer einzelnen Abteilung über das Wohl des gesamten Unternehmens gestellt werden.

Fokus auf den Geschäftsprozess

Mit dieser Herausforderung kämpfte auch Bentley – und suchte Rat bei Porsche Consulting: Wie muss ein Prozess aussehen, mit dem sich die Weiterentwicklung der IT-Systeme optimal planen lässt? Und was bedeutet das für die Beschäftigten und die Art, wie sie arbeiten? „Vor dem Start des Projekts waren sowohl die Fachbereiche als auch die IT-Experten nicht wirklich glücklich“, erinnert sich Roy Sauer, promovierter Maschinenbauingenieur und Qualitätsexperte, an den Beginn seiner Tätigkeit in Crewe. Dies sei bei einer Befragung der IT-Experten und ihrer wichtigen internen „Kunden“ bezüglich der Rolle der IT-Abteilung deutlich geworden: „Die einen erwarteten von ihr vor allem technische Vorgaben, andere eher eine vorausschauende Unterstützung bei der Definition von Geschäftsprozessen.“ Die IT-Experten wiederum fragten sich, wo auf der Skala zwischen Auftragsprogrammierung und Betriebswirtschaft denn nun ihr Platz sein sollte. Zudem wechselten die Prioritäten häufig. „Manchmal wurden Projekte mittendrin gestoppt, weil sich herausstellte, dass sie doch nicht so wichtig oder dringend waren“, erzählt Sauer, „so etwas ist natürlich für alle beteiligten unerfreulich.“

Das Fazit der Bestandsaufnahme wies deutliche Potenziale für das 4000-Mitarbeiter-Unternehmen auf: Die IT-Organisation arbeitete pragmatisch, aber insgesamt zu techniklastig und noch nicht systematisch und proaktiv genug. Sie war vor allem darauf fokussiert, den laufenden IT-Betrieb sicherzustellen. Die Mitarbeiter scheuten sich, auch einmal nein zu sagen, wenn eine Fachabteilung etwas auf den Wunschzettel schrieb, das den Entwicklungsaufwand bei nüchterner Betrachtung nicht wert war.

Die Porsche-Berater um Geschäftsbereichsleiter Kashif Ansari und Projektmanager Dr. Stephen Hellhammer entwickelten deshalb gemeinsam mit Sauers Team und dessen Bentley-internen Kunden einen IT-Governance-Prozess: eine strukturierte, systematische und vor allem langfristig ausgerichtete Vorgehensweise für die Aufteilung der begrenzten Personalkapazitäten auf große und kleinere IT-Projekte. „Das Ziel war explizit, die Effektivität der bestehenden IT-Mannschaft zu steigern – und dabei strikt zu beachten, dass die Mitarbeiterzufriedenheit zu den strategischen Unternehmenszielen zählt“, sagt Ansari. Zunächst wurden die Leitlinien für die neue IT-Organisation definiert. Nach Anpassung des erprobten Prozessmodells an die IT-Landschaft von Bentley wurden die Aufgaben neu verteilt. Die neue Organisationsstruktur ist flacher, eine von bisher drei Hierarchiestufen entfällt. nun gibt es Teams mit bis zu zwölf Mitgliedern, deren Leiter unmittelbar an CIO Sauer berichten.

Nur für ein Viertel der IT-Mitarbeiter änderte sich bei dem Umbau nichts: Sie arbeiten immer noch im selben Team für denselben Chef an den gleichen Themen. Alle anderen haben entweder einen neuen Vorgesetzten bekommen, gehören zu einer anderen Arbeitsgruppe oder beides. 15 Prozent der Mitarbeiter machen auch inhaltlich einen anderen Job als früher. Die Umstrukturierung zeigt bereits spürbare Verbesserungen für die Mitarbeiter: „Die Zusammenarbeit zwischen IT und Fachbereichen hat sich deutlich verbessert“, so Sauer.

Vordrängeln war gestern

Die andere große Neuerung ist die Einführung eines „IT-Boards“. An diesem Runden Tisch legen die Führungskräfte von IT- und „Kunden“-Seite in regelmäßigen Meetings gemeinschaftlich fest, mit welcher Priorität die anstehenden oder beantragten Projekte abgearbeitet werden. Damit niemand übergangen wird, sind alle Fachbereiche in den Entscheidungsprozess eingebunden. Um das Prozedere so objektiv wie möglich zu gestalten, muss jeder Manager nach einem festgelegten Kriterienkatalog schriftlich begründen, wie sein Projekt dem Unternehmen nützen würde. Die endgültige Rangfolge der Projekte richtet sich nach einem Punktsystem. Den höchsten Stellenwert haben „Must do“-Projekte, die neue Gesetze oder strategische Vorstandsbeschlüsse umsetzen. Bei „Can do“-Projekten richtet sich das Ranking primär nach dem Business Case, sprich: nach dem zu erwartenden Beitrag zu den strategischen Firmenzielen. Damit ist sichergestellt, dass beim Verteilungskampf um die IT-Ressourcen nicht mehr der das größte Kuchenstück abbekommt, der die lauteste Stimme hat. Auch das traditionelle Fifo-Schema („first in, first out“), bei dem es allein nach der Reihenfolge der Anmeldung ging, gehört damit der Geschichte an.

Das vom IT-board praktizierte System, die sogenannte rollierende Portfolioplanung, ist dabei so flexibel, dass auch Freiräume, die sich unverhofft auftun, für kleinere Vorhaben genutzt werden können: Die Punktwerte gelten nicht für die Ewigkeit, das Board kann jederzeit auf veränderte Bedingungen reagieren. Da im Zuge der Festlegung der Prioritätenfolge auch ermittelt wird, wie viele Personentage und welche besonderen Fertigkeiten zu veranschlagen sind, sinkt zugleich das Risiko von Projektabbrüchen auf ein Minimum.

Nach einem Probelauf mit dem Ressort Sales & Marketing als Pilotkunde ist Roy Sauer zufrieden. Nicht zuletzt fördere die kollegiale Zusammenarbeit am Runden Tisch das Verständnis bei den Bereichsleitern dafür, wie die IT-Experten arbeiten, was sie leisten können und was nicht: „Jetzt wächst das Verständnis dafür, dass unsere Ressourcen endlich sind“, sagt der Bentley-IT-Chef. In einer Zeit, in der man sich scheinbar für alles eine billige App aus dem Internet herunterladen kann, vergessen manche Menschen diese Tatsache allzu leicht.

Erschienen in „Porsche Consulting – Das Magazin“, Ausgabe 13 (Oktober 2013)

Fahren mit echten Schikanen

Autos sind heute fast so schwierig zu bedienen wie Computer – daraus müsste sich Geld machen lassen.

Mit ihrem Vorschlag einer Ehe auf Zeit ist Dr. Gabriele Pauli, Bayerns einzige Kabarettistin mit eigenem Landratsamt, ja grandios gescheitert. Vielleicht hätte sie stattdessen eine andere Befristung per Gesetz fordern sollen: Führerscheine, die nur so lange gelten, wie man das Auto nicht wechselt.

Wer diese Idee für einen noch größeren Schmarrn hält als den Bund für sieben Jahre, hat wohl lange nicht mehr in einem Mietwagen gesessen: Außer Gaspedal, Bremspedal und Lenkrad ist kaum mehr etwas da, wo es hingehört. Nehmen wir die Oberklassekarosse, die mir ein großer Verleiher neulich großzügig zur Verfügung stellte, weil in der gebuchten Kategorie nichts parat stand. Okay, die motorische Sitzverstellung funktioniert sogar vor dem Dreh am Schlüssel. Danach aber surrt das Lenkrad viel zu weit nach unten, und der Bordroboter droht, Sitz & Co. an Fahrer 1 anzupassen, es sei denn, ich wähle „Gast“. „Bremse drücken“, verlangt dann der Bordrechner – „treten“ scheint nicht zu seinem Wortschatz zu gehören. Ich gehorche trotzdem, und der Monitor blafft: „Service!“ Der Servicemann vom Vermieter kennt das: „Einfach ignorieren. Fuß drauflassen und Schlüssel drehen!“ Die erste Rast nutze ich, um das Programmieren der Vierzonenklimatronik zu verstehen, die zweite, um den Radiosender zu wechseln. Und andere machen das beim Fahren?

Nach 700 Kilometern steuere ich erleichtert die Zapfsäule an, gleich bin ich das Teufelsding los! Aber wo ist die Tankentriegelung? In der Kurzanleitung, im Register des 400-Seiten-Handbuchs: nichts. Die eilends angerufene Dame von der Technik-Hotline des Vermieters wähnt den Knopf da, wo er bei der Marke früher mal war. Ist er natürlich nicht, woraufhin die hilflose Helferin einen Rückruf vom Technik-Notdienst des Herstellers anbietet. Gute Frau, die Leute hinter mir wollen
heute auch noch tanken!

Aber ich will nicht meckern. Indem sie sich immer neue Verstecke für die wichtigsten Bedienelemente ausdenkt, sichert die Autoindustrie die Jobs der Fahrlehrer in einer vergreisenden Gesellschaft. Oder sie macht gleich selbst ein Geschäft draus – das einwöchige Intensivtraining am Simulator in ihren pompösen neuen Auslieferungstempeln.

Aus der Technology Review 11/2007, Kolumne FROITZELEIEN

Piëchs Garagenwagen

Natürlich ist ein Golf mit 650 PS eine Perversion der Technik. Doch andererseits macht er Hoffnung.

Jubilare dürfen sich schon mal einen genehmigen – sei es, um zu feiern, oder um sich die Wirklichkeit schöner zu trinken. Daher hatte auch Ferdinand Piëch eine kleine Disziplinlosigkeit gut: Der technophile VW-Aufsichtsratsvorsitzende und sein Konzern sind schließlich gerade 70 geworden.

Nun passt in den Firmenannalen so vieles schlecht zu einer Weltmarke mit Premium-Anspruch, dass man sich als VW-Fahrer fast schon aus Mitgefühl am liebsten volllaufen ließe. Man denke nur daran, wie alles begann: Fast zwölf Jahre musste Piëchs Opa Ferry warten, bis er endlich sein erstes Auto unters Volk bringen durfte – und das war nicht etwa ein Porsche, sondern ein technisch total veralteter Arme-Leute-Kraftloswagen mit 22 PS, der gemeinerweise als „Käfer“ verspottet wurde. Doch Piëch überließ den Sauf-Exzess zum Jubiläum anderen – und zwar nicht etwa dem Betriebsrat, sondern Technikern. Die schweißten mit Teilen aus dem Konzernbaukasten den garantiert durstigsten GTI aller Zeiten zusammen: ein Monster im Golfspelz, das mit den 650 PS seines 12-Zylinder-Biturbo-Motors selbst Ferraris und Carreras die Rücklichter zeigt. Beziehungsweise zeigen würde: Natürlich ist das Einzelstück fahrtüchtig, davon haben sich Manager auf der Teststrecke überzeugt. Aber bislang hat sich wohl keiner getraut, das Geschoss auszufahren: Seine exorbitanten Leistungsdaten, gesteht die Pressestelle auf Nachfrage, sind nur berechnet. Wie viel Sprit der GTl W 12-650 so weghaut, hat niemand getestet, auch der CO2-Ausstoß lässt sich also nur schätzen. In der Praxis allerdings wird der Wert ohnehin nahe null liegen: Das Projekt war von Anfang an nur ein Supersportwagen im Konjunktiv, ein Autoimmobil fürs Rampenlicht statt für die Straße.

So bekam PS-Junkie Piëch zu seinem 70. Geburtstag (und dem 25. des Golf GTI) einen auf wundersame Weise umweltverträglichen Beweis, dass einem Wolfsburger Inscheniör wirklich nichts zu schwör ist. Aber mit solchen Optimierungsexperten brächte er doch sicher auch den ultimativen Volks-Wagen des 21. Jahrhunderts hin: agil, komfortabel, geräumig und trotzdem sparsam und bezahlbar. Und wer weiß, vielleicht siegt bei dem Porsche-Enkel ja doch noch Altersweisheit über den Rausch der Geschwindigkeit.

Aus der Technology Review 7/2007, Kolumne FROITZELEIEN

Private Kombinate

Zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz entwickelt sich langsam eine neue industrielle Infrastruktur. Westkonzerne testen in Sachsen innovative Konzepte – und sind sehr angetan von ihren Werktätigen.

Capital 6/1993 (Fotos: UJF)

Das obligatorische Honecker-Porträt fehlt, und die Gardinen sind frisch gewaschen. Ansonsten entspricht der muffig-spießige Konferenzraum, in dem der Manager Wolfgang Neef seine Besucher empfangen muß, noch voll und ganz dem aus DDR-Tagen gewohnten Bild: ringsum abgewetzte, durchgesessene Polsterelemente in den Farben Orange und Oliv, holzvertäfelte Wände in klassischer Politbüro-Optik, der Blick aus dem Fenster fällt auf eine düstere Kulisse aus größtenteils abbruchreifen Fabrikbauten.

Dennoch ist es nicht das trostlose Ambiente, das den Geschäftsführer der traditionsreichen Sachsenring Automobilwerke GmbH in Zwickau bedrückt. Es sind jene fünf „Profitcenters“, aus denen das Treuhand-Unternehmen heute besteht. Separat, sagt der Nachlaßverwalter der ehemaligen Trabi-Fabrik, könne er die Firmenteile – so unterschiedliche Sparten wie Fahrzeugbau, Ersatzteilhandel, Ingenieurbüro, Autorecycling und Bau von Fertigungsmitteln – privaten Investoren gewiß schmackhaft machen. Doch die IG Metall sperre sich, und darum stehe die GmbH leider nur en bloc zum Verkauf.

„Den Leuten in unserer Region“, stöhnt Neef, der seit seiner Lehre vier Jahrzehnte beim Sachsenring verbracht hat, „wäre doch mit fünf kleinen Betrieben zu je 150 Arbeitsplätzen besser gedient als mit einem großen, bei dem vielleicht 400 Arbeitsplätze übrigbleiben.“ Noch stehen freilich 1700 Menschen auf der Lohnliste, darunter alleine 300 Lehrlinge.

Wie die industrielle Zukunft des Sachsenrings aussehen könnte, ist in der unmittelbaren Nachbarschaft zu besichtigen. Dort hat sich – in einem verwitterten Bau, der einst den berühmten Horch-Werken gehörte – die Siemens Automobiltechnik GmbH (AT) mit ihrer Bordnetz-Fertigung eingemietet. Wie Klöpplerinnen hantieren einige Dutzend Frauen ungemein fix mit bunten Kabeln, bis daraus dicke Stränge werden: die Elektrik für den Golf, den VW hier ganz in der Nähe baut. Weil es Hunderte von Varianten gibt, ist das jeweilige Schema exakt auf der mannshohen Arbeitstafel vorgezeichnet.

Obwohl die Zwickauer Manufaktur mit einem Investitionsvolumen von zehn Millionen Mark zu den kleinsten Flecken auf der Sachsen-Karte der Siemens AG zählt, ist sie bereits zum Vorzeigebetrieb geworden. Nach anfänglicher Skepsis sind die AT-Geschäftsführer Gerhard Sander und Peter Schmitt von ihren 290 sächsischen Werktätigen regelrecht begeistert. „Wir sind sehr rasch eines Guten belehrt worden“, strahlt Sander, „die Motivation unserer Mitarbeiter ist hervorragend.“

Zum Beleg verweisen die zwei Westmanager auf das frische Computerdiagramm, das für jeden sichtbar am schwarzen Brett prangt. Danach hat die Belegschaft in den ersten Apriltagen die vorgegebene Norm um durchschnittlich 15 Prozent übererfüllt: Die Frauen haben schneller geklöppelt, als geplant war. Auch bei Krankenstand und Qualität halten die Kurven großen Abstand von der markierten Schmerzgrenze – die kapitalistische Planwirtschaft funktioniert.

Mit ihrer Kabelbaum-Produktion ist die Siemens AG nur einer von vielen Auto-Zulieferern, die sich auf einen ehrgeizigen Großversuch eingelassen haben: den Umbau einer traditionellen Autoregion zum modernsten Produktionsstandort Europas. Wo früher unter Regie des volkseigenen IFA-Konzerns mit einer Fertigungstiefe von 100 Prozent der Trabi montiert wurde, wächst jetzt um das VW-Werk Mosel herum ein enges Geflecht von selbständigen Unternehmen, die – quasi integriert in ein privatwirtschaftlich organisiertes Kombinat – gemeinsam und höchst rationell des Deutschen liebstes Auto produzieren.

Die Fertigungstiefe der eigentlichen VW-Fabrik sinkt dabei auf bescheidene 30 Prozent, ergo kann der Konzern auch einen Teil der Investitionen auf die Lieferanten abwälzen. Die extreme räumliche Nähe zwischen den Partnerbetrieben – im Westen in diesem Maß überhaupt nicht realisierbar – drückt die Reaktionszeiten der Just-in-time-Lieferanten auf ein absolutes Minimum.

Gegen ein Problem sind die Chefs der Zulieferbetriebe, zu denen neben Siemens auch Ableger von Hella, VDO und Allibert zählen, freilich machtlos – gegen den drastischen Sparkurs ihres Kunden Volkswagen. Die Niedersachsen, die ursprünglich bis 1994 rund 4,6 Milliarden Mark in Sachsen investieren wollten, haben den Endausbau des Standorts Zwickau-Mosel auf 1997 verschoben. Statt 1200 laufen deshalb vorerst nur 400 Exemplare des Golf pro Tag vom Band.

Während die Autobranche auf die Stotterbremse tritt, geben weniger konjunkturanfällige Wirtschaftszweige neuerdings in Sachsen kräftig Gas:

❏ Die Getränkeindustrie, allen voran Coca-Cola und die Bierkonzerne Binding und Holsten, steckt dreistellige Millionenbeträge in supermoderne Braustätten und Abfüllereien in Radeberg und Dresden.
❏ Der Fürther Schickedanz-Gruppe ist ein neues Quelle-Großversandhaus bei Leipzig fast eine Milliarde Mark wert; die fünf gigantischen Hallen, zusammen so groß wie zwölf Fußballfelder, sind für 25 Millionen Pakete pro Jahr ausgelegt.
❏  Die Degussa-Tochter Asta verordnete sich eine moderne Tablettenfabrik in Dresden für 325 Millionen Mark; produziert werden allerdings nur Generika, also Standard-Pillen ohne neuentwickelte Wirkstoffe.
❏ Die Frankfurter Investmentfirma Advanta trieb 250 Millionen Mark auf, mit denen das denkmalgeschützte Taschenbergpalais zum „Steigenberger Hotel Dresden“ umgebaut wird.
❏ Der Aretsrieder Milchgigant Müller, bereits Pächter mehrerer sächsischer Molkereien, greift nach der Devise „Alles Müller oder was?“ nach der Marktführerschaft in ostdeutschen Kühltheken; dazu bauen die Allgäuer südlich von Leipzig eine Großmolkerei samt Käsefabrik für 180 Millionen Mark.

Um ein großes Technologie-Unternehmen, in das noch vor Jahresfrist viele Sachsen große Hoffnungen gesetzt hatte, ist es hingegen sehr, sehr still geworden: das Zentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD). Die ehemalige DDR-Chipfabrik sei gerettet, hatte Wirtschaftsminister Kajo Schommer im vergangenen Oktober verkündet. Dresdner Bank und Commerzbank würden in Kürze die Gesellschafteranteile von der Treuhandanstalt übernehmen, das Halbleiter-Know-how stelle die Siemens AG. Ein halbes Jahr später sagt eine Commerzbank-Sprecherin nichts anderes: „Das ist auch heute Stand der Dinge.“

Ulf J. Froitzheim

Dieser Text erschien im Juni 1993 – gekürzt und vermischt mit dem Beitrag einer Kollegin – unter der Überschrift „Testfall für Ostdeutschland“ in der Haupt- und der Ostausgabe von Capital.