Im Internet werden die Adressen knapp. Darum bekommt das Netz bald ein komplett neues Zustellsystem, in dem jedes technische Gerät auf Erden – vom UMTS-Handy bis zur Glühbirne – eine eigene Postleitzahl haben kann. In Asien hat die Umstellung schon begonnen.
Es war einmal ein Häuflein verantwortungsbewusster Computerexperten, das zerbrach sich die Köpfe über die Probleme von übermorgen. Noch nicht einmal jeder hundertste Amerikaner war online – vom „Rest of World“ ganz zu schweigen – da sorgten sich diese Ingenieure und Wissenschaftler bereits um die Grenzen des Wachstums. Nur 4,29 Milliarden mögliche Internet-Adressen, das reiche wohl kaum aus für einen Planeten mit bald sechs Milliarden Einwohnern. So beschlossen sie, das „Internet Protocol next generation“ (kurz: IP ng) zu entwickeln – einen großzügigen neuen Unterbau für das globale Datennetz, dessen Existenz die globale Öffentlichkeit zu der Zeit noch gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. Dann überrollte der Online-Boom die Vordenker.
Die scheinbar weltfremden Weltverbesserer hatten allerdings den richtigen Riecher gehabt. Keine zehn Jahre hat es gedauert, schon jagen Unternehmen in den aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens den letzten freien IP-Adressen hinterher. Diese anno 1974 eingeführten Zifferngruppen, vier Werte zwischen 0 und 255, sind unerlässlich als Postleitzahlen für E-Mails und Datenpakete. Auch in Europa gehen die Vorräte demnächst zur Neige – Experten erwarten den Schlussverkauf fürs Jahr 2006. Ohne technische Tricksereien, durch die nicht jeder vernetzte PC eine exklusive IP braucht, wäre schon jetzt der Notstand nah. Über größere Reserven verfügen allein die USA, die sich als Erfinder des Internets einst drei Viertel der möglichen Nummern gesichert hatten: Während sich statistisch gesehen 60 Chinesen eine „alte“ IP-Adresse teilen müssen, entfällt auf jeden Bürger der Vereinigten Staaten immerhin ein knappes Dutzend dieser Netzleitzahlen.
Glaubt man Technik-Propheten wie A. Richard Newton, Dekan der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der University of California Berkeley (UCB), könnte selbst das bald nicht mehr genug sein. Nicht annähernd genug: Der Professor träumt vom allgegenwärtigen „Evernet“, einer „zuverlässigen und sicheren IT-Infrastruktur, die Billionen von Gegenständen miteinander verbindet, nicht bloß Millionen von Computern“ wie das heutige Internet. Seine Vision einer komplett vernetzten Alltagswelt ist durchaus realistisch – zumindest was ihre technische Machbarkeit betrifft. Denn die „nächste Generation“ des Internet-Protokolls ist mittlerweile startklar. Netzbetreiber und Anwender in aller Welt testen bereits „IPv6“, die Meta-Software, die sich zum neuen Fundament des Internets entwickeln soll. In China, Japan und Korea sind sogar schon erste kommerzielle Sub-Netze auf der neuen Basis in Betrieb.
Den notorischen Mangel der Vorgängerversion IPv4 – v5 gab es nie – ersetzt IPv6 durch gigantischen Überfluss: Jeder Mensch auf Erden könnte theoretisch mit 50 Quadrilliarden, das entspricht einer Zahl mit 27 Nullen, weltweit einmaligen Internet-Adressen um sich werfen und alles digital nummerieren, was nicht niet- und nagelfest ist. Bügeleisen oder Herdplatten, die der vergessliche Junggeselle notfalls per Handy fernabschalten kann? Kein Problem. Das System enthält außerdem eingebaute Sicherheitsfunktionen, gilt als technisch elegant und eignet sich für Übertragungen mit genau definierten Qualitätsstandards. Kurzum: In der Gegenüberstellung mit IPv4 wirkt IPv6 wie das Nonplusultra.
Dr. Wulf Bauerfeld, IPv6-Experte bei T-Systems Nova/Berkom in Berlin, sieht das Thema nüchterner – nämlich aus der Sicht der Anwender, die nun einmal jahrelang in die alte Technik investieren haben und nun einen Plan brauchen für den möglichst reibungslosen Übergang. „Was jetzt kommt, ist wie die Umstellung auf die fünfstellige Postleitzahl,“ sagt Bauerfeld – wie damals zwingt eine Vorgabe von außen zum Handeln. So müssen auf den Generationswechsel über kurz oder lange nun einmal alle Unternehmen reagieren, auch diejenigen, die nach dem Grundsatz „never change a running system“ lieber ihre auf IPv4-Basis optimierten Anwendungen beibehalten würden.
Noch ist keine Eile geboten. Für die Modernisierung gibt es keinen festen Stichtag. In Europa wird sie voraussichtlich 2004 in Gang kommen. Und wer heute den Schalter umlegen und auf IPv6 umstellen würde, wäre schlagartig für 99,9 Prozent der Netznutzer nicht mehr erreichbar. Für IT-Strategen ist es gleichwohl an der Zeit, den Umstieg vorzubereiten. Wer seine IT-Kapazitäten erweitern muss, dem raten Experten, kein Geld mehr in die alte Technik zu stecken. „Der Ausbau und Unterhalt von IPv4 wird immer aufwändiger und teurer“, warnt die Schweizer IPv6-Spezialistin und Fachbuchautorin Silvia Hagen – und rät dazu, die Kosten für die Umstellung „als eine Investition in eine zukunftsorientierte Technologie zu betrachten“. So sparen künftig die Netzadministratoren Arbeit, denn Version 6 konfiguriert die angeschlossenen Geräte nach dem Plug&play-Prinzip weitgehend automatisch. Dadurch werden Anwendungen interessant, die bisher nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu realisieren gewesen wären.
„Bei der gesamten Gebäudetechnik könnte eine bessere Vernetzung die Kosten spürbar senken“, weiß T-Systems-Mann Bauerfeld. So könnte jedes Teil, das kaputtgehen kann, aus der Ferne überwacht werden – bis hin zur einzelnen Glühbirne. Auch bei mobilen Endgeräten bringt IPv6 Erleichterung: Sind die neuen Netzleitzahlen erst einmal global eingeführt, können Reisende ihr Notebook oder UMTS-Handy in jedem Netz der Welt sofort einsetzen, ohne mühsam Zugangsdaten zu ändern.
Viele Betreiber von Internet-Hosts rüsten sich bereits für ein zweigleisiges Angebot: Immer mehr Router und Server sind über so genannte duale IP-Stacks in beiden Standards parallel erreichbar. „Etwa ab Anfang 2006 werden nur noch v6-Adressen vergeben“, prognostiziert Wulf Bauerfeld, „mit einer Umstellung in großem Stil ist 2007 oder 2008 zu rechnen.“ Peu à peu wird dann über die Jahre hinweg die Infrastruktur modernisiert: Anfangs passieren Daten im neuen Format die alten Netz-Strecken mittels so genannter Tunnel. Später sind wiederum Tunnel nötig, damit IPv4-Daten die neuen IPv6-Strecken überwinden können.
Die Vorteile der neuen IP-Generation kommen freilich erst zum Tragen, wenn Online-Kommunikation durchgängig im neuen Standard möglich ist. Dann wird ein alter Wunsch der E-Commerce-Anbieter wahr: Ein digitales Siegel, der „Authentication Header“ wird dann garantieren, dass ein Datenpaket tatsächlich von dem im Adressfeld eingetragenen Absender stammt. Außerdem wird es möglich sein, Daten ohne zusätzliche Software lückenlos zu verschlüsseln. Schwierig wird es freilich für jene Internet-Freunde, die sich daran gewöhnt haben, unter den verschiedensten Fantasie-Identitäten durchs Web zu geistern und durch kleine Tricks aus dem Hacker-Einmaleins ihre digitalen Spuren sorgsam zu verwischen: Wenn nicht jeder User, so wird doch jedes Endgerät unverwechselbar sein.
Ob IPv6 tatsächlich eines Tages zu Professor Newtons Evernet führt, wagt derzeit kein Praktiker zu behaupten. Immerhin: Der japanische Elektrokonzern Matsushita hat schon den Prototyp einer vernetzbaren Schreibtischlampe präsentiert, die der Hausmeister via Intranet ausschalten kann.
ERSCHIENEN IN DIGITS 3/2003 (HERAUSGEBER: T-SYSTEMS)
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