Squids: Frostige Fühler

In der Nach-Wende-Zeit gab es die WirtschaftsWoche eine Weile in zwei Versionen – der dicken, 4,50 Mark teuren Westausgabe und dem dünnen Ost-Ableger für 2 Mark. Diese Story über supraleitende Materialien in der Sensorik erschien im Januar 1993 beiderseits des Grünstreifens, an dem man nun den Ex-Zonenrand erkannte.

 

Sensible Sensoren empfangen selbst extrem schwache Magnetfelder aus dem Gehirn.

Mit einer bösen Überraschung endete für zwei Teilnehmer das Statusseminar Supraleitung. Sie erwiesen sich als reif für den Internisten. Die beiden hatten, wie 60 andere, bei einem medizinischen Test mitgemacht, und dabei war herausgekommen, daß sie an bis dahin unentdeckten Herzrhythmusstörungen litten.

Ein eindrucksvolleres Resultat hätte sich Professor Christoph Heiden, Physiker am Forschungszentrum Jülich (KFA), beim ersten Einsatz seines mobilen Magnetokardiographen (MKG) auf dem Seminar in Potsdam nicht wünschen können. Vor der Fachwelt hatten die Jülicher Sensoren, mit denen das MKG ausgestattet ist, ihre Praxisreife unter Beweis gestellt. Dabei handelt es sich um keramische Supraleiter-Quanteninterferenz-Detektoren (Squids), die bei einer Temperatur von minus 196 Grad Celsius arbeiten.

Bisher waren lediglich metallische Squids einsatzfähig, die mit flüssigem Helium auf minus 269 Grad gekühlt werden müssen. Wegen der hohen Kosten wurden derartige Sensoren bisher ausschließlich in der Forschung eingesetzt, vor allem von Medizinern. Jetzt ist der Weg frei für zahlreiche industrielle Anwendungen.

Das Spektrum reicht von der routinemäßigen medizinischen Diagnostik über die Prospektion von Bodenschätzen bis zur zerstörungsfreien Werkstoffprüfung. „Dafür, daß es dieses Fachgebiet erst seit fünf Jahren gibt, ist die Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten“, staunt Michael Wolf, Technologieberater für Supraleitung beim VDI-Zentrum in Düsseldorf.

Der Clou der Potsdamer Herzuntersuchung war nicht nur die Demonstration der neuen Squids, sondern auch das Fehlen jedweder magnetischen Abschirmung. Mit Hilfe einer raffinierten elektronischen Signalverarbeitung gelang es nämlich erstmals, störende Magnetfelder wie die elektrischer Leitungen oder der Erde aus den Ergebnissen herauszurechnen.

Das Meßgerät reizt nicht nur Mediziner, sondern auch Interessenten aus anderen Bereichen. „Zur Zeit rennt uns die Bauindustrie die Türen ein“, freut sich Heiden über die Resonanz auf seine Versuche, mit Squids Stahlbeton zerstörungsfrei auf gefährliche Bruchstellen zu testen. lm Rahmen eines vom Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Projekts, das bis 1995 läuft, soll die Prüf- und Gutachterstelle der Kraftwerks- und Anlagenbau-AG (KAB) in Pirna bei Dresden auf Basis der Jülicher Squids ein Gerät entwickeln, mit dem die Stabilität von  Brücken oder Hallendecken überprüft werden kann.

Im Labor funktioniert der Stahlbetontester bereits. Eine Spule, die an der Betonoberfläche entlang den im Inneren verlaufenden Stahlseilen geführt wird, empfängt deren winziges Magnetfeld. Dieses wird von einem angekoppelten Squid registriert. Bruch- oder Schwachstellen des Seils senden ein anormales Magnetfeld aus.

Die Herausforderung für die Ingenieure besteht jetzt wie im Fall der Herzdiagnose darin, das Nutzsignal aus den vielfach stärkeren Störsignalen herauszufiltern. Squid-Pionier Heiden bleibt vorsichtig: „Jetzt müssen wir beweisen, daß unser System auch in der rauhen Bauwirklichkeit funktioniert.“ Während die Jülicher und ihre Partner mit dem Frühwarnsystem gegen marode Brücken noch ein Monopol haben, hat in der Medizintechnik bereits ein Squid-Wettrennen begonnen.

Kaum ein großer Hersteller von Diagnosesystemen, der nicht in seinen Laboratorien mit flüssigstickstoffgekühlten Magnetfeldsensoren experimentiert. „Wenn kein flüssiges Helium mehr nötig ist, dürfte die Verbreitung der Geräte steigen“, kalkuliert Olaf Dössel, Leiter der Forschungsgruppe Meßtechnik bei der Philips GmbH in Hamburg. Von den heliumgekühlten, massiv abgeschirmten Squid-Maschinen, die mehrere Millionen Mark kosten, gibt es nur ein paar handgefertigte Einzelstücke an großen Universitäten.

Die klinischen Forscher sehen jetzt die Chance, Gehirnerkrankungen wie der Epilepsie (Fallsucht) und der Alzheimerschen Erkrankung auf die Spur zu kommen. Preiswerte, mit den neuen Squids ausgestattete Vielkanal-Magnetoenzephalographen (MEG) werden die Untersuchung zahlreicher Patienten ermöglichen, die Anzeichen von Gehirnstörungen aufweisen. Solche Maschinen mit 37 und mehr Magnetfeldsensoren können die Ströme im Gehirn millimetergenau orten. Wenn es gelänge, eine für Anfälle verantwortliche Hirnregion präzis zu lokalisieren, könnten Neurochirurgen die Ursache des Übels operativ entfernen.

Bevor solche High-Tech-Methoden Allgemeingut werden, müssen die Supraleiter-Physiker allerdings noch zahlreiche Probleme lösen. Die Philips-Forscher, die mit Wissenschaftlern der Universität Hamburg und der Technischen Universität Hamburg-Harburg zusammenarbeiten, haben zwar schon eine Handvoll keramische Magnetfeldsensoren produziert, die im Labor zuverlässig arbeiten. Doch der Ausschuß ist, wie bei allen Squid-Produzenten, sehr hoch.

„Wir können sie noch nicht reproduzierbar herstellen“, gesteht Gabriel Daalmans, Projektleiter für Squids bei der Siemens AG in Erlangen, „da ist noch sehr viel Glück im Spiel.“ Doch die Exemplare, die gelingen, sind nach Daalmans selbstbewußter Einschätzung „die empfindlichsten der Welt“. Der Siemens-Mann will sich jedoch nicht darauf festlegen, daß diese Bauteile vor dem Jahr 2000 in Serie gehen.

Wer dennoch Squids aus Hochtemperatur-Supraleitern kaufen will, muß sich in die Provinz begeben. So machte der Geologe Horst-Ulrich Worm von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, der in Grubenhagen bei Einbeck Bohrkerne aus der kontinentalen Tiefbohrung in Windischeschenbach untersucht, in Bad Salzdetfurth eine Bezugsquelle aus. Die Forschungsgesellschaft für Informationstechnik mbH (FIT), ein Ableger des Antennenbauers Fuba Hans Kolbe & Co., ist der einzige europäische Produzent.

Das müßte nicht so bleiben. Der Jülicher Professor Heiden ist sicher, genügend Know-how für eine Squid-Produktion zu haben. Als Angestellter einer Großforschungseinrichtung kann er es jedoch nicht vermarkten. „Doch wenn wir dürften“, sagt der KFA-Mann, „könnten wir die Squids in Kleinserie produzieren.“

Ulf J. Froitzheim

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