Das Wort Disruption wird inflationär verwendet, aber nicht jeder versteht das Gleiche darunter. Ein Definitionsversuch von Ulf Jochen Froitzheim.
Das passiert einem Autor nicht alle Tage: Die Redaktion bittet ihn, ein in Mode gekommenes Fremdwort zu erklären, dessen Bedeutung ihm völlig klar ist. Bei der Suche nach dem Ursprung des Begriffs, der mittlerweile zum festen Alltagswortschatz vieler Ingenieure, Manager und Kreativarbeiter gehört, stellt er jedoch fest, dass dieses lateinisch klingende Hauptwort offiziell gar nicht existiert. Jedenfalls haben es weder die Duden-Redaktion noch die Freizeit-Enzyklopädisten der Wikipedia eines eigenen Eintrags für wert befunden; auch die Vocabularia der Lateiner schweigen sich aus.
Erklärt sich vielleicht von selbst, was unter Disruption zu verstehen ist? Wenn dem so wäre, würden sich darüber wohl nicht sogar Professoren der Harvard-Universität öffentlich in die Haare geraten. Fest steht, dass die neulateinische Wortschöpfung aus dem amerikanischen Wirtschaftsenglisch in unseren Sprachraum eingewandert ist und demzufolge »Dissrapptschen« auszusprechen wäre. Die negativ besetzte Vorsilbe »Dis« legt die Vermutung nahe, es handle sich um eine Extremform von »Interruption«. Anders als eine bloße Unterbrechung würde die Disruption den Betrieb nicht nur vorübergehend stören, sondern womöglich auf Dauer. In diesem Sinne wird der Terminus auch meist verwendet, beispielsweise im Zusammenhang mit der Energiewende: Der Boom von Fotovoltaik und Windrädern zwingt Energieversorger wie Eon, ihr altes Geschäftsmodell zu verschrotten.
So schlüssig diese Herleitung auch klingt, so falsch ist sie. Am Anfang stand ein harmloses Adjektiv, das allenfalls Zoologen geläufig war: Ein »disruptiv« gefärbtes Fell oder Gefieder ist grob gescheckt; es verleiht Tieren in steinigem Gelände eine bessere Tarnung als ein einfarbiges.
Die heutige Hauptbedeutung des Adjektivs geht zurück auf den amerikanischen Innovationsforscher Clayton Christensen, Professor an der Harvard Business School in Cambrige (Massachusetts). In seinem Bestseller »The Innovator’s Dilemma« widmete sich der Ökonom 1997 dem Phänomen, dass etablierte Unternehmen, deren Geschäft gut läuft, dazu neigen, auf Trends und technische Neuheiten zu spät zu reagieren – womit sie es agilen Newcomern leicht machen, ihnen Marktanteile abzunehmen.
Für solche bahnbrechenden Erfindungen oder Innovationen, die auch einen Marktführer in Bedrängnis bringen können, prägte Christensen den Begriff »disruptive Technologien«. Eines seiner Beispiele war der Hydraulikbagger, der Mitte des 20.Jahrhunderts den über lange Stahlseile angetriebenen Bagger vom Markt fegte, ein anderes das Stakkato von immer kleineren Speicherlaufwerken für Computer, bei dem wiederholt wendige Startup-Firmen den alteingesessenen IT-Firmen die Butter vom Brot nahmen. Disruptive Technologien stellen nicht nur Branchentraditionen in Frage, sie entwerten vor allem Investitionen in herkömmliche Produkte.
Christensens These rankte sich ursprünglich nicht um große Paradigmenwechsel, die ganze Wirtschaftszweige um ihre Existenz bringen, sondern viel banaler um die Probleme einzelner Unternehmen, deren Chefs die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Ein typisches Merkmal der Art von Fortschritt, die der Harvard-Ökonom untersuchte, war der Ersatz aufwändiger Produktionsverfahren und teurer Produkte durch simplere und billigere Lösungen. Disruptiv ist demnach nicht unbedingt etwas, das nachhaltigen Fortschritt oder gar Qualitätssteigerungen bewirkt. Die Verlagerung der Textilfertigung in Billiglohnländer lässt sich ebenso als Folge disruptiver Geschäftsmethoden definieren wie die Verdrängung langlebiger Produkte durch Wegwerfartikel oder der Discounthandel à la Aldi.
Im Kern skizziert Christensen allerdings nichts anderes als das Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaft, das der aus Mähren stammende amerikanische Nationalökonom Joseph Schumpeter 1942 »schöpferische Zerstörung« taufte: Fortschritt ereignet sich in Innovationszyklen; Neues macht regelmäßig Altes obsolet, sodass Unternehmer, die darauf nicht reagieren, über kurz oder lang scheitern.
Obwohl die These von den »disruptiven Technologien« nur Altbekanntes variierte und sogar den Scheinwerfer auf die Verlierer des Fortschritts richtete, entwickelte sich daraus ein regelrechter Kult. Christensen schrieb Fortsetzungen zu seinem Bestseller und verdiente gut als Vortragsreisender. Unternehmensberater sprangen auf den Zug auf. Binnen weniger Jahre kehrte sich – besonders in den USA – die Wahrnehmung disruptiver Entwicklungen um. Im Fokus stand nicht mehr die Schattenseite des Fortschritts, die bedrohliche Begleiterscheinung, sondern der offensive Einsatz des Prinzips als Waffe in einem zunehmend auf Verdrängung ausgerichteten Wettbewerb.
Disruption mutierte quasi zum Selbstzweck, wie die Harvard-Historikerin Jill Lepore ihrem Kollegen von der Wirtschaftsfakultät erst 2014 in einem Essay im New Yorker böse hinrieb: »Disruptive Innovation ist die Wettbewerbsstrategie für eine vom Terror gelähmte Zeit.« Vor lauter Angst, die Konkurrenz könnte einem zuvorkommen, kannibalisiert man sein Geschäft selbst und zieht vorsorglich die Kostenschraube noch strammer an – als komme es vor allem darauf an, den anderen das Geschäft zu vermasseln, und nicht, selbst Geld zu verdienen. In der Praxis lassen sich disruptive Wettbewerbsstrategien am besten im Onlinehandel besichtigen: Aggressive Anbieter wie Amazon und Zalando nehmen klassischen Einzelhändlern zwar massiv Marktanteile ab, verdienen selbst aber so gut wie kein Geld.
Zum Glück ist das nicht die einzige Sicht der Dinge. Bei Schumpeter ist die Zerstörung nur die Voraussetzung für einen schöpferischen Akt. Als Apple das iPhone entwickelte, bedeutete dies zwar den Untergang von Nokia, aber von einem Billigersatz für die finnischen Handys konnte keine Rede sein. Die Mobilfunkbranche wurde erschüttert und umgekrempelt – so wie es das lateinische Ursprungsverb dirumpere ausdrückt: »etwas aufbrechen, zerreißen, zum Platzen bringen«. Das iPhone war die Egge, die den erstarrten Acker umbrach, damit Neues sprießen konnte – der gänzlich neue Markt für Apps, Milliarden Gigabytes an Datentraffic in den Netzen und schließlich das Genre der Tablet-Computer. Diese bedeuten wiederum eine Disruption des ohnehin gesättigten Computermarkts: Viele Privatleute brauchen keinen neuen PC mehr. Der Absatz schrumpft, aber das geschieht peu à peu und ist planbar.
Die Atommeiler von Eon oder benzinbetriebene Autos verschwinden ebenfalls nicht über Nacht – und auch nicht ersatzlos. Der Mensch braucht weiterhin Strom und will mobil bleiben. Beide Branchen müssen sich auf gewaltige Umwälzungen einstellen, aber es trifft sie nicht unvorbereitet wie eine Vulkaneruption. Wenn das ähnlich klingende Wort Disruption aus der Mode kommt, wäre es nicht schade darum. Das einzige Anwendungsbeispiel, das der Redaktion der Pons-Vokabelsammlung zur Substantivierung diruptio (ohne s) einfiel, war ausgerechnet die »diruptio atomica« – also Atomexplosion.
Erschienen im design report 1/2015.
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