Das Märchen vom Geldverdienen mit Online-Essen

Mehr als 15 Jahre ist es her, dass ich das erste Mal über den LEOH geschrieben habe, den Lebensmittel-Onlinehandel. Schon damals konnte man haltbare Spezialitäten – etwa Kaffee, Tee, Gewürze – im Internet bestellen. Was nie richtig ans Laufen kam, waren Vollsortiments-Angebote. Wer sich im LEH (Lebensmittel-Einzelhandel) auch nur ein bisschen auskennt, weiß: Im Netz lässt sich ein normaler Supermarkt nicht mit vertretbarem Aufwand 1:1 abbilden. Das Sortiment an industriell konfektionierten Markenartikeln mag zwar leicht zu handhaben sein, der USP jedes guten Ladens ist jedoch seine abwechslungsreiche Auswahl an frischen Produkten, die entweder nach Marktlage zu Tagespreisen eingekauft werden wie Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch, oder den regionalen Vorlieben angepasst sein müssen wie das Käsesortiment oder Brot und Kuchen von regionalen Bäckereien. Selbst wenn diese nur 20 Prozent des Umsatzes beisteuern, verursachen sie gewiss mehr als 80 Prozent des Aufwands für die Pflege der Produktdatenbank.

Vor allem ist bei Frischware Out-of-Stock keine Seltenheit: Wenn Kopfsalat aus ist oder nur noch ein paar welke Exemplare in der Kiste gammeln, kommt frühestens am nächsten Morgen Nachschub. Der Präsenzkunde greift in so einem Fall vielleicht zur Endivie oder zum Eisbergsalat, achtet aber auch dabei auf Frische, Größe und Preis. Der Onlinekunde kann nicht wissen, ob er überhaupt den Salat bekommt, den ihm der Markt mit einem perfekten Symbolfoto schmackhaft gemacht hat. Das Warenwirtschaftssystem, das zwischen ihm und der Ware vermittelt, kennt nun einmal nicht den Zustand der noch nicht abverkauften Salatköpfe und sieht nicht, ob die Bananen grasgrün, schön gelb oder braungesprenkelt sind. Kommt die Lieferung nicht aus einem Logistikzentrum, sondern aus einem normalen Supermarkt mit Publikumsverkehr, kann auch jedes abgepackte Frischprodukt vergriffen sein. Welche der acht Sorten Milch oder 30 Sorten Jogurt soll es dann sein?

Aus diesem Grund begnügen sich Supermärkte – auch dann, wenn sie so tun, als böten sie ein Vollsortiment an – im Netz grundsätzlich mit einer geringeren Sortimentsbreite und -tiefe als in ihren Filialen. Nur lagerfähige Schnelldreher, die das Kernsortiment bilden und deshalb ständig hinreichend bevorratet sind, dürfen in den Onlineshop.

Das erkläre man mal meinen Kollegen, die zwar über diese Thematik schreiben, sich ihr Branchenwissen aber nicht als mitdenkende Verbraucher oder mittels eigener Handelserfahrung angeeignet haben, sondern in Gesprächen mit Managern und Unternehmensberatern. Sprich: die wiedergeben, was jene sich am grünen Tisch ausgedacht haben, um den LEOH endlich aus der Nische zu holen. 

Das jüngste Beispiel für diese Art von theoretischer Abhandlung lieferte gerade das Handelsblatt. Der Autor verwischt dabei die Grenze zwischen dem LEOH insgesamt und einer relativ jungen Nischenerscheinung, die bei einer bestimmten großstädtischen Klientel gut anzukommen scheint: Kochboxen oder Menüpakete, in denen alle Zutaten eines vorgebenen Rezepts für die ausgewählte Zahl an Essern vorportioniert geliefert werden. Dabei bastelt er sich einen Kontext für gewagte Zahlenspiele um das Marktpotential. So wolle Rewes Lieferdienst laut Firmenchef Alain Caparros in drei Jahren 800 Millionen Euro Umsatz erreichen, ausgehend von 25 Millionen Euro anno 2014 (harte Zahl) bzw. 100 Millionen 2016 (grobe Schätzung). Was fehlt, ist eine auch nur ungefähre Angabe, welchen Anteil die trendigen Kochen-nach-Zahlen-Fresspakete für die urbanen Herd-Dilettanten denn bitte zu diesem größtspurig verkündeten Zielumsatz beisteuern sollen. Statt dessen wird ein Unternehmensberater zitiert, der sich vermutlich Aufträge in diesem Umfeld erhofft und deshalb die Hypothese vom Wachstumsmarkt stützen muss:

„Dass weitere Spieler nachziehen, halte ich für sehr wahrscheinlich. Es kann sich keiner leisten, nicht in diesen Bereich zu gehen.“

Leider besticht das Zitat nicht durch logische Stringenz. Eine Marktnische lässt nur einer begrenzten Anzahl von Marktteilnehmern Raum. Wenn jeder der jüngsten Dorfsau nachrennt, verdient keiner Geld. Vom Mainstream ist das alles noch weit entfernt.

Skepsis und professionelle Distanz sind aber Sache unseres Handelsblatt-Kollegen nicht. Als Beleg dafür, dass es sich bei den Kochboxen um ein dickes Ding handelt, verweist er auf die Übernahme des notleidenden Berliner Startups Kochzauber (an dem sich schon die Otto-Gruppe die Finger verbrannt hatte) durch Lidl im November 2015 und bejubelt angebliche neue Perspektiven für Edeka:

„Der Marktführer sicherte sich mit der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann auch deren Lieferservice Bringmeister.“

Leute, Leute, Bringmeister war sicherlich nicht der Grund, weshalb sich Edeka Tengelmann geschnappt hat. Der Lieferdienst ist nur in Berlin und München aktiv und bietet auch keine Selbstkochmenüs an.

Munter theoretisiert unser Kollege weiter:

„Die Verknüpfung von Rezeptvorschlägen, Zutateneinkauf und Lieferservice bringt dem Kunden einen Mehrwert, der ihn an den Händler bindet. Er kann beim Kunden Bestandteil der Küche werden, letztlich sogar dessen Vorratsschrank managen.“

Beide Sätze sind unsinnig – unabhängig voneinander und erst recht im Kontext. Kochrezepte als Kundenservice sind nichts Neues; Kaufland macht das zum Beispiel seit vielen Jahren. Rezepte im Verbund mit küchenfertig konfektionierten Zutaten wiederum „binden“ den Kunden bestenfalls an den Lieferdienst, aber nicht an die Supermarktkette, der dieser gehört. Ein typisches Kochbox-Angebot ist auf drei Tage pro Woche ausgelegt; daran, wo sich der Verbraucher für die anderen vier Tage eindeckt, ändert sich durch den Bezug der Pakete nichts. Ohnehin heißt der Lieferdienst anders als der Supermarkt.

Dass „er“ – damit dürfte der Händler, nicht der Mehrwert gemeint sein – den Vorratsschrank des Kunden „managen“ soll, ist einfach nur realitätsfern, denn dazu müsste er erstens Exklusivlieferant sein (was der Lebenserfahrung widerspricht; Normalverbraucher shoppen promiskuitiv) und zweitens eine Warenwirtschafts-App anbieten, die bis dato aus gutem Grund niemand entwickelt hat.

„Doch aktuell hecheln die Händler der Start-up-Konkurrenz hinterher.“

Soso. Das hieße, dass die Startups ernsthafte Konkurrenten wären und dass sie rennen. Dabei stolpern sie herum und verbrennen das Geld ihrer Investoren.

Bezogen auf den größten (Samwer’schen) Kochboxdienst wird der Unternehmensberater zitiert:

„Durch die einzeln verpackten Zutaten habe Hello-Fresh Nachteile in puncto Nachhaltigkeit.“

Was für ein Quatsch! Wer sich Portionsbeutel kommen lässt, interessiert sich nicht für Nachhaltigkeit. Wer sich für Nachhaltigkeit interessiert, bestellt keine Portionsbeutel. Das sind zwei völlig konträre Zielgruppen: hedonistische Yuppies und LoHaS.

„Zudem können die Supermärkte eine viel größere Auswahl an Produkten zu einem geringeren Preis anbieten, weil sie größere Mengen einkaufen.“

Wovon reden wir hier? Von Leuten, die für Zutaten zum Selberkochen fast soviel ausgeben wie für die tischfertige Bringpizza. In Deutschland kostet eine Hellofresh-Portion 6,67 Euro, in den USA 9,99 Dollar. Ums Sparen geht es da nicht. Die Besteller wollen auch keine große Auswahl, sondern zahlen dafür, dass andere ihnen das Denken abnehmen – hier also die Entscheidung, was es zu essen gibt.

„Zwar können die Supermärkte auch online nur vollständige Einheiten verkaufen. Aber auch dieses Problem…“

Problem?

„…lässt sich lösen…: „Der nächste Schritt für die Supermärkte liegt in intelligenten Systemen.“ Sie könnten den Kunden dabei helfen, den Einkauf optimal in der Küche zu nutzen und beispielsweise Rezepte längerfristig zu planen. Auch die Verknüpfung des Einkaufs mit bestimmten Ernährungsplänen wird damit möglich.“

Dass Menschen so überorganisiert und spontaneitätsphobisch sind, dass sie längerfristig planen, wann sie was essen, ist so außergewöhnlich, dass mal jemand eine Reportage über so eine Familie geschrieben hat. Ein Geschäftsmodell würde ich daraus eher nicht ableiten.

„Fest steht: Das Thema Onlinehandel wird für den Lebensmittelhandel in der Zukunft wichtiger. Zwar machte 2015 der Onlinehandel nur ein Prozent am gesamten Lebensmittelhandel aus…“

Fest steht? Kann man ja mal behaupten in einer Ära, in der alternative Fakten selbst in Regierungskreisen hoffähig werden. Nichtalternatives Faktum ist: LEOH macht nur ein Prozent am LEH aus, und da sind schon all die haltbaren Feinkostprodukte der Spezialitätenversender mit drin. Meines Wissens zählt sogar Wein zu der Kategorie.

„Aber die Margen sind so gering, dass die Geschäfte auf jeden Artikel angewiesen sind, der Umsatz und Gewinn bringt.“

Nicht Umsatz zählt, nur Gewinn! Und den macht im Netz bisher keine deutsche Supermarktkette. Und erst recht kein Kochboxversender. Bricht man den Umsatz des Marktführers Hellofresh auf den Mindestpreis des Abos herunter, kommt man grosso modo auf deutlich weniger als eine halbe Million Menschen oder gut 200.000 Haushalte, die sich in einer beliebigen Woche beliefern lassen – nicht etwa alle in Deutschland, sondern in sieben Ländern einschließlich USA, so dass die einzelnen Standorte wenige Zigtausend Mahlzeiten pro Tag verpacken. Pro Euro Umsatz macht das Unternehmen 18 Cents Miese. Die Wikipedia schreibt dazu etwas Lustiges:

„Auch im ersten Quartal 2016 gelang es, den Umsatz und den Verlust zu vervielfachen.“

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