Nach dem ersten Multimedia-Rausch macht sich in der gesamten Telekommunikationsbranche Ernüchterung breit. Bevor Otto Normalzuschauer tatsächlich zwischen 500 Fernsehkanälen wählen kann, ist noch enorm viel Arbeit angesagt.
Der Österreicher Michael Meirer, beruflich seit einiger Zeit in Kalifornien zu Hause, strahlt wie ein Lotteriegewinner. „Wir haben durch einen glücklichen Zufall zur richtigen Zeit den richtigen Rechner entwickelt“, resümiert der Chef der Silicon-Valley-Firma nCube Computer Corp. stolz. Konnte er seine „massiv parallelen“ Zahlenfresser bisher fast nur an Forschungsinstitute und Entwicklungsabteilungen der Industrie verkaufen, ist plötzlich die ersehnte „Killer-Anwendung“ für die ultraschnellen Computer aus Foster City in Sicht: Sie sind nämlich der ideale Umschlagbahnhof für die immensen Datenmassen von Video on Demand (VOD), dem digitalen Pantoffelkino des Jahres 2000 mit schier unbegrenzter Auswahl an sekundenschnell abrufbaren Filmen.
Blendende Laune ist bei Managern, die mit dem Fernsehen der Zukunft zu tun haben, sonst eher die Ausnahme. Bei vielen Unternehmen läßt die Multimedia-Begeisterung, die vor einem halben Jahr im kühnsten Fusionsversuch der Wirtschaftsgeschichte gegipfelt hatte, merklich nach.
Kleiner Kundenkreis
Seit dem überraschenden Scheitern des 32-Milliarden-Dollar-Deals zwischen der Telefongesellschaft Bell Atlantic und dem Kabelfernseh-Betreiber TCI erkennt die Industrie immer deutlicher, welch gigantische Arbeit noch vor ihr liegt, will sie ihre vorwitzigen Versprechungen einhalten. Denn die technische Komplexität der schönen neuen Kommunikationswelt ist weitaus größer, ihr Preis viel höher und der erreichbare Kundenkreis für die neuen Pay-TV-Angebote deutlich kleiner als gedacht.
Besonders unsanft landeten unlängst die Multimedia-Strategen des amerikanischen Kino- und Verlagsriesen Time Warner auf dem Boden der Tatsachen. Bei ihrem groß angekündigten Pilotprojekt in der Mickymaus-Metropole Orlando hecheln sie heftigst hinter dem Zeitplan her. Der zuletzt für April 1994 avisierte Start des interaktiven Fernsehnetzes im Herzen Floridas mußte erst einmal abgeblasen werden, weil die Decoder, die im Wohnzimmer aus den digital verdichteten Daten wieder vollständige TV-Bilder rekonstruieren sollten, noch nicht einsatzreif waren. Jetzt hofft Time Warner, im vierten Quartal mit der Erprobung des Systems beginnen zu können.
Bereits heute gibt es allerdings Anzeichen dafür, daß der ganze Aufwand für die Katz sein könnte. So testet der New Yorker Medienkonzern einen Typ Videoserver, wie ihn der US-Anbieter Spectradyne gemeinsam mit der Electronic Data Systems Corp. (EDS) für kleinere Pay-TV-Netze in Hotels und Kliniken nutzt. Wenn aber ein ganzes Stadtviertel versorgt werden soll, stoßen diese Systeme rasch an ihre Grenzen: Sobald mehr als 32 Teilnehmer gleichzeitig denselben Filmhit sehen wollen, müssen dessen Bilddaten mehrfach vorhanden sein – oder Time Warner braucht ein sehr engmaschiges Netz von Abspielstationen.
TV via Telefonkabel
Derlei Probleme haben die Telekommunikationskonzerne BT (vormals British Telecom) und Bell Atlantic (eine der größten regionalen US-Gesellschaften mit Sitz in Philadelphia) nicht. Sie erproben in ihren Feldversuchen den neuen „Media Server“ des kalifornischen Softwareriesen Oracle Corp., ein Programm, das auf Michael Meirers nCube-Hardware läuft. Die technische Ausstattung dieser Rechner läßt es zu, daß bis zu 20.000 angeschlossene Haushalte zugucken können – sogar simultan denselben Film.
Um die Kosten im Zaum zu halten, wollen die beiden Telefongesellschaften die Fernsehprogramme über bestehende Fernsprechleitungen zu den Teilnehmern schicken. In der Ortschaft Martlesham Heath bei Ipswich in Südengland, wo BT sein Zentrallabor unterhält, prüfen deshalb jetzt 60 Mitarbeiter im Praxistest, ob die Empfangsqualität via Zweidraht-Kupferkabel der zahlenden Kundschaft zuzumuten ist. Die Betreiber der konventionellen Kabelfernsehnetze auf der Insel – zum Teil ausländische Gesellschaften – behaupten derweil kategorisch, daß ihre (teureren) Koaxialkabel das Mindeste seien. Solche jedoch könnte BT nicht im großen Stil anbieten, ohne zuvor für viel Geld die Straßen aufzureißen.
Wenn die BT-Hypothese stimmt, daß 90 Prozent der britischen Telefonleitungen gut genug seien für das interaktive, digitale Wunschfernsehen, liegt der Qualitätsanspruch freilich nicht sehr hoch. Mehr als zwei Megabit pro Sekunde lassen die alten Zweidrahtkabel auf keinen Fall durch, und das entspricht etwa der Bildqualität einer VHS-Kassette aus der Videothek. Für das aus heutigen Kabelfernsehnetzen gewohnte Übertragungsniveau sind jedoch vier Megabit nötig.
Geringe Akzeptanz
Und sollten sich die Europäer doch noch auf einen Standard für hochauflösendes Fernsehen (HDTV) einigen, wäre man bei 45 Megabit pro Sekunde angelangt – solche Bandbreiten sind nur durch eine aufwendige Neuverkabelung in ATM-Technik (Asynchroner Transfermodus) zu erreichen. Damit aber kämen nur die Zuschauer in den Genuß der neuen Angebote, die in Neubaugebieten wohnen, wo bereits Glasfasern gelegt wurden. Zudem sind ATM-Decoder vorläufig noch viel zu teuer für private Haushalte.
Einen großen Spielraum für die Umlage der Netzkosten auf die Teilnehmer haben die Programmanbieter nicht. Denn das Medienbudget des Normalhaushalts läßt sich nicht beliebig aufblähen. Nach einer Modellrechnung des ZDF liegt die Schmerzgrenze in Deutschland bei 100 Mark monatlich (ohne Telefon). Davon gehen Zeitungsabonnements, Fernsehgebühr und Kinokarten ab – sowie gegebenenfalls die Gebühr für den Kabelanschluss. Beim Pay-TV-Sender Premiere aus Hamburg, der monatlich 42 Mark für seine Programme verlangt, zeigen sich bei mittlerweile 800.000 Abonnenten langsam die Grenzen des Wachstums.
Wenig Anlass zum Jubel gibt auch eine Simulation von Video on Demand mit 200 handbedienten Recordern, welche die Telefongesellschaft US West in Denver vor zwei Jahren gemeinsam mit AT&T und dem Kabelfernsehkonzern Tele-Communications Inr. (TCI) gemacht hatte: 300 Probanden konnten sich rund um die Uhr ihre Wunschvideos ins Kabel schicken lassen. Obwohl der Service nur zwischen 99 Cent und 3,99 Dollar(1,69 bis 6,79 Mark) je Film kostete, bestellte der Durchschnittsteilnehmer gerade einmal zweieinhalb Filme im Monat.
Die Akzeptanz für „Fernsehen total“ ist beim Publikum bis dato ohnehin nicht sehr ausgeprägt. So könnten in Deutschland 21 Millionen Haushalte
sofort den Kabelanschluss mit seinen 28 TV- und 52 Hörfunkprogrammen nutzen. Doch nur 14 Millionen sind tatsächlich angeschlossen. In den USA liegt die Nutzerquote ebenfalls nur bei zwei Dritteln der technischen Reichweite – oder 60 von 90 Millionen Haushalten.
Nicht einmal die Videotheken, die mit Video on Demand konkurrieren würden, scheinen Angst vor der digitalen Zukunft zu verspüren. Wenn viele Leute schon Schwierigkeiten mit Fahrkartenautomaten hätten, bei denen sie nur zwischen 50 Zielen wählen müssten, meint Jörg Weinrich von der Interessengemeinschaft der Videothekare Deutschland (IVD) in Düsseldorf, seien sie mit einer Datenbank mit 1000 Filmen gewiß überfordert.
Ulf J. Froitzheim
Sie sind der oder die 3280. Leser/in dieses Beitrags.