Aufstand der Zwerge

Mikrosysteme stehen vor der Markteinführung. Deutsche Unternehmen und Forscher liegen gut im Rennen.

Mit bloßem Auge betrachtet, sehen die Krümel aus wie Fliegendreck. Doch Wolfgang Ehrfeld hält in seinen Händen wahre Kleinode: Ultrakleine Mikroturbinen, die erst unter einem hochauflösenden Mikroskop ihre wahre Gestalt offenbaren. Solcherart Mikrosysteme, da ist sich der Geschäftsführer des Instituts für Mikrotechnik Mainz (IMM) sicher, verändern die industrielle Welt ein weiteres Mal von Grund auf: „Von den meisten Anwendungen haben wir heute noch gar keine Vorstellung.“

WirtschaftsWoche 44/1993

Was bis vor kurzem noch wie Science-fiction anmutete – Kleinstroboter, die selbständig Maschinen reparieren, in Blutgefäßen Verkalkungen abtragen oder mit Mikrosensoren ausgestattete selbstnavigierende Fahrzeuge -, wird in den Labors von Mainz bis Madinson/Wisconsin, von Tübingen bis Tokio langsam, aber sicher Realität. In Glasfasernetzen und medizinischen Apparaturen, aber auch in Allerweltsartikeln wie Tintenstrahldruckern und Airbags werden Mikrokomponenten bereits eingesetzt.

Deutsche Unternehmen und Forscher mischen bei dieser vielversprechenden Zukunftstechnik ganz vorne mit, sind in Teilbereichen sogar führend. Der Berliner Fraunhofer-Professor Anton Heuberger und der Münchner Daimler-Forscher Walter Kroy sind zwei der bekanntesten Pioniere der Silizium-Mikrotechnik. Das neuere und flexiblere Liga-Verfahren, mit dem Kleinstteile auch aus Metall, Keramik oder Kunststoff gefertigt werden können, hat IMM-Leiter Wolfgang Ehrfeld in den achtziger Jahren am Kernforschungszentrum Karlsruhe (KfK) entwickelt. Und die Dortmunder Micro-Parts GmbH – ein Joint Venture der Konzerne Steag, Krupp/Hoesch, Hüls, Rheinmetall und VEW – gilt als weltweit einziges Unternehmen, das die Großserienfertigung von mikromechanischen Systemen beherrscht: Das Team um Geschäftsführer Reiner Wechsung kann in einem Arbeitsgang 120.000 mikroskopisch kleine Zahnräder herstellen. „Bei der Grundlagenforschung und ersten Produkten liegen wir wohl vor den USA und Japan.“ Rainer Günzler vom Institut für Mikro- und Informationstechnik (Imit) der Villinger Hahn-Schickard-Gesellschaft bestätigt den Vorsprung der Europäer, schränkt aber ein: „Bei den Patenten sind die Japaner eindeutig vorn.“ Günzler muß es wissen: Sein vom Land Baden-Württemberg gefördertes Institut hilft mittelständischen Feinmechanik-Fabrikanten beim Einstieg in die Mikrotechnik und beobachtet deshalb akribisch die einschlägigen Aktivitäten im In- und Ausland.

Eine zuverlässige Analyse des künftigen Mikrotechnik-Weltmarkts kann jedoch auch das Imit nicht bieten. Selbst professionelle Marktbeobachter stochern im Nebel. Die Market Intelligence Research Corp. (Mir) aus Mountain View im Silicon Valley sagte im vorigen Herbst voraus, daß der weltweite Umsatz mit Mikrosystemen und Mikrostrukturen schon 1995 die Marke von drei Milliarden Dollar passieren werde; im Frühjahr korrigierte Mirc die Summe dann auf 2,9 Milliarden Dollar – und das Jahr auf 1998.

Widersprüchliches auch beim Battelle Memorial Institute: Hatte dessen inzwischen geschlossene Frankfurter Filiale vor Jahresfrist für das Jahr 2000 ein Marktvolumen von 20 Milliarden Mark prophezeit, erwartet Battelle Europe inzwischen nur noch einen Umsatz von acht Milliarden Dollar in diesem Markt zur Jahrtausendwende.

Sollten hingegen die kühnen Annahmen stimmen, auf die das Bundesforschungsministerium den Entwurf seines zweiten Förderprogramms Mikrosystemtechnik (Laufzeit: 1994-1999) stützt, müßte der zu erwartende Weltmarkt viel größer sein: Volle vier Prozent des Verkaufspreises sollen bei den Autos des Baujahrs 2000 auf Mikrokomponenten entfallen. Das wären selbst bei schlechtester Konjunktur mehr als 20 Milliarden Mark. Allein in Europa sollen dann Mikrosysteme im Wert von 3,6 Milliarden Mark in Telekommunikationsanlagen eingebaut werden.

Die als besonders vielversprechendes Anwendungsgebiet geltende Medizin- und Pharmatechnik erwähnt der BMFT-Entwurf in diesem Zusammenhang nicht einmal. Einig sind sich die Auguren nur in einem Punkt: daß sich ein weiterer Technologie-Wettlauf zwischen Europa, Japan und den USA anbahnt – mit noch offenem Ausgang.

Alle drei Seiten sind bereit zu investieren. In den Vereinigten Staaten hat sich die Forschungsbehörde Arpa (Advanced Research Projects Agency) des Themas angenommen. Arpa-Manager Kaigham J. Gabriel, selbst ehemaliger Mikrotechniker, darf in drei Jahren 24 Millionen Dollar als Starthilfe (Seed Capital) an Unternehmensgründer auszahlen.

In Japan steht das Micromachine Center (MCC) in Tokio im Mittelpunkt der Mikromaschinen-Entwicklung, an der sich so illustre Firmen wie Fanuc, Hitachi, Kawasaki, Matsushita, Mitsubishi, Seiko oder Toshiba beteiligen, 25 Milliarden Yen (387 Millionen Mark) bewilligte das Industrieministerium Miti 1991 für ein Zehnjahresprogramm, das als konkrete Aufgabenstellung den gemeinsamen Bau eines millimetergroßen, autonomen Blutgefäß-Schrubbers zum Ziel hat.

Ein solches gemeinsames Leitmotiv fehlt beim deutschen Programm für Mikrosystemtechnik, dessen erster Teil Ende des Jahres ausläuft. So verzettelten sich die Bonner Bürokraten während der vergangenen drei Jahre in nicht weniger als 31 (Japan: fünf) Verbundprojekten mit 224 Teilvorhaben, deren 148-Millionen-Mark-Budget je zur Hälfte Industriebetrieben und Forschungseinrichtungen zugute kam. Selbst das volle Dutzend involvierter Fraunhofer-Institute forscht weitgehend unkoordiniert. So gehören nur vier dem paneuropäischen Mikrotechnik-Elitezirkel Nexus an, den Heubergers Berliner Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie (Isit) betreut.

Während sich das BMFT jetzt anschickt, die mit voraussichtlich 400 Millionen Mark dotierte zweite Förderrunde einzuläuten, kämpft Liga-Erfinder Wolfgang Ehrfeld lieber auf eigene Faust. Als Gründer des von Rheinland-Pfalz getragenen IMM will der Ex-KfK-Mitarbeiter zeigen, wie effizient deutsche Forschung sein kann.

„Ich wünsche mir mehr Konkurrenz in der Forschung und Entwicklung“, provoziert Ehrfeld betuliche Ministerialtechnokraten, „nur dadurch werden jene Reserven mobilisiert, die zur Innovation führen.“

So stampfte der ehrgeizige Professor, unterstützt vom rheinland-pfälzischen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, binnen zwei Jahren eine komplett ausgestattete Denkfabrik aus dem Boden – überwiegend mit neuwertigem Secondhand-Equipment bestückt. Seither wuchs das IMM auf 100 Mitarbeiter, finanziert sich bereits zu einem Viertel aus Industrieaufträgen und gilt neben MicroParts als die wichtigste Adresse in der Liga-Technik. Das Mainzer Team begnügt sich nicht mit Anwendungen in den Branchen Telekommunikation, Medizin, Pharma, Auto, sondern widmet sich auch der Verbesserung der Fertigungstechnik und der dazugehörigen Geräteentwicklung.

Gemeinsam mit der Lothar-Späth-Firma Jenoptik in Jena entwickelte das IMM einen Präzisionsscanner für die tiefenlithographische Herstellung der winzigen Förmchen, die man für die Massenproduktion von Liga-Mikroteilen braucht. Da es ein vergleichbares Gerät auf dem Weltmarkt nicht gibt, liegen bereits Anfragen und Bestellungen aus Europa, den Vereinigten Staaten und Fernost vor.

Vor soviel High-Tech freilich schrecken alteingesessene Unternehmer vielfach zurück, selbst wenn die Innovationen schon bald unmittelbare Auswirkungen auf ihr Geschäft haben werden. Im Maschinenbau, so schätzt das BMFT, werden 60 Prozent der Firmen auf den Einsatz von Mikrosystem-Komponenten angewiesen sein. Doch nur funf Prozent der Unternehmen würden solche Produkte selbst entwickeln.

Viel Überzeugungsarbeit müssen denn auch die Mitarbeiter des Imit in Villingen leisten, das als FuE-Dienstleister etwa den traditionellen Schwarzwälder Feinwerktechnik-Betrieben den
Weg in die Zukunft bahnen soll. Seufzt Rainer Günzler: „Es ist nicht einfach, den Chef eines kleineren Unternehmens zu überzeugen, daß er gerade in der Rezessionsphase in neue Dinge investieren soll.“

Ulf J. Froitzheim

AUFTRAGSFORSCHUNG: Innovation als Dienstleistung

„Forschung und Entwicklung“ war das Motto des highTech-Specials in der WiWo 31/1992, das – wie damals alle diese Specials – extern vom Münchner Redaktionsbüro „Editor Network“ produziert wurde. Dessen Inhaber waren die vormaligen Chefredakteure des Magazins highTech, Fritz Bräuninger und Manfred Hasenbeck – und das Netzwerk dieser Editoren waren wir, die früheren Redakteure und Autoren von highTech. Mein Beitrag zum Thema F&E: die Rolle der „Fraunhoferei“ in der industriellen Forschung.

WirtschaftsWoche 31/1992

 

Im Hintertreffen

Vielen Unternehmen reichen die eigenen F&E-Kapazitäten nicht aus. Selbst Weltkonzerne kaufen Kompetenz von außen.

Gemessen an dem elitären Image, das sein Imperium in weiten Teilen der Wirtschaft genießt, klingt Max Syrbes Selbsteinschätzung überraschend nüchtern. „Wir verstehen uns primär als Dienstleister, als ein Unternehmen, das sich nach der Nachfrage aus dem Markt ausrichtet“, reiht der Münchner Manager seinen bundesweit tätigen Konzern bescheiden zwischen Zeitarbeitsfirmen, Steuerkanzleien und Gebäudereinigern ein. Ganz so alltäglich ist dessen Serviceangebot freilich nicht: Syrbe ist Professor und Präsident der gemeinnützigen Fraunhofer-Gesellschaft (FhG). Die Produkte, die erunterdie Leute bringen will, heißen Technologie, Innovation und Fortschritt.

Die Tiefstapelei des FhG-Chefs entspringt keineswegs einem Hang zur Koketterie. Im Gegenteil: Der Forschungsmanager, Chef von 46 über ganz Deutschland verstreuten Instituten der verschiedensten Fachrichtungen, bemüht sich seit jeher, bei seiner Zielgruppe Berührungsängste abzubauen. Wenn die Geschäftsführer vieler kleiner Unternehmen angesichts der Namen prominenter Fraunhofer-Professoren wie Günter Spur, Hans-Jürgen Warnecke oder Ingolf Ruge immer noch in Ehrfurcht erstarren, ist das gewiß nicht Syrbes Absicht. Denn gerade für Mittelständler mit mageren Forschungs- und Entwicklungsetats, so sein Credo, sei die Nutzung externer Kapazitäten „überlebenswichtig“.

Eine große Auswahl an dafür geeigneten Instituten steht den kooperationswilligen Unternehmern in Deutschland allerdings nicht zur Verfügung. Die Fraunhoferei, wie der halbstaatliche technologische Gemischtwarenladen im internen Sprachgebrauch flapsig genannt wird, bietet ihren Kunden nämlich unter dem Strich so günstige Konditionen, daß sich privatwirtschaftlich organisierte Institute fast nur in Nischen etablieren konnten – etwa in der klinischen Pharmaforschung. „AUFTRAGSFORSCHUNG: Innovation als Dienstleistung“ weiterlesen