Nach UMTS die Bitflut

DIE ZUKUNFT DES HANDYS. Alle Welt redet von UMTS. Dabei gibt es eine Menge Alternativen,die längst marktreif sind. Fest steht: Das Internet wird uns überall begleiten.

 

München, im Oktober 2001. 50 Autos zockeln scheinbar ziellos durch die Gegend: Quer durch die Stadt, vorbei an Olympiaturm und BMW-Hochhaus, hinaus zum Flughafen, hinüber zur Messe, und immer wieder zurück in die City. Doch die Routen sind genau vorgegeben. Keiner der Fahrer darf davon abweichen, und sei der Stau noch so schlimm. Wo’s lang geht, wenn’s eng wird, entscheiden allein die Agenten, die – verborgen vor den Blicken anderer Verkehrsteilnehmer – in den technisch aufgebrezelten Großserienlimousinen mitreisen.

Auftraggeber der merkwürdigen Patrouillenfahrten ist nicht der BND, sondern das Münchner Start-up Definiens AG, und dessen Mitarbeiter verstehen unter einem Agenten keinen James Bond, sondern ein unheimlich schlaues Stück Software. Wenn alles so läuft, wie es sich der Physiknobelpreisträger und Definiens-Mitbegründer Gerd Binnig erhofft, werden diese so genannten Amaccs (Autonomous Mobile Agents in Cluster Communication Systems) schon in wenigen jahren zur Serienausstattung der automobilen Oberklasse gehören.

Die neuartigen Helferlein, die sich per Funk untereinander verständigen können, sind nach ersten Modellrechnungen nicht nur äußerst effiziente Verkehrslotsen, die im Gegensatz zu heutigen Systemen auch abseits der Autobahnen funktionieren. Sie könnten auch die Handynetze entlasten und Funklöcher stopfen. Wahrscheinlich wären sie sogar zum Nulltarif nutzbar.

Ein Erfolg der Amaccs wäre eine ziemlich schlechte Nachricht für die Betreiber der großen Handynetze, die voriges Jahr fast 100 Milliarden Mark ans Finanzministerium überwiesen haben, nur um für viele weitere Milliarden die Sendemasten für das Universelle Mobile Telefon-System (UMTS) aufstellen zu dürfen. Die Chefs von Telekom, Vodafone & Co haben die Autofahrer als Zielgruppe für ihre künftigen Mobildienste fest eingeplant und sehen die Verkehrstelematik als Spielfeld für teure Premium-Angebote.

Doch selbst wenn die Amaccs nicht halten, was sich Professor Binnig und seine Mitstreiter von ihnen versprechen, gehen die UMTS-Protagonisten T-Mobile, D2, E-Plus, Viag/02, Mobilcom und Group3G harten Zeiten entgegen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass deren monströs überdimensionierte Pläne für die dritte Handygeneration zu Makulatur werden, bevor überhaupt (im Laufe des Jahres 2003) die ersten kommerziellen Anwendungen ins Rollen kommen. Nicht, dass sich Bill Gates geirrt hätte, als er 1994 das allgegenwärtige Internet prophezeite. Nur lässt sich sein Konzept »Information At Your Fingertips« billiger und kundenfreundlicher umsetzen als mit UMTS, und das nicht einmal in schlechterer Qualität. Vorausgesetzt, es muss kein hoch integriertes System sein, das alles kann.

Während die Netzbetreiber und manche Handyentwickler noch so tun, als warte ihre Kundschaft sehnsüchtig auf den TV-Video-Foto-Musik-Telefonier-Websurf-Organizer, widmen sich Nischenanbieter Bedürfnissen, die bereits jetzt ein klares Marktpotenzial aufweisen. So bietet die deutsche Firma Vitaphone Risikopatienten ein so genanntes Herzhandy an, mit dem sie beim leisesten Warnzeichen des Körpers selbst ein EKG erstellen und an den Arzt funken können. Der Service funktioniert im herkömmlichen GSM-Handynetz.

Das Gleiche gilt für diverse ortsbezogene Dienste, mit denen sich der Netzbetreiber O2 alias Viag Interkom profilieren will. Und E-Plus aus Düsseldorf führt demnächst den in Japan äußerst erfolgreichen Entertainment- und Mail-Dienst I-Mode in Deutschland ein, der bis vor kurzem über steinzeitliche 9,6-Kilobit-Netze lief – als Alternative zum hiesigen Ladenhüter WAP (Werbeslogan: »Internet fürs Handy«).

Um die wahren Info-Nomaden kümmert sich unterdessen die Aachener Elsa AG, ein bei Computerprofis renommierter Spezialist für Datenkommunikation. Mitarbeiter großer Unternehmen, die sich von unterwegs ins Intranet ihres Arbeitgebers einloggen wollen, können dies heute nämlich mehr schlecht als recht über die beiden UMTS-Vorläufer HSCSD und GPRS erledigen: Die Techniken sind so langsam wie ein Modem von 1997 – und so teuer, dass sich ihr Einsatz für Aufgaben, die nicht brandeilig sind, von selbst verbietet. Zudem sollte sich der Nutzer während eines Datentransfers möglichst nicht von der Stelle rühren. Ein Verbindungsaufbau während einer Zugfahrt ist meistens zwecklos.

Die von Elsa propagierte Alternative heißt Wireless LAN (Local Area Network): Überall, wo viele Notebook-Nutzer zusammenkommen – auf Bahnhöfen, an Flughafen-Gates, in Hotels, Messehallen oder Cafes – sollen superschnelle drahtlose Mini-Netze installiert werden, die als Brücke zum billigen Festnetz-Internet dienen. Der Clou: Die benötigten Frequenzen können nach den Regeln der Weltorganisation International Telecom Union (ITU) gratis genutzt werden. Passende Funkmodems gibt es unter 250 Mark. Und die Technik ist ausgereift. In den USA hat die Caféhauskette Starbucks bereits etliche ihrer Filialen damit ausgestattet, um die konsumfreundliche Klientel der mobilen Datenarbeiter an sich zu binden.

Galten die kleinen Funkzellen bislang als reine Inhouse-Lösung, so funkt in Aachen seit kurzem die erste Sendestation in den öffentlichen Raum hinaus. Reichweite: 300 Meter, vergleichbar mit dem Radius von UMTS-Basisstationen. Kommt dieses Angebot an, will Ulrich Hacker, Chef der örtlichen Telefongesellschaft AC Com, das Netz ausbauen. Zehn Zellen würden reichen, um die gesamte Innenstadt zu versorgen. lnvestitionsaufwand: lächerliche 40000 Mark. Darum soll Wireless LAN auch für die Kunden billig sein. Hacker will pro Megabyte fünf Cent verlangen. Bei GPRS schlägt ein Datenpaket dieser Größe, das etwa drei Fotos oder einer Minute Musik entspricht, mit mindestens 4,60 Euro (neun Mark) zu Buche. Das noch teurere UMTS ist demnach als professioneller Web-Zugang erst recht nicht wettbewerbsfähig.

Die Mobilfunkkonzerne können ihren Kostennachteil nicht einmal durch eine bessere Flächendeckung wettmachen: Bis Ende 2003 müssen sie gemäß ihren Lizenzbedingungen 25 Prozent der Bevölkerung bedienen, zwei Jahre später 50 Prozent. Das schließt die Versorgung von Dörfern oder von städtischen Randlagen fürs Erste aus. Darum forderten Telekom und Vodafone bereits die Einführung von Lizenzgebühren für die unliebsame Konkurrenz; nur Mobilcom-Chef Gerhard Schmid hat angekündigt, bei Wireless Lan mitzumachen.

Auch bei seinen anderen potenziellen Einsatzgebieten sieht UMTS ziemlich alt aus. Zum Beispiel Musik-Download: Nichts spricht zwar dagegen, aus Handy und MP3-Player ein einziges Gerät zu machen. Doch das Laden eines Songs aus dem Äther ist teuer, umständlich und saugt heftig am Akku. Für den Video- oder TV-Empfang auf den Rücksitzen des Autos wiederum ist die künftige Fernsehnorm DVB-T (Digital Video Broadcast Terrestric) die perfekte, telefongebührenfreie Lösung. Die einsatzreife Technik eignet sich auch zum Datenversand – etwa zum nächtlichen Update der Notebooks von Vertretern.

Die Konzerne, die ihre Zukunft auf UMTS verwettet haben, stehen in der Defensive. Sie wissen, dass sie mit Macht Traffic erzeugen müssen – am besten durch Lifestyle-Services, die Kunden 100 Euro und mehr im Monat wert sind. Gehversuche in diese Richtung sind bereits zu erkennen. So dürfte bald ein Fotoobjektiv zur Serienausstattung guter Handys gehören. Der von der Qual der Wahl betäubte Kaufhauskunde könnte dann fix ein Bild an seine Partnerin funken, damit die die Entscheidung trifft.

Das setzt freilich voraus, dass die Geräte-Designer noch ein paar Stunden nachsitzen: Man muss es seiner Zielgruppe ja nicht mutwillig schwer machen, die Apparate auch zu benutzen.

DIE DIGITALE DEKADE

Was ist passiert, was wird bis zum Jahr 2010 geschehen? Eine BIZZ-Prognose ohne Gewähr.

2000

• WAP, das vermeintliche mobile Internet, floppt.
• Europas UMTS-Auktionen erlösen 100 Milliarden.
• Die GSM-Aufrüstung HSCSD wird zum Insider-TIpp.

2001

• Der WAP-Beschleuniger GPRS kommt.
• Erste Serienautos haben Internet an Bord.
• Digitalradio (DAB) sendet am Publikum vorbei.
• ZDF sendet terrestrisch in Digitaltechnik (DVB-T).
• Japans I-Mode kommt nach Europa.

2002

• GPRS wird billiger; die Konkurrenz durch I-Mode belebt das Geschäft.
• Autohersteller setzen auf Speed (GPRS, HSCSD).
• Fluglinien werben mit Online-Zugang an Bord.
• Bürgerklagen behindern UMTS-Netzausbau.
• Erste UMTS-Netze sind betriebsbereit.
• UMTS-Endgeräte sind knapp, teuer, unausgereift.
• Breitband-Inhalte für UMTS noch Mangelware.

2003

• Alle Netzbetreiber bieten regional UMTS an.
• Ende des Jahres sind größere Städte erschlossen.
• Firmen testen UMTS als Außendienst-Werkzeug.
• Schwächeren Netzbetreibern geht das Geld aus.

2004

• Erste teure UMTS-Dienste für Privatkunden.
• Digitalradio (DAB) fast flächendeckend verfügbar.

2005

• Immer mehr Digitalkameras funken Bilder.
• UMTS wird schneller und billiger.
• In öffentlich zugänglichen Gebäuden ist Wireless-LAN-
Zugang selbstverständlicher Service.

2006

• Autos mit Navigationssystem überbrücken als
Füllsender Lücken in den mobilen Datennetzen.

2008

• Notebooks und PDAs werden abgelöst von
Foliendisplays, die Sprache verstehen.

2010

• Das mobil nutzbare Digital-TV (DVB-T) löst das
analoge Fernsehen ab und transportiert Daten.

Erschienen in BIZZ 11/2001.

Sie sind der oder die 2009. Leser/in dieses Beitrags.

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