Sprung in der Schüssel

Wahrscheinlich stammt der Bildtext auf Seite 1 „Hunger in Somalia“ nicht auch noch von Timofey Neshitov. Aber wenn dem so wäre, könnte man dem jungen Kollegen kaum einen Vorwurf machen. Es ist zwar gut zu sehen, dass man in dieser Waschschüssel nun wirklich kein Kind mehr baden kann, nicht einmal notdürftig. Bei dem Pensum, das der sehr gut (auch an der DJS) ausgebildete Neshitov gestern wegzuschaffen hatte, wäre aber unmöglich mehr drin gewesen, als die unbeholfen getextete Caption (eingebetteter Agenturtext) der Associated-Press-Fotoreporterin Rebecca Blackwell flugs sinngemäß zu übersetzen und mit einem Verweis auf seinen Text auf Seite 7 zu versehen. Neben diesem

❏ Dreispalter fürs Ausland zum Hunger in Kenia (dort ist das überfüllte Lager, in dem die geflüchteten Somalier darben), verfasste er einen

❏ Vierspalter fürs Panorama zum Schiffsuntergang auf der Wolga – das konnte nur jemand machen, der Russisch kann -, und dann stammt auch noch die

❏ Übersetzung der „Außenansicht“ aus dem Russischen von ihm.

Letztere kann (oder: wird natürlich) vorproduziert gewesen sein. Aber auch zwei thematisch und geographisch so weit voneinander entfernte Stücke sind noch heftig genug für die paar Stunden vor Redaktionsschluss. Jedenfalls wenn man es gut machen und nicht nur den Agenturtext übernehmen will.

Wozu führt der Produktionsdruck? Zu Texten, denen man die heiße Nadel ansieht.

So kenterte die Bulgaria nicht an irgendeiner Stelle der Wolga, wo der Fluss „am breitesten ist und am tiefsten“, sondern auf dem Kuibyschewer Stausee. Das Schiff hat, wie auf dem Foto klar erkennbar ist, auch keine „Bullaugen“, denn die wären rund, sondern Fenster.

Die Kinder ertranken nicht in einem „Konzertsaal“, so groß war das Boot denn doch nicht, sondern in einem Raum, in dem sie, wie es aussieht, bei Musikuntermalung (eher vom Band als von einer Band) spielen konnten. Und wenn 208 Personen – nicht alles Passagiere, sondern inklusive Besatzung – an Bord waren und das Schiff „für höchstens 140 Fahrgäste ausgelegt“ war, haben sich dort auch nicht, wie in der Bildzeile steht, „doppelt so viele Passagiere aufgehalten wie erlaubt“.

In den UNHCR-Lagern bei Dadaab wiederum sind es die Ärzte ohne Grenzen, die sich um Kinder wie Aden Salaad kümmern. Das hätte man würdigen können. Aber wer sagt, dass dort wirklich „jeden Tag mehr als 3000 weitere Flüchtlinge“ ankommen? Falls das nämlich stimmen sollte, würde es vor dem Hintergrund der Zahlen bei den Médécins sans Frontières bedeuten, dass täglich 2000 Menschen dort sterben oder weiterziehen. So berichtete die Hilfsorganisation vor einem Monat, dass 350.000 Flüchtlinge dort leben. Jetzt sollen es 380.000 sein. Bis Jahresende gingen Ärzte und UNHCR von 450.000 aus, also einem Zustrom von 100.000 Menschen in etwa 200 Tagen, macht netto 500 am Tag.

Wenn die 3000 nicht aus der Luft gegriffen sind, kann das zweierlei heißen: Entweder hat sich der Andrang seit Juni noch einmal dramatisch verschärft. Dann würde das Lager, wenn es – wie die Formulierung „jeden Tag mehr als“ suggeriert – so weitergeht, bis Jahresende um eine halbe Million Menschen wachsen, also die Bevölkerung sich mehr als verdoppeln. Oder es ist eben so, dass nur ein Bruchteil der Flüchtlinge dort bleibt beziehungsweise überlebt. Wenn Sie nicht überleben, ist DAS die Nachricht und nicht der Besuch eines Kommissars. Falls sie weiterziehen können: Wohin gehen sie? Und warum schaffen das die einen – und die anderen nicht?

So ergeben sich die entscheidenden Recherchefragen eben manchmal erst dann, wenn man anfängt, nachzurechnen.

Ein Verleger, der diesen Namen verdient, gibt seinen Redakteuren und Newsdesk-Pauschalisten dafür genug Zeit.

Tut er es nicht, hat er einen Sprung in der Schüssel.

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