Das umgedachte Unternehmen

Gute Software ist eine notwendige Voraussetzung für optimale Geschäftsprozesse, aber keine hinreichende. Nach den IT-Profis muss das gesamte Unternehmen lernen, in Prozessen zu denken. Das neue Leitbild ist die „Process Company“, deren arbeitsteilige Kultur auf ein neues, pragmatisches Miteinander baut – und auf Wandel als einzige Konstante.

Selbst Wirtschaftsstraftäter bewirken manchmal Gutes, wenn auch selten mit Absicht. Ohne die Skandale um die gefallenen Business-Illusionisten Bernie Ebbers (Worldcom) und Kenneth Lay (Enron) hätten sich die US-Senatoren Paul Sarbanes und Michael Oxley vermutlich nie zusammengetan, um ein Gesetz zu schreiben, das börsennotierten Unternehmen unerwartet strenge Vorgaben zum Finanzreporting macht. Ohne den weltweit spürbaren Druck dieses amerikanischen Gesetzes wiederum, des Sarbanes Oxley Act (oder kurz SOx), hätte sich auch mancher seriöse Konzern im vergangenen Jahrfünft wohl weniger intensiv Gedanken gemacht über die Sinnhaftigkeit und Qualität seiner Arbeitsabläufe. Wer mit Praktikern spricht, hört eines jedenfalls immer wieder: Die vermeintliche Not, sich um Themen wie „Compliance“ und „Governance“ kümmern zu müssen, schärfte den Blick für verkrustete Strukturen und Organisationsmängel, die sich als bewährte Praxis tarnten, und förderte die Besinnung auf unternehmerische Tugenden.

Ganz gleich, wie maßgeblich externe Katalysatoren wie SOx und Basel II im Einzelfall waren, der Trend ist unübersehbar: Unternehmen aller Branchen, und keineswegs nur die Großen, haben das Thema Geschäftsprozessmanagement auf der Agenda.

„Wir haben den Wendepunkt passiert“, freut sich Michael Hammer, seit 15 Jahren unermüdlicher Streiter für prozessorientierte Unternehmensführung. In den vergangenen fünf Jahren sei das Prozessdenken endgültig in den Mainstream eingeflossen, mittlerweile sei die kritische Masse erreicht. „Die Idee, dass durchgängige Prozesse die Chance bieten, sich durch überragende Leistung hervorzutun, ist weithin begriffen und akzeptiert worden“, sagt der Management-Vordenker aus Cambridge zufrieden, „Hunderte von Firmen schlagen daraus Kapital.“

Noch 2003 war eine solche Entwicklung für Hammer mehr Hoffnung als Gewissheit. Der Niedergang der New Economy und der immense Aufwand für Y2K-Projekte hatten den Appetit der Konzernvorstände auf Neuerungen, die scheinbar aus der IT-Ecke kamen, spürbar gezügelt. In seinem Buch „Business Back to Basics“ predigte der Prozess-Guru damals den Firmenchefs, sich in die Perspektive ihrer Kunden zu versetzen und ihren Betrieb konsequent danach auszurichten – soweit möglich unter Einbeziehung von Lieferanten und Abnehmern. Nachdem die Botschaft bei den Adressaten angekommen ist, geht es nicht nur nach seiner Einschätzung nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie.

Diese Frage hat es allerdings in sich. Sie berührt das berufliche Selbstverständnis von Menschen auf allen Hierarchieebenen, ihre Bereitschaft zu Umlernen und Flexibilität. Sie tangiert den akzeptierten Modus Vivendi zwischen IT und Fachabteilungen ebenso wie die Zusammenarbeit der klassischen Vorstandsressorts Finanzen, Personal, Marketing oder Vertrieb untereinander. Sie untergräbt im Interesse des gemeinsamen Erfolgs die Pfründe Mächtiger und impliziert den Willen, Verantwortung nach nüchternen Opportunitätskriterien umzuverteilen. „Die Veränderungen sind für manche Menschen ein kompletter Kulturschock“, warnt Theo van den Hurk, Prozess-Experte bei der niederländischen Bank ABN Amro. Wer als Firmenlenker seine Organisation am neuen Leitbild der „Process Company“ ausrichten will, kommt nicht umhin, den Nutzen des Wandels vor dem Hintergrund der gewachsenen Unternehmenskultur zu bewerten.

Wer in der realen Welt die ultimative Prozessfirma sucht, deren Erfolgsrezept er einfach kopieren kann, wird sich aber ohnehin schwertun. So haben zum Beispiel die Unternehmen, von deren bisherigen Erfolgen Michael Hammer besonders angetan ist, eher wenig gemeinsam – Shell und Hilti, Merck und Marriott, Pepsi und Tetra Pak. Und auch sie sind nach Ansicht des Prozess-Pioniers alle noch nicht am Ziel: „Niemand hat bisher alle Aspekte vollständig gemeistert.“ Selbst wenn es irgendwo gelänge, einen idealtypischen Musterbetrieb auf die grüne Wiese zu stellen, der wirklich alles zu 100 Prozent richtig macht, böte dessen Prozesslandkarte einem bestehenden Unternehmen wenig Orientierung – es sei denn, Geschäftsmodell und IT-Landschaft wären absolut deckungsgleich. Aber der Versuch, einem Unternehmen einfach vorgefertige Idealprozesse überzustülpen, widerspräche eh der Philosophie des Business Process Managements (BPM).

Björn-Erik Willoch, Skandinaviens führender Kopf in Sachen Prozessmanagement, warnt ausdrücklich vor einer technokratischen Herangehensweise. Die Einführung ausgereifter ERP-Systeme, die viele Routineprozesse äußerst produktiv automatisierten, habe viele Chefs dazu verleitet, sich zu sehr auf die Technik zu verlassen. „Diese Manager haben abgedankt“, wettert Willoch, „und ihre Verantwortung abgeschoben auf die Software.“ Inzwischen hätten sich aber die Bedürfnisse verschoben. Händeringend verlangten die Manager nun Flexibilität in den Prozessen, um besser auf sich wandelnde Kundenwünsche eingehen zu können. „Jetzt versuchen ihre IT-Leute verzweifelt, diese Anforderungen mit der existierenden Software in Einklang zu bringen.“ Dies sei, wenn es denn überhaupt gelinge, oftmals absurd aufwändig, denn vielerorts laufe im Hintergrund noch betagter Cobol-Spaghetticode.

Der schwedische Unternehmensberater fordert deshalb mehr IT-Kompetenz in den obersten Rängen des Managements – am besten in Form eines Chief Process Officers (CPO) im Rang eines Vorstandsmitglieds oder Geschäftsführers, der weiß, was SOA und Middleware sind und kontinuierlich dafür sorgt, dass die IT die geschäftlich nötigen Prozesse realisiert. „Ein Geschäftsprozess ist ein Aktivposten,“ argumentiert Willoch. Ergo müsse das Denken in Prozessen in der Chefetage genau so selbstverständlich werden wie der Umgang mit der Gewinn-und-Verlust-Rechnung.

Wolfram Jost sieht dies im Prinzip ähnlich. Am Ende einer längeren Entwicklung hält das IDS-Scheer-Vorstandsmitglied sogar einen „schleichenden Übergang“ zu neuartigen Geschäftsverteilungsplänen für denkbar: von den klassischen Managementressorts hin zu Vorständen, deren Verantwortungsbereiche nach End-to-End-Prozessen sortiert sind, welche jedoch nach Branche und Geschäftsmodell variieren. Erfolg verspricht für Jost eine pragmatische Evolution, nicht die Revolution: „Das wird niemand Knall auf Fall machen. Machtzentren darf man nicht so einfach zerstören.“

Selbst wenn die Akzeptanz des Wandels auf den unteren Rängen kein Problem wäre: Eine schöpferische Zerstörung der alten Strukturen, nach Joseph Schumpeter durchaus legitim, würde heute allein schon daran scheitern, dass für einen Neuanfang auf breiter Front gar nicht genug qualifizierte, geschweige denn erfahrene Führungskräfte auf dem Markt wären. Tatsächlich gehen sogar noch die Meinungen darüber auseinander, was ein aufstrebender Prozessmanager primär können muss. Zumindest innerhalb der gewachsenen Strukturen handelt es sich nämlich um einen Wandler zwischen den Welten, der erheblich mehr IT-Verständnis aufbringen muss als ein normaler Kaufmann und gleichzeitig besser als ein durchschnittlicher Informatiker in der Gedankenwelt der Betriebswirte daheim ist. „Das ist ein Job für Hybrid-Experten“, postuliert Jost.

Auch diese doppelt Qualifizierten sind aber auf Gesprächspartner angewiesen, die aktiv zuhören – und da sieht Björn-Erik Willoch noch eine große Aufgabe fürs Change Management. „Wenn man mit Topmanagern eine Prozesslandkarte für ihre Firma aufsetzen will, verlassen manchmal die ersten fluchtartig den Saal, sobald es droht, ein bisschen technisch zu werden“, stöhnt der als Ingenieur sozialisierte Consulter. Dabei vermeide er es bewusst, zu tief in die Details einzusteigen. Er versuche seinen Klienten nur klar zu machen, dass sie im Zeitalter Service-orientierter IT-Architekturen wiederverwendbare Funktionskomponenten nutzen können, die sich Lego-artig zu immer wieder neuen Geschäftsprozessen kombinieren lassen – eine Idee, deren Nutzen auf Effizienz bedachten Kaufleuten eigentlich sofort einleuchten müsste.

Die Unternehmen, deren BPM-Anstrengungen heute schon weit gediehen sind, haben die Kommunikations- und Akzeptanzhürden auf ganz unterschiedliche Weise geschleift. Der Metro-Konzern, der 2003 bei der Großverbrauchermarkt-Sparte Cash & Carry begonnen hatte, eine Prozessorganisation aufzubauen, bündelte seine Spezialisten in einer Tochterfirma; diese Metro Group Solution (MGS) versteht sich als Know-how-Pool und Prozess-Dienstleister. Wolfgang Welsch, Chef der MGS-Stabsabteilung „Governance & Services“, berät mit seinem interdisziplinären Team aus Kaufleuten und Informatikern die konzerninternen Abnehmer, also Manager der Handelsgesellschaften in den verschiedenen Ländern, die als „Process Owner“ quasi Kunden-Status haben. Die eigentliche Anwendungsentwicklung obliegt den Kollegen von der operativen IT-Division Metro Group Informatik.

Damit diese Art der Arbeitsteilung in den 30 Landesorganisationen gut angenommen wird, die von Düsseldorf aus betreut werden, bemüht sich Welsch, den involvierten Mitarbeitern zu zeigen, wie ihnen die Neuerungen konkret helfen, und sie nicht mit einem Wust eher sekundärer Veränderungen zu überfordern. „Zuerst muss man sich mit Prozessen beschäftigen, die für sich alleine eine signifikante Wertschöpfung bringen oder ein ärgerliches Problem lösen“, sagt Welsch. Ein ganz entscheidender Erfolgsfaktor bei der Metro sei allerdings auch das „klare Management-Commitment“: „Wir haben eine sehr gute Unterstützung nicht nur von der Cash & Carry-Geschäftsleitung, sondern auch vom Vorstand der AG.“

Auch bei der Eon Energy Trading AG ist das Prozess-Management Sache eines Teams, das als Scharnier zwischen Geschäftsführung und IT fungiert. Sebastian Schlaf, der sich in München um „Prozessmanagement und SOA“ kümmert, ist Volkswirt; die Kollegen in seinem Team kommen allesamt aus ökonomischen Fachrichtungen, keiner aus der Informatik. „Die IT hat eine eingeschränkte Sichtweise auf die Geschäftsprozesse“, erklärt Schlaf, der nach eigenem Bekunden einen kurzen Draht zu den Softwareleuten pflegt. Es gebe auch Prozesse, die nicht mittels IT verbessert werden könnten.

Anders als bei vielen Unternehmen, die End-to-End-Prozesse quer durch die klassischen Funktionsbereiche realisieren wollen, geht es bei der für den Stromhandel zuständigen Eon-Tochter derzeit nur um Prozesse innerhalb bestehender Abteilungen. Das Change Management setzte deshalb bei den Führungskräften an: Process Owner – und damit Multiplikator – ist der jeweilige Abteilungsleiter. „Zuerst brauche ich die Aufmerksamkeit des Managements“, erklärt Schlaf, „dann muss ich die Mitarbeiter überzeugen, dass das, was wir da machen, auch ihnen Mehrwert bringt.“ Dies sei geglückt. Die Dokumentation der Prozesse – im Intranet jederzeit für alle einsehbar – habe den Weg zu sichtbaren Verbesserungen gewiesen, inzwischen sei die Prozessdenke in der Unternehmenskultur verankert.

Mitunter kommt es allerdings vor, dass die Überzeugungsarbeit etwas mühsamer ausfällt – etwa bei dem preisgekrönten Prozessmanagement-Projekt der ABM Amro. Einer der Knackpunkte war ein ineffizientes Risikomanagement, bei dem längst geprüfte Bonitätsdaten mehrfach nachgecheckt wurden. Der neue End-to-End-Prozess eliminierte überflüssige Doppelarbeit. „Die Verbesserungen waren eigentlich sehr offensichtlich für unsere Mitarbeiter“, sagt Theo van den Hurk, „das heißt aber nicht, dass alle das auch gewürdigt hätten. Nicht jeder mag den Wandel. Es mag auch nicht jeder grenzenlose Transparenz.“ Mit Trainings, in denen der neue Prozess Schritt für Schritt erklärt wurde, baute die BPM-Mannschaft schließlich Vertrauen in die Neuerung auf; auch das Vergütungssystem wurde anhand der Prozess-Ziele neu ausgerichtet.

Dass es schwer ist, allen Mitarbeitern die Idee zu vermitteln, dass in einem Prozess-orientierten Unternehmen nichts so beständig ist wie der Wandel, darin sind sich die Experten einig. Wer die Ängste kennengelernt hat, die das Neue manchmal auslöst, kann aber auch darauf eingehen: Auch bei BPM wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. „Der Boxenstopp bei der Formel 1 ist Prozessoptimierung par excellence“, erklärt IDS-Vorstand Jost, „aber er ist auch eine enorme Ressourcenverschwendung.“

Am Ende zählen die Zahlen: Eine nüchterne Prozessanalyse kann durchaus ergeben, dass eine traditionelle Abteilung aus dem berüchtigten „Funktionssilo“ sehr effizient arbeitet. Einfach tabula rasa zu machen, ist auch für Michael Hammer, den Erfinder des Business Process Reengineering, nicht Sinn der Sache: „Jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg finden, der zu seiner Branche, seiner Kultur und seiner Strategie passt.“

 

2008 geschrieben für Scheer Magazin*

* Da die gedruckte Fassung Passagen enthält, deren Urheberschaft nicht eindeutig ist, steht hier das Originalmanuskript.

Michael Hammer: „No pain, no gain“

Interview mit Michael Hammer über Business Process Management

Dr. Hammer, vor fast zehn Jahren haben Sie und James A. Champy ein „Manifest für eine Revolution“ aufgestellt – so der Untertitel Ihres Bestsellers „Business Reengineering“. Die Revolution, die kurz darauf ausbrach, wirkte jedoch wie ein surrealistisches Experiment und nannte sich New Economy.

Was wir in den späten Neunzigern sahen, war ein Irrweg in der Wirtschaftsgeschichte: eine Periode, in der sich Verbraucher, Unternehmen und Investoren gleichermagen in eine Fantasiewelt davontragen ließen. Es war ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Verbraucher lebten weit über ihre Verhältnisse, beflügelt von den nimmer endenden Wertsteigerungen ihrer Aktien und Immobilien; daraufhin blähten Unternehmen ihre Kapazitäten auf und liefen hirnlosen Konzepten hinterher, die sich vor allem ums Internet drehten. Investoren verloren den Blick für den wahren Wert von Unternehmen und zahlten extravagante Preise für Aktien von Firmen, die auf der Wachstumswelle ritten.

Was haben Sie gedacht, als Sie merkten, dass so viele Entscheidungsträger das Einmaleins der Betriebswirtschaft zusehends bedeutungslos fanden?

So ein Kreislauf ist grundsätzlich instabil und auf lange Sicht nicht durchzuhalten. Irgendwann kommt die Realität ans Licht, und dann kracht das ganze System zusammen. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis unsere Wirtschaft wieder auf Normalmaß geschrumpft ist. Je wilder die Party, desto schlimmer der Kater. In der wirtschaft- lichen Blase der späten Neunziger hielten viele Firmenlenker es für unnötig, die Grundlagen der Wirtschaft zu beachten. Sie verdienten ja auch so ganz leicht Geld. Jetzt bezahlen sie den Preis dafür…

… und die Vernunft kehrt zurück.

Die zentrale Idee des Business Reengineering – Geschäftsprozesse von vorne bis hinten neu zu durchdenken, um Ballast an Zeit und Kosten aus Betriebsabläufen zu eliminieren – ist jedenfalls wieder en vogue. Process Redesign steht überall auf der Tagesordnung; die Unternehmen machen dort weiter, wo viele von ihnen 1997 aufgehört hahen. Und die treihende Kraft hinter der Renaissance des Reengineering ist die Macht des Kunden. Fast jede Branche hat sich Überkapazitäten geschaffen. Die Untemehmen stecken in einer Falle aus Inflation und Deflation: Die Rohmaterialien werden immer teurer, die Preise der Fertigprodukte sinken. Die Kunden nehmen Preiserhöhungen und Serviceverschlechterungen einfach nicht mehr hin. Der einzige Ausweg besteht darin, mit neuem Eifer nach Innovationen im Betriebsablauf zu suchen.

In Ihrem neuen Buch „Business Back to Basics“ vertreten Sie den Standpunkt, dass Kahlschläge zur Kostensenkung nicht zur heutigen „Customer Economy“ passen. Innovationen müssten demnach die Bereitschaft der Kunden steigern, bessere Produkte und Dienstleistungen zu kaufen und womöglich sogar mehr Geld dafür zu bezahlen. Wie kann Process Redesign denn einer Firma helfen, nicht einfach unproduktive Arbeiten abzuschaffen, sondern vor allem dem Kunden Gutes zu tun?

Innovation heißt, Arbeitsmethoden zu finden, die bei geringeren Kosten den Nutzen für den Kunden erhöhen. Das können neue Ansätze für die Auftragsabwicklung sein wie bei Dell, solche für Einkauf und Bestandsmanagement wie bei Walmart, für die Produktentwicklung wie bei lBM oder für den Kundendienst wie bei Pratt & Whitney. In jedem dieser Fälle war es eine völlig neue Herangehensweise, mittels derer Abläufe, die zur Wertschöpfung nichts beitrugen, eliminiert wurden – was zu herausragender Performance führte. Diese Beispiele zeigen, dass niedrige Kosten nicht zwingend mit Abstrichen bei der Kundenzufriedenheit erkauft werden müssen. So hat der große Lebensmittelhersteller General Mills mit einem Redesign seiner Logistik erreicht, dass der Anteil der unverzüglich ausgeführten Bestellungen gestiegen ist, bei gleichzeitig sinkenden Lagerbeständen. Bisher hatte man angenommen, eine Verbesserung auf der einen Seite bedinge eine Verschlechterung auf der anderen. Indem man dies aber mit einem innovativen Prozess angeht – in diesem Fall einem, der die Produktionsplanung nicht mehr auf Absatzprognosen stützte, sondern auf die tatsächliche Nachfrage – konnte sich General Mills sozusagen den Pelz waschen, ohne nass zu werden. IBM konnte den Produktentwicklungszyklus um 75 Prozent reduzieren. Bei rund 45 Prozent niedrigeren Kosten und einer um ein Viertel höheren Zufriedenheit der Kunden mit neuen Produkten. Gegen Kosten hilft also kein Kahlschlag, sondern eine Planung, die sie gar nicht erst anfallen lässt. Wenn das gelingt, verbessern sich Geschwindigkeit und Qualität gleichermaßen. Und der Kunde ist glücklicher.

Gelingt das denn wirklich? Von der Erkenntnis, dass Zeit tatsächlich Geld ist, bis zum Umkrempeln des eigenen Managementstils ist es ein langer Weg. Eine Studie über die Einführung von Wissensmanagement in deutschen Firmen ergab, dass große Konzerne neue Prozesse, welche die persönliche Macht bestimmter Manager gefährden könnten, ziemlich behutsam angehen. Weichen Anreiz hat ein Manager, durch Optimierung seiner Geschäftsprozesse zu offenbaren, wie unproduktiv seine Abteilung bisher war?

Nennenswerte Verhesserungen bei der Performance eines Unternehmens sind zwangsläufig mit organisatorischen Umwälzungen verbunden. „No pain, no gain“, heißt es in den USA – ohne Schweiß und Schmerzen kein Preis. Prozessorientierte Neuerungen verändern stets die Rolle von Managern. Schließlich halten sich Prozesse nicht an Funktionsgrenzen. Oder, wie ein Top-Manager mal gesagt hat: „Wenn einer meiner Manager sagt, er mag keine Prozesse, heißt das nur, dass er seine Macht nicht mit jemand anderem teilen will.“ Prozesse zu verbessern, verlangt den Managern ab, dass sie lernen, miteinander zusammenzuarbeiten, und dass sie sich auf Kunden und aufs gesamte Unternehmen konzentrieren – nicht auf ihre eigene Abteilung. Deshalb ist es entscheidend, dass sich die obersten Führungskräfte selbst an die Spitze des Wandels stellen. Die ranghöchsten Manager müssen ihren Untergebenen klarmachen, dass Process Redesign von essenzieller Bedeutung fürs Unternehmen ist und dass es auf jeden Fall fortgesetzt wird. Diejenigen, die das zu blockieren versuchen, gefährden sich selbst. Allerdings sollten die Vergütungssysteme für Manager dahingehend überarbeitet werden, dass diejenigen helohnt werden, die die Performance des gesamten Prozesses und damit des ganzen Unternehmens voranbringen – nicht diejenigen, die nur an den Erfolg der eigenen Abteilung denken. Durch aktive Beteiligung, stetige Kommunikation und absolute Identifikation mit dem gemeinsamen Ziel können Vorstände ihre Manager motivieren, ihren Teil zur Veränderung der Prozesse beizutragen, selbst wenn es deren kurzfristigem Eigeninteresse scheinbar widerspricht.

Und wer soll den Anfang machen? Nicht jeder Chef erkennt sofort, was ihm die Prozessoptimierung bringt.

Generell gibt es keinen Ersatz für Führungsstärke. Einige Chefs schaffen es selbst, nicht nur ein Verständnis für den Prozess-Einsatz zu entwickeln, sondern sich auch voll dahinter zu stellen. Für gewöhnlich ist es jemand etwas weiter unten in der Hierarchie, der als Katalysator wirkt und die Unternehmensführung überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Der Katalysator muss erkläen, was Prozesse überhaupt sind. Dann muss er seine Bosse mit den Führungskräften anderer Unternehmen zusammenbringen, die mit Prozessen gute Erfahrungen gemacht haben, und manchmal muss er ein kleines Vorzeigeprojekt aufsetzen, das zeigt, class auch in seiner Firma Prozessverbesserungen funktionieren. Solch einen Katalysator findet man auf jeder Ebene der Firma, aber es muss jemand sein, dessen oberstes Anliegen das Wohl der ganzen Firma ist und der Glaubwürdigkeit genießt.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle externer Berater?

Sie können hilfreich sein, aber normalerweise nicht in die Rolle des Katalysators schlüpfen.

In der vernetzten Wirtschaft von heute müssen prozessorientierte und traditionelle Betriebe im Echtzeit-Modus miteinander arbeiten. Heißt das, dass der Vorreiter den Langsamen mitzieht? Oder diktiert der stärkere Geschäftspartner dem schwächeren, was er zu tun hat, um im Geschäft zu bleiben?

Nach meiner Erfahrung erwarten starke prozessorientierte Unternehmen früher oder später, dass ihre Zulieferer ebenfalls ihre Prozesse optimieren, und zwar nicht nur, um ihre eigene Performance zu steigern, sondern auch um die Prozesse beider Firmen miteinander zu verknüpfen. Bis dahin kann die Kundenfirma von ihren eigenen Arbeiten am Prozess profitieren, aber diese Vorteile wachsen substanziell, wenn die Prozesse über Firmen- und Funktionsgrenzen hinweg integriert werden.

Das klingt überzeugend, hat aber einen großen Nachteil – jedenfalls aus Sicht von Vorständen, die nur aufs Quartalsergebnis schielen: Die Veränderungen haben keinen unmittelbaren Effekt auf den Aktienkurs. Sie brauchen Zeit, sich zu entwickeln. Was raten Sie den Katalysatoren, die ihre Chefs überzeugen wollen, aktiv zu werden?

 

Auf diese Frage habe ich zwei Antworten.

Erstens: Prozessbasierte Veränderung ist zwar eine langfristige Anstrengung, die in der Tat Jahre braucht, doch sie kann – und muss – so gemanagt werden, dass sie schnell erste Ergebnisse zeitigt. Wenn nicht in einem Quartal, so doch in zwei oder drei. Programme, die Jahre brauchen, bis sie sich überhaupt irgendwie auszah len, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Angesichts der bevorstehenden Veränderungen werden Organisationen ängstlich, und es macht sich Zweifel breit, ob sich die versprochenen Resultate jemals einstellen werden. Unterdessen lassen sich die Führungskräfte durch andere Aufgaben ablenken. Darum ist es unabdingbar, neue Prozesse schrittweise einzuführen. Jeder einzelne dieser Schritte muss in sechs bis neun Monaten zu bewältigen sein und signifikante, vor allem auch messbare Verbesserungen des Betriebsablaufs bewirken. Mit dieser Einführungsstrategie sollten sich sogar relativ kurzfristig orientierte Führungskräfte abfinden können. So ein Programm wird, wenn man denn alles richtig macht, fast zum Selbstläufer. Die Ergebnisse der ersten Schritte bilden die Grundlage für die weiteren.

Teil zwei meiner Antwort: Wenn wir in den letzten zwei Jahren irgendetwas gelernt haben, dann ist es doch, dass die Zeit des Quartalsdenkens im Management vorüber ist. Die Fixierung auf kurzfristige Ergebnisse war schließlich, was die Skandale bei Enron, WorldCom und dem Rest möglich gemacht hat. Die Führer wirklich erfolgreicher Firmen tun das, was langfristig richtig ist, ohne den Quartalsergebnissen ungebührliche Beachtung zu schenken. Wer anderes tut, belastet den realen Wert seines Unternehmens zu Gunsten kurzfristiger und vorübergehender Vorteile mit einer schweren Hypothek.

In der Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Partnern müssen heute die Schnittstellen oft sehr aufwändig gemanagt werden. Wenn die Beteiligten ihre Daten austauschen und besser kooperieren würden, könnte viel Zeit gespart werden. Stichwort: Real-Time Management. Worauf kommt es bei der Gestaltung von unternehmensübergreifenden Prozessketten an? Wie werden Collaboration und RTE zum Erfolg?

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, ohne volle technische Unterstützung gebe es keine Verbesserungen von Geschäftsprozessen innerhalb eines Unternehmens oder über Firmengrenzen hinweg. Ganz im Gegenteil: Technik kann die Performance neuer Process Designs steigern. Diese zu implementieren, bedeutet aber keineswegs, sich der Technik untertan zu machen. Der Schlüssel zum Etablieren firmenübergreifender Prozessketten liegt darin, sich mit Geschäftspartnern – Kunden wie Lieferanten – zusammenzutun und den gesamten Prozess von vorne bis hinten zu überdenken. Wenn Informationen auf beiden Sei ten der Firmengrenze benötigt werden und es noch keine Schnittstellen zwischen den Systemen gibt, tun es zur Not auch EDI oder gelegentliche Dateiübertragungen. In Unternehmen, die ihre Abläufe verbessern müssen, soll es immer schnell gehen, und der Mangel an Schnittstellen und andere lnfrastrukturprobleme sollten nicht als Entschuldigung herhalten oder als Hindernis angesehen werden.

Keine Zukunft für Alphatiere

Michael Hammer plagt das schlechte Gewissen. Eine Lawine habe er losgetreten, meint der Autor des 1993 erschienenen Weltbestsellers „Business Reengineering“ (Auflage: über zwei Millionen Exemplare), eine Lawine von Management-Ratgebern, von denen viele der Welt besser erspart geblieben wären. Als Sühne für dieses unabsichtliche Vergehen hat Hammer wiederum ein Buch geschrieben, dessen deutsche Fassung unter dem englischen Titel“ Business back to Basics“ im Econ-Verlag erschienen ist. Darin seziert der frühere Informatik-Dozent am Massachusetts Institute of Technology die Betriebsabläufe in Unternehmen verschiedener Branchen. Hammers Kernthese: In der „Customer Economy“ ist nur erfolgreich, wer seine Geschäftsprozesse konsequent auf die Bedürfnisse der Kunden ausrichtet. Anhand konkreter Beispiele zeigt der Autor, wie sich Manager manchmal selbst oder einander im Weg stehen und wie sie mit etwas Nachdenken Qualität und Service verbessern und gleichzeitig Kosten senken können.

 

Michael Hammer

Business back to Basics

Die 9-Punkte-Strategie für den Unternehmenserfolg

Econ-Verlag, München 2002, 320 Seiten, 29 Euro, ISBN 3-430-13908-2

 

aus: Scheer Magazin 2-2003