Weltweite Multimedianetze revolutionieren Arbeit und Freizeit. In den USA und Großbritannien fiel bereits der Startschuß.
AI Gore hatte nie viele Freunde in der Industrie. Das änderte sich schlagartig, als der einstige US-Senator an der Seite von Bill Clinton in den Wahlkampf zog. Mit seinem Rezept für eine Datenautobahn, ein weiträumiges Netz von Rennpisten für digitale Informationen aller Art, machte er der High-Tech-Elite des Landes den Mund wäßrig. Heute, nur ein Jahr später, sind viele Industriebosse schwer enttäuscht von dem grünen Vize: Den schönen Worten sind keine Taten gefolgt.
Gore, der zu diesem Thema neben einer Regierungskommission bisher nicht viel Konkretes vorweisen kann, scheint die Kritik allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken. Im Gegenteil: Der Chefintellektuelle der demokratischen Partei legt es geradezu darauf an, daß die Industrie beim Aufbau der „nationalen Informationsinfrastruktur“ dem Staat die Initiative abnimmt.
Für die Wirtschaft – und das gilt für alle Industriestaaten – gibt es Gründe genug, das elektronische Wegenetz des globalen Dorfs von morgen mitzugestalten. Experten vergleichen den langfristigen Einfluß der neuen Technik auf die Gesellschaft bereits mit dem des Fernstraßenbaus in Deutschland nach dem Krieg.
So wird sich in der neuen, von der Informationstechnik bestimmten Welt nicht nur das Konsumverhalten der privaten Verbraucher wandeln. Auch viele Arbeitsabläufe werden sich dramatisch verändern.
Die Innovationen sind wie geschaffen für Gehbehinderte, Automuffel und notorische Stubenhocker. Unter anderem wird es im Jahre 2000 möglich sein, mittels fernsehtauglichem Personalcomputer, Telefon und Modem einen Film aus einer Videodatenbank ins Pantoffelkino zu zaubern, Waren zu bestellen, sich an interaktiven Fortbildungskursen zu beteiligen und vom heimischen Arbeitszimmer aus an einer Telekonferenz mit Kollegen und Geschäftspartnern teilzunehmen.
Die Infrastruktur – von Kabelfemsehnetzen über das Datenkommunikationssystem Internet bis zum Supercomputerverbund der National Science Foundation (NSFnet) – steht bereits zum Teil.
Europa, heute noch besser mit Hochleistungsnetzen bestückt als die USA, dürfte von den Staaten in dem Rennen um die Datenautobahn in den kommenden Jahren überholt werden. Auf dem alten Kontinent geht erst 1998 die Ära der staatlichen Fernmeldemonopole endgültig zu Ende – nach Ansicht von Experten um Jahre zu spät.
„Europa müßte den Telekommunikationsmarkt so schnell wie möglich liberalisieren“, so Gerhard Sundt von der Frankfurter Unternehmensberatung Gartner Group GmbH. Dann erst könnten sich schlagkräftige paneuropäische Allianzen formieren, die in der Lage wären, den Kontinent flächendeckend mit Multimediarennstrecken zu überziehen. Das neue Zweckbündnis zwischen France Telecom und ihrem Bonner Pendant Deutsche Bundespost Telekom erscheint Sundt dafür nicht potent genug.
Während Telekom-Chef Helmut Ricke noch Jahre warten muß, bis er seinem Unternehmen an der Börse Kapital für Investitionen besorgen darf, hat die Vision vom grenzenlosen Informationsverkehr an der New Yorker Wall Street bereits einen Goldrausch ausgelöst. Spekulanten – selbst eifrige Nutzer schneller Datennetze – jagen die Aktien potentieller Profiteure des Multimediarausches auf Rekordniveau. Besonders hoch im Kurs stehen die „Baby-Bells“, jene sieben regionalen Telekom-Netzbetreiber, die bei der Deregulierung des US-Telefonmarktes vor zehn Jahren aus dem Bell-System (heute AT&T Corp.) herausgelöst worden waren.
Am schärfsten beäugt wird derzeit die Bell Atlantic Corp. in Philadelphia. Denn Atlantic-Kapitän Raymond Smith hat im Oktober das Aufgebot für eine Elefantenhochzeit bestellt: Das Riesenbaby von der Ostküste (Jahresumsatz: 12,6 Milliarden Dollar) hat sich einen Kabelfernsehjumbo angelacht. Die beantragte Fusion mit der Tele-Communications Inc. (TCI), deren Wert auf 13,2 Milliarden Dollar taxiert wird, hat gute Chancen, im Guinness-Buch der Rekorde zu landen. Der Kaufpreis liegt bei umgerechnet 50 Milliarden Mark. Selbst Alfred Sikes, unter US-Präsident Ronald Reagan Chairman der Telecom-Kontrollbehörde FCC und heute Technologiechef des Verlagshauses Hearst in New York, schwärmt schon jetzt vom „Deal des Jahrhunderts“.
Der von langer Hand geplante Coup verändert die amerikanische Telekommunikationsindustrie grundlegend. So macht erstmals eines der Baby-Bells seinen Schwestern vor der eigenen Haustür Konkurrenz: Über die Fernsehkabel des Marktführers TCI will Smith auch Telefongespräche, Faxe und Daten übertragen. Das spült zusätzliche Dollar in die Kassen und bedeutet für über zehn Millionen Haushalte in 49 Bundesstaaten den Einstieg in die Multimedia-Ära. Während die europäische Telekom-Industrie bei diesem Thema fast ausschließlich professionelle Anwender im Visier hat, vertraut Smith dabei voll auf Computersimulation den Massenmarkt, Stichwort Video-on-Demand: Aus einer elektronischen Videothek kann der Benutzer per Fernbedienung fast jeden beliebigen Film bestellen.
Innerhalb der Europäischen Union sind derartige Ansätze bisher nur auf dem liberalisierten britischen Markt zu beobachten. Dort testen mehrere amerikanische Anbieter neue Kommunikationsangebote – selbst solche, die es nicht einmal in den Vereinigten Staaten gibt. So beliefert Videotron Corp., eine Tochter der kanadischen Telekom-Holding BCE, von London aus eine halbe Million Teilnehmer mit ihrem Zweiwegfernsehen Videoway. Es ermöglicht das Einkaufen am heimischen Bildschirm, interaktive Computerspiele und Sportübertragungen, bei denen der Zuschauer per Fernbedienung selbst Regie führen kann. Die Monatsgebühr von etwa 80 Mark ist keine Hürde, weil man über dieselbe Leitung billig telefonieren kann.
Auch in Manchester, Liverpool und Birmingham werden die Straßen für neue Kabel aufgerissen. Mit Southwestern Bell, US West und Nynex tummeln sich dort gleich drei Baby-Bells. Insgesamt wollen die Anbieter binnen drei Jahren zwei Milliarden Dollar in den Ausbau der Technik stecken. Weitere zehn Milliarden Dollar sind angepeilt.
Europäischer Vorreiter ist Großbritannien auch bei der Telearbeit: Gartner-Mann Sundt schätzt, daß dort jeder fünfte Arbeitnehmer – zumindest gelegentlich – daheim am Computer arbeitet; die Hälfte davon kann bereits per Modem mit dem Büro kommunizieren. „Der Produktivitätszuwachs ist erheblich“, hat Sundt beobachtet, „denn die 75 Minuten, die der Pendler pro Tag durchschnittlich im Auto verbringt, nutzt er lieber produktiv für den Arbeitgeber.“
Die britische Marktforschungsgesellschaft Ovum Ltd. sagt denn auch einen anhaltenden Boom der elektronischen Heimarbeit voraus: Die Zahl der festen Tele-Arbeitsplätze in Europa und Nordamerika soll von heute 600.000 auf 5,3 Millionen im Jahr 1997 und 11,7 Millionen im Jahr 2000 steigen. Das jährliche Geschäft mit Hardware, Software und Gebühren explodiert laut Ovum in den kommenden sechs Jahren von 2 auf 33 Milliarden Dollar.
Den Bewohnern von Telluride im US-Bundesstaat Colorado machen derlei Prognosen Angst: Seit US West einen Internet-Anschluß für Fernarbeiter in ihr stilles Bergdorf gelegt hat, befürchten sie einen massiven Zuzug aus der Stadt.
Viele Wissenschaftler, Ingenieure und Computerspezialisten arbeiten via Internet bereits heute in virtuellen Teams weltweit zusammen. Softwareprogrammierer in Indien oder Osteuropa sind so mit ihren Auftraggebern in Deutschland oder den USA elektronisch vernetzt. Selbst das abgelegenste Dorf wird so direkter Nachbar von Berlin, Tokio und New York.
Ulf J. Froitzheim