MUNITIONSMÜLL: Politischer Zündstoff

Für das Ressort Technik+Innovation recherchierte ich 1992 diesen Beitrag. Er erschien, von Ressortleiter Wolfgang Kempkens gekürzt und um eigene Informationen angereichert, unter dem Titel „Granaten für Mikroben“. Hier aus urheberrechtlichen Gründen mein Manuskript in der ursprünglichen Fassung. Der gedruckte Beitrag ist im gebührenpflichtigen Archiv der WiWo abrufbar.

MUNITIONSMÜLL: Fürs Recycling nicht geschaffen

Politischer Zündstoff

Unter höchstem Zeitdruck suchen Entsorgungsfachleute umweltschonende Techniken für eine brisante neue Aufgabe: Die explosive Erbmasse des Kalten Kriegs muß schnellstens unschädlich gemacht werden.

Namen sind manchmal nicht Omen, sondern die reinste Ironie. So heißt der Ort, an dem unter heftigem Getöse ein großer Teil der unerwünschten Hinterlassenschaften der Nationalen Volksarmee (NVA) aus der Welt geschafft wird, ausgerechnet Vogelgesang. Hier wiederholt sich tagtäglich ein Feuerwerk der Superlative, das dem Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) gehörig gegen den Strich geht. Zentnerweise jagen die Mitarbeiter der 1991 gegründeten Entsorgungs-Betriebsgesellschaft mbH Vogelgesang (EBV) überflüssiges Pulver aus Bomben und Granaten in die Luft – und setzen dabei unter anderem „große Mengen an Stickoxiden“ frei, wie BUND-Rüstungsexperte Michael Mehnert entrüstet konstatiert.

Der Abrüstungsbetrieb EBV, untergebracht auf dem weitläufigen Gelände des ehemaligen NVA-Munitionslagers Elsnig bei Torgau an der Elbe, ist nur eine der Zielscheiben von Mehnerts Kritik. Die für das Entschärfen von Blindgängern zuständigen Bombenräumkommandos der Bundesländer stehen ebenso in der Schußlinie wie ein Betrieb im niedersächsischen Wendland – jener Region, deren Bewohner seit ihren Protesten gegen den Bau einer Atommüll-Lagerstätte in Gorleben einen gewissen Ruf der Aufmüpfigkeit genießen.

Dahe dem Dorf Dragahn, das der damalige Ministerpräsident Ernst Albrecht in den achtziger Jahren mit einer Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstäbe hatte aufwerten wollen, verheizt nämlich die Kaus & Steinhausen Delaborierungsgesellschaft mbH bereits seit 1967 den brisanten Inhalt überlagerter Bundeswehr-Munition – genauso, wie es auch die NVA vor der Wende in Elsnig-Vogelgesang getan hatte: ungefiltert unter freiem Himmel. Natürlich hat sich längst eine Bürgerinitiative gegen diese Aktivitäten formiert.

Daß Sprengstoff, der oft komplizierte Mixturen ökologisch bedenklicher Zutaten enthält, mittels derart archaischer Techniken vernichtet wird, will der BUND nicht länger hinnehmen. Zwar ist das altmodische Abfackeln völlig legal, da amtlich genehmigt. Weil es sich aber um Bundeswehr-Terrain handelt, bleiben die im Zivilbereich zuständigen Behörden außen vor. Klagt Mehnert: „Das Militär genehmigt sich seine Anlagen auf eigenem Gelände selbst.“

Gegen diese „Sonderrechte“, von denen auch die privatwirtschaftlichen Auftragnehmer der Bundeswehr profitieren, zieht der Naturschutzbund nun energisch zu Felde. Mit seiner Forderung, der Hardthöhe die Verantwortung für die Beseitigung des chemischen Rüstungsmülls zu entziehen und statt dessen eine bundeseigene, öffentlich-rechtliche  Gesellschaft damit zu beauftragen, kann er auf parlamentarische Unterstützung zählen – zumindest auf die der Opposition. So sähe der Arbeitskreis „Ökologische Erneuerung“ der Bonner SPD-Fraktion die Kompetenz für die Munitionsentsorgung lieber bei Umweltminister Klaus Töpfer als bei seinem Kollegen Gerhard Stoltenberg vom Verteidigungsressort. „Im Grunde“, zieht der SPD-Umweltexperte Harald B. Schäfer eine Parallele zu den offiziellen Regelwerken für Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung, „bräuchten wir jetzt eine Technische Anleitung Abrüstung.“

Daß die bis heute praktizierte offene Verbrennung nicht mehr in die Zeit paßt, dämmert indes auch den zuständigen Regierungsstellen und Behörden. So rückt in Dragahn jetzt technischer Fortschritt in greifbare Nähe: Auf Drängen des Umweltbundesamtes in Berlin und des Gewerbeaufsichtsamts Lüneburg erklärte sich die Delaborierfirma Kaus & Steinhausen bereit, einen geschlossenen Abbrandreaktor zu errichten – wenn auch erst, nachdem der Bundesforschungsminister einen 50prozentigen Zuschuß zugesagt hatte.

Ziel dieses „weltweit einmaligen Experiments für Munitionsbeseitigung“, wie ein Sprecher der Gewerbeaufsicht überschwenglich tönte, ist die Reduzierung der Abgasbelastung um mindestens 80 Prozent. Eine anschließende Rauchgasreinigung soll sicherstellen, daß am Ende nichts  Gefährliches mehr in die niedersächsische Atemluft entweicht, wobei die Hauptsorge den krebserregenden Dioxinen gilt.

Bis die Pilotanlage ihren Betrieb aufnehmen kann, gehen aber selbst im günstigsten Fall noch fast drei Jahre ins Land. Mehr als zwei Jahre davon entfallen auf die reine Bauzeit. Um keinen Monat zu verlieren, hat Kaus & Steinhausen kürzlich bei der Bezirksregierung in Lüneburg einen vorzeitigen Baubeginn beantragt, auch auf die Gefahr hin, daß Bürgerklagen das innovative Vorhaben doch noch scheitern lassen. Denn der Dragahner Bevölkerung ist der geplante Superofen ziemlich suspekt.

Immerhin hat Geschäftsführer Reiner Arend, der sein Büro fernab in Hamburg hat, öffentlich zugegeben, daß sein Unternehmen mit dem Abbrandreaktor technisches Neuland betreten werde. Dabei handelte es sich um gar kein spektakuläres Bekenntnis – wäre es anderes, dürfte Minister Heinz Riesenhuber ja keine Zuschüsse überweisen. Ginge es nach der örtlichen Bürgerinitiative, käme es im Wendland jedenfalls zur technischen Null-Lösung.

Auch wenn der Reaktor gebaut wird, sind die Entsorgungsnöte der Militärs damit nur gelindert, nicht behoben. Gemessen am bisherigen Bedarf der Bundeswehr, die laut Kaus-Manager Arend jährlich bis zu 500 Tonnen Explosivstoffe angeliefert hat, ist die künftige Kapazität allerdings üppig: Allmonatlich sollen sich im neuen Apparat 100 Tonnen der unterschiedlichsten Explosivstoffe kontrolliert in Rauch auflösen. Das reicht, um neben Beständen der Bundeswehr auch einige Hinterlassenschaften abziehender Nato-Streitkräfte mit zu vernichten. Doch die wirklich großen Mengen lagern in den neuen Bundesländern – beispielsweise in Elsnig.

Im Detail kennt die Restbestände des NVA-Erbes niemand. Deshalb ist auch das Volumen des deutschen Militär-Entsorgungsmarkts nur grob zu schätzen, zu dem außer der Delaborierung von Artilleriegeschossen auch die Panzerverschrottung, die Beseitigung von Weltkriegs-Giftgas und die Bodensanierung auf Hunderten von Rüstungsaltlasten gehören. Eine typische Einschätzung unter Fachleuten besagt jedoch, daß die Abrüstung für den Steuerzahler nicht viel billiger sei als die Anschaffung der Rüstungsgüter.

Die Branche geht heute davon aus, daß von den ehemals 300000 Tonnen Munition der DDR-Streitkräfte – trotz aller fragwürdigen Exporte unter Übergangsminister Eppelmann – noch 110000 bis 150000 Tonnen übrig sind. Davon entfallen auf die eigentlichen Explosivstoffe etwa 15 bis 20 Prozent; den Löwenanteil des Gewichts machen in der Regel die Metallanteile aus. Weil bei jener „kaufmännischen Entsorgung“ jedoch bevorzugt neuere Waffen das Land verließen, dürfte der Anteil der problematischen Altmunition an dem verbliebenen militärischen Müllhaufen nun um so höher sein.

Hinzu kommt die Ungewißheit, ob die Westgruppe der sowjetischen Armee beim Abzug
tatsächlich, wie vereinbart, ihre 700000 Tonnen Munition (das wären etwa 20000 vollbeladene Sattelschlepper) restlos mitnimmt. Offiziell loben zwar alle Beteiligten die Vertragstreue der Russen, zumal niemand daran zweifelt, daß alle intakten, modernen Granaten und Raketen bis aufs letzte Exemplar eingesammelt werden. Unter der Hand macht jedoch auch der Verdacht die Runde, ein Teil des unbrauchbaren Schießguts sei längst im Erdboden verscharrt worden, weil Abtransport und Entsorgung den armen GUS-Staaten viel zu teuer wären. Ähnliche Befürchtungen hegen Umweltschützer freilich auch gegenüber abrückenden Truppen westlicher Verbündeter. Die ehemalige DDR-Besatzungsmacht tut derweil nichts, um die deutschen Sorgen zu entkräften. „Die Russen“, ärgert sich Thomas Lenius vom BUND in Bonn, „lassen vor dem Abzug keine Vertreter deutscher Behörden aufs Gelände.“

Angesichts der vielen Unwägbarkeiten tastet sich die Industrie sehr behutsam auf dieses junge Betätigungsfeld vor. Früh hatte die Verteidigungsbranche ihren Anspruch auf das Geschäft mit der Abrüstung geltend gemacht, um so wenigstens teilweise die unvermeidlichen Umsatzeinbrüche im Waffenverkauf wettzumachen. Das Dilemma dieser Unternehmen: Die Auslastung der Demontagefabriken ist naturgemäß nur für wenige Jahre sichergestellt, dem steht ein hoher Investitionsbedarf für Forschung, Entwicklung und Anlagenbau gegenüber. Schließlich wurden die Waffen für den kriegerischen Einsatz konstruiert und nicht im Hinblick auf eine friedliche und umweltschonende Zerlegung.

Um auf diesem Konversionskurs die unternehmerischen Risiken zu minimieren, suchen die Militärtechnik-Anbieter kompetente Partner mit ergänzendem Entsorgungs-Know-how – gleichwohl nicht immer mit Erfolg: Weil eine geplante Allianz mit den Firmen Rheinmetall GmbH, Dynamit-Nobel AG sowie Kaus & Steinhausen nicht zustandekam, betreibt die Nürnberger Diehl-Gruppe ihre Ost-Filiale EBV Vogelgesang nun im Alleingang. An diesem Standort, wo im Krieg die Westfälisch-Anhaltische Sprengstoff-AG Bomben für die Wehrmacht baute, soll bald wie in Dragahn modernisiert werden. Die fränkischen Wehrtechniker, die ihr Abrüstungsgeschäft fast wie eine geheime Kommandosache behandeln, wollen laut ostdeutschen Presseberichten einen zweistelligen Millionenbetrag in eine neue „thermische Entsorgungsanlage“ stecken.

Die bayerische Daimler-Benz-Enkeltochter MBB Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH, auch sie zeitweise als Kristallisationskern eines künftigen Abrüstungskartells im Gespräch, entschied sich hingegen für eine Liaison mit dem Frankfurter Metallgesellschaft-Ableger Lurgi Umwelt-Beteiligungsgesellschaft mbH (LUB). Die LUB bringt Erfahrungen aus zivilen Giftmüll-Beseitigungsanlagen ein und hat für die Bundeswehr in Munster (Lüneburger Heide) eine Kampfstoff-Vernichtungsanlage gebaut, die selbst von Kritikern gelobt wird. Rund 60 Kilometer südöstlich von Berlin, im brandenburgischen Weichensdorf bei Beeskow, wollen die beiden Partner auf dem Areal eines Munitionslagers zunächst 150, später 600 Arbeitsplätze schaffen.

Die ökologischen Ansprüche der Planer für das Delaborierwerk scheinen hoch: „Wir werden schon aus Kostengründen alles recyclen, was in irgendeiner Form verwertbar ist“, verspricht Lurgi-Vertriebsmanager Ole Petzoldt. Jedoch komme für mindestens zwei Drittel der östlichen Munition leider nur noch eine Entsorgung in Frage. Und das heißt wieder einmal: kontrollierte Verbrennung.

Freilich hat das bayerisch-hessische Team einen gewichtigen Rivalen – die Rheinmetall GmbH. Der Düsseldorfer Konzern, einer der großen alten Munitionsproduzenten in Deutschland, hält sogar eine ökologische Trumpfkarte in der Hand. So schlagen die Rheinmetaller vor, auf die zweifelhafte Methode des Verbrennens ganz zu verzichten. Statt dessen sollen Sprengstoffe und Treibladungen in einem Prozeß, den zwei Chemieunternehmen in Bitterfeld und Eilenburg entwickelt haben, per Hydrierung und Denitrierung so aufgeschlossen werden, daß sie von der chemischen Industrie wiederverwertet werden können. Dabei kommen laut Rheinmetall Zwischenprodukte für die Herstellung von Pharmazeutika, Azo-Farbstoffen, Schwefelfarben und Polyurethan-(PU-)Kunststoffen heraus.

Am radikalsten will André Dahn von der BC Berlin-Consult GmbH mit dem Militärmüll aufräumen. Sein „chemisch-biologisches Verfahren zur Entsorgung von Treibmitteln aus delaborierter Schützenmunition“ erlaubt es, die entzündlichen Substanzen quasi auf  naßkaltem Weg zu zersetzen – in einer Art Kläranlage. Der Clou des mehrstufigen BC-Verfahrens: Die in diesem Metier überreichlich anfallenden Stickstoffverbindungen (vor allem Nitrozellulose) werden chemisch so behandelt, daß sie von Bakterien völlig abgebaut werden können. Bei dieser „Denitrifikation“, die aus der Trinkwasserreinigung bekannt ist, fällt außer Klärschlamm nur harmloser, molekularer Stickstoff an. Dahn hat auch schon ausgerechnet, welche Mengen sein System verarbeiten könnte: „Wir schaffen 14000 Tonnen Treibmittel in fünf Jahren.“

Falls er sich damit nicht verkalkuliert, könnten die Rivalen aus dem Lager der thermischen Entsorgung eigentlich gleich  aufgeben – sehr viel mehr Pulver enthalten die verbliebenen NVA-Granaten eh nicht. Allerdings hat BC Berlin-Consult noch nicht für alle fraglichen Sprengstoffe die Versuche durchgeführt. So fehlen noch Erkenntnisse darüber, ob der umweltschonende Trick auch mit TNT gelingt.

Die allergrößte Sprengkraft hat indes ein Entsorgungskonzept, das nach Informationen der Umweltorganisation Greenpeace in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ausgeheckt wurde. So offeriere ein Moskauer Unternehmen namens Chetek allen Ernstes, auf der russischen Nordmeerinsel Novaja Semlja große Mengen chemischer Abfälle bei Verbrennungstemperaturen jenseits von Gut und Böse zerschmelzen zu lassen – mittels unterirdischer Atombombenexplosionen. Mit dieser makabren Technik würden auf dem ehemaligen sowjetischen Kernwaffen-Testgelände dann tatsächlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Jede Detonation wäre gleichzeitig ein Schritt zur atomaren Abrüstung.

ULF J. FROITZHEIM

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Eine Antwort auf „MUNITIONSMÜLL: Politischer Zündstoff“

  1. Ein relativ wenig beachteter Aspekt dieser Problematik der Munitionsmüllentsorgung ist der Transport dieser „Güter“ zum Teil quer durch Deutschland. Ein Fernsehbericht vor einigen Jahren zeigt, dass z.B. die Amerikaner Altmunition von Bremerhaven nach Elsnig transportieren lassen, und niemand weiß davon.
    Da hilft nur noch Beten…

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