Was OB Georg Kronawitter gegen die Attraktivität des Standorts München tat

Schatten über Technopolis

aus  highTech 4/1991

Deutschlands heimliche Technik-Hauptstadt stößt schmerzhaft an die Grenzen des Wachstums. Ungeachtet wachsender Konkurrenz durch andere Industriestandorte winkt Münchens Stadtspitze ab: Hier geht nichts mehr.

An München hängt, nach München drängt noch alles. Immer noch. Trotz des leergefegten Wohnungsmarkts. Trotz der völlig irrationalen Immobilienpreise. Trotz des allgegenwärtigen Verkehrschaos. Eigentlich kann es bei all diesen Handicaps nur einen vernünftigen Grund geben, warum sich ein intelligenter Mensch partout nicht davon abhalten lassen will, in die bayerische Landeshauptstadt zu ziehen: Irgendein Münchner Arbeitgeber ist dermaßen scharf auf ihn, dass er sich auf einen saftigen München-Bonus eingelassen hat.

Damit könnte es bald vorbei sein. Angesichts neuer Herausforderungen im europäischen Binnenmarkt oder im Osten werfen kostenbewusste Manager plötzlich eine Frage auf, die noch vor kurzer Zeit tabu war: Ist eine Niederlassung in München für ein Technikunternehmen nicht überflüssiger Luxus?

Für Joachim Benemann heißt die Antwort eindeutig ja. »In München müssen wir mindestens um zehn Prozent höhere Gehälter zahlen als in Köln«, rechnet der Geschäftsführer der Flachglas Solartechnik GmbH vor. Andere Standortnachteile der Bayernmetropole – wie die abstruse Büromiete und die große Entfernung zur Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) und zum Bundesforschungsministerium – kamen hinzu. Der Solartechnik-Chef zog die Konsequenz: Zum 31. März räumt die HighTech-Tochter der traditionsreichen Gelsenkirchener Flachglas AG ihre Dependance an der Münchner Sonnenstraße.

So sparsam wie der Kölner Kaufmann sind bis dato allerdings die wenigsten Manager. Neben der Ökonomie zählen auch andere Kriterien. »Standortentscheidungen werden längst nicht nur von rationalen Faktoren geprägt«, seufzt der Münchner Wirtschaftsgeograph Peter Gräf. Da kommt es dann schon einmal vor, dass weiche Standortfaktoren – wie etwa der Freizeitwert überbewertet werden, weil halt der Vorstand selbst lieber am Starnberger See als am Steinhuder Meer wohnt.

Mit Logik und gesundem Menschenverstand allein läßt sich das Phänomen München nicht erklären. So geht Professor Wilhelm Wimmer, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, davon aus, dass viele Abiturienten – wie einst er selbst – bereits mit der festen Absicht in die Landeshauptstadt kommen, nach dem Studium auch hier zu arbeiten. Das Potential an bedeutenden Technikkonzernen wie Siemens oder Rohde & Schwarz, BMW oder MAN, Dasa oder Deckel sowie die Vielzahl an innovativen Zulieferern und Softwarehäusern wirkt trotz überfüllter Hörsäle und Wohnheime weiterhin als Magnet auf den Ingenieur- und Informatikernachwuchs.

Durch den steten Zustrom zahlungsstarker Fachkräfte aus High-Tech- und Dienstleistungsberufen wächst die gesamte Region zu einem dichten Siedlungsbrei zusammen. Zwar geizt Oberbürgermeister Georg Kronawitter mit den verbliebenen Freiflächen und genehmigt nur noch selten größere Bauvorhaben innerhalb des Burgfriedens. Dafür sind im Umland überall, wo auch nur alle 40 Minuten eine S-Bahn fährt, 15 Mark Monatsmiete pro Quadratmeter Wohnfläche die Regel. Die reizvolle ländliche Struktur verschwindet, die Bauherren machen die Bauern reich.

Die schleichende Expansion bringt der selbsternannten Weltstadt mit Herz keine Entlastung -im Gegenteil: Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Tageseinpendler auf fast 300 000, gut die Hälfte fährt mit dem Auto. Insgesamt ist eine runde halbe Million Menschen in der Region zum zeit- und nervenaufreibenden Pendeln gezwungen. Das von BMW entwickelte Konzept »Kooperatives Verkehrsmanagement«, mit dem sich die Münchner Misere zumindest entschärfen ließe, ist jedoch im kommunalen Dickicht stecken geblieben – »aufgrund politischer Bedenken der Stadtratsmehrheit«, wie Hans-Hermann Braess, F&E-Leiter des Autokonzerns, tief enttäuscht zu Protokoll gibt.

Noch gravierender ist aber eine Entwicklung, die Münchens Image als deutsche Technologiehauptstadt nachhaltig bedroht: Die bewährte und befruchtende Mischung von Fertigungsindustrie, zentralen Forschungseinrichtungen, Handwerk und Dienstleistung löst sich rapide auf. Eine Blutauffrischung durch neue High-Tech-Unternehmen findet kaum noch statt. Statt dessen verdrängen renditestarke Versicherungen, Banken, Unternehmensberater, Werbeagenturen und Handelsgesellschaften zusehends die Produktion aus innerstädtischen Standorten.

Wer sich vergrößern will, hat schon heute in München kaum mehr eine Chance. Beim Wirtschaftsamt standen im vorigen Sommer 767 Betriebe mit einem Gesamtflächenbedarf von 383 Hektar Schlange. Doch nur ganze siebeneinhalb Hektar wurden 1989/90 als Gewerbefläche neu ausgewiesen. Um die angestammten Firmen wenigstens in der Region zu halten, versucht die IHK das Wachstum in aufnahmefähige Gemeinden Oberbayerns umzulenken. Währenddessen entstehen mehr zufällig denn nach übergeordnetem Plan Technologiezentren und Gewerbeparks in Gemeinden wie Vaterstetten, Ismaning oder Gräfelfing. Flächenintensive Unternehmen finden selbst im weiteren Umkreis kein Bauland mehr.

Eine Ansiedlung an der Peripherie hat aber immer das Odium der zweitbesten Lösung, eine Adresse »Höllriegelskreuth« auf dem Briefkopf zählt lange nicht dasselbe wie »München«. Eingemeindungen indes stehen aufgrund der parteipolitischen Konstellation nicht zur Diskussion. Damit wächst der Druck auf Stadtoberhaupt Georg Kronawitter, auch noch die letzten verfügbaren Areale schleunigst freizugeben, sei es für Gewerbe- oder Wohnzwecke.

Die Industrie- und Handelskammer ermittelte inzwischen, dass 60 Prozent der Unternehmen unter Fachkräftemangel leiden, vor allem in der HighTech-Industrie sei der Personalmarkt leergefegt. »Selbst wenn es gelingt, qualifizierte Arbeitskräfte aus weiter entfernten Regionen zu akquirieren«, klagt IHK-Chef Wimmer, »so scheitern Einstellungen immer öfter an der Verfügbarkeit von geeignetem Wohnraum.« Die Siemens AG hat sogar eine Abteilung eingerichtet, die sich ausschließlich der Beschaffung von Wohnungen für Konzernmitarbeiter widmet.

Kronawitter bleibt dennoch standhaft, erträgt tapfer Kritik von BMW-Chef Eberhard von Kuenheim, der München in eine »Provinzrolle« zurückfallen sieht, und von Bayerns Wirtschaftsminister August Lang, der seiner rot-grünen Stadtratsmehrheit »ausgeprägte Gartenzwergmentalität« bescheinigt. Stur weigert sich der »rote Schorsch«, das gesamte Gelände der sogenannten Panzerwiese mit Wohnungen zuzubauen, um wenigstens einen Teil des Ex-Militärterritoriums als grüne Lunge zu erhalten. »München gilt als Stadt mit hohem Freizeitwert und kultureller Vielfalt«, spricht der sozialdemokratische Stadtvater pro domo, »nur deshalb konnte die High-Tech-Industrie die vielen Spitzenwissenschaftler und Spitzentechniker nach München holen.« Wenn er jetzt zulasse, dass die Stadt zuwuchert, gehe die sprichwörtliche Lebensqualität verloren.

Die Schattenseiten des wirtschaftlichen Erfolgs, der München spätestens seit den Olympischen Spielen im Jahr 1972 immer heller leuchten ließ, sind jedoch schon heute nicht mehr zu übersehen. Anders als die gutverdienenden Softwaretüftler, Laserspezialisten oder Maschinenbauer können sich Angehörige des öffentlichen Dienstes diese Stadt einfach nicht mehr leisten. Staatsdiener suchen den Absprung in die Privatwirtschaft oder in die Provinz.

So kommt es, dass inzwischen

♦ Krankenhäuser ganze Stationen schließen müssen,

♦ ein nagelneuer Kindergarten nicht eröffnet werden kann,

♦ die Abfahrtzeiten der U-Bahn unberechenbar geworden sind,

♦ eine komplette Straßenbahnlinie vorläufig eingestellt wurde,

♦ die Fernmeldeämter vor Routineaufgaben kapitulieren und der Briefträger nicht überall täglich kommt,

♦ sich die Bearbeitung von Steuererklärungen extrem verzögert,

♦ Polizisten nach München zwangsversetzt werden müssen.

Dass miserable Dienstleistungen noch ein vergleichsweise harmloses Übel sind, glaubt Gerhard Richter vom Institut für Medienforschung und Urbanistik (IMU). Auf einem Stadtratshearing zu einer Studie des ifo-Instituts über die Zukunft Münchens im Europäischen Binnenmarkt warnte der Soziologe und Diplomingenieur vor den Folgen einer Monokultur von Headquarter-Funktionen – wie Forschung, Entwicklung und Verwaltung. Ohne eine starke Produktionsbasis drohe eine Polarisierung, eine Zweiklassengesellschaft: »Es kommt zu einer Art Armut im Reichtum, wenn München zu einer Metropole der Eliten wird – mit sozial und räumlich abgedrängten Randgruppen.« Mit der von Kronawitter beschworenen Lebensqualität wäre es dann auch ohne weitere Expansion der Industrie aus.

München muss auch aus einem anderen Grund die Produktionsbetriebe in der Stadt halten. »Die kleinen Technologiefirmen suchen die Nähe der Anwender«, gibt Raumkundler Gräf zu bedenken. Wie sich Ingenieurbüros und High-Tech-Zulieferer einst wegen der Nähe zu den Konzernen der Mikroelektronik, der Luft- und Raumfahrt und des Fahrzeugbaus an der Isar niederließen, werden sie ihren Kunden auch an künftige Standorte folgen.

Die Politiker, von denen gerade in München nur wenige über schwarz-rotes Parteiengezänk erhaben sind, stehen solchen Szenarien ratlos gegenüber. Während der Oberbürgermeister versucht, die Probleme mit Hilfe eines neuen Referats für Arbeit und Wirtschaft in den Griff zu bekommen, setzt die bayerische Staatsregierung darauf, andere Regionen des Freistaats von der Attraktivität Münchens profitieren zu lassen. Deshalb stellt sich Wirtschaftsminister Lang in Gegensatz zur oberbayerischen IHK, die ganz pragmatisch den Ausbau von Entwicklungsachsen von München in Richtung Ingolstadt, Bad Tölz, Augsburg und Salzburg forcieren will, und trommelt für nordbayerische Standorte: »Die High-Tech-Firmen würden in Nürnberg, Regensburg oder Würzburg mit Kusshand genommen.«

Der Konjunktiv spricht Bände: Abgesehen von Würzburg schaffte es im vorigen Herbst keine bayerische Gemeinde, vom Bundesverband junger Unternehmer (BJU) in die Top ten der wirtschaftsfreundlichsten Städte Deutschlands aufgenommen zu werden. Aachen, Braunschweig und Heidelberg hießen die drei auf dem Siegertreppchen. Die Japaner haben es wieder einmal kapiert: Mitsubishi Electric baut seine Megachipfabrik in Alsdorf bei Aachen. Die Mikroelektronik-Metropole München kam nicht einmal in die engere Wahl.

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