Werner Weber und Helmut Becker haben auf den ersten Blick nicht viel gemein. Weber stand immer mittendrin im Leben, beriet Tausende von Kunden aus allen Schichten der Bevölkerung. Becker thronte als Vordenker seines mächtigen Chefs hoch über den Niederungen des industriellen Alltags. Webers beruflicher Horizont war dominiert von der kommenden Vegetationsperiode und den Bedürfnissen der Gartenbesitzer, Beckers Job der Adlerblick auf die langfristige Entwicklung der automobilen Wohlstandsgesellschaft.
Die beiden eint dennoch viel. Der bodenständige Filialleiter einer Gartencenter-Kette in der Nähe von München und der promovierte Volkswirt aus dem vierzylindrigen Elfenbeinturm der BMW AG mussten nach Jahrzehnten des Angestelltendaseins feststellen, dass sie nicht mehr zu ihren Arbeitgebern passten – oder die nicht mehr zu ihnen. Beide waren auf ihre Art unbequem für die Vorgesetzten, die man ihnen irgendwann vorgesetzt hatte. Beide waren nicht dafür geschaffen, sich zu verbiegen, um ihren Posten wenigstens so lange zu behalten, bis sie sich in Vorruhestand oder Altersteilzeit hätten flüchten können. Beide waren Mitte 50, als sie erkannten, dass sie nun wirklich genug Erfahrung gesammelt hatten, um ihr Glück als eigener Chef zu versuchen. Der eine, heute 66 Jahre alt, als Gründer des kleinen Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation, der andere, zehn Jahre jünger, als freiberuflicher Gartenberater.
Wenn die Experten recht behalten, wird die späte Zweitkarriere als Selbstständiger, der vielleicht sogar selbst Arbeitsplätze schafft, in wenigen Jahren nichts Besonderes mehr sein. „Wir werden immer mehr ältere Gründer bekommen“, prophezeit Willi Oberlander, Geschäftsführer des Instituts für Freie Berufe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der Trend hat nicht nur damit zu tun, dass einst personalstarke Konzerne zusehends schrumpfen. Hinzu kommt, dass reifere Menschen, vor allem wenn sie keine schwere körperliche Arbeit verrichten mussten, heute erheblich fitter sind als die vergleichbare Generation von vor 20 oder 30 Jahren. Das gilt erst recht für Frauen, denen das wachsende Gesundheitsbewusstsein oft die Geschäftsideen liefert – wie der 62-jährigen Jutta Bezner-Robert aus Bietigheim-Bissingen. Die Wellnessexpertin und Ex-Chefsekretärin ist überzeugt davon, dass ihre unternehmerische Tätigkeit ihr Wohlbefinden sogar steigert: „Ich werde mit dieser Arbeit gesund bleiben.“
Die Lage wandelt sich dramatisch: In einer Gesellschaft mit steigendem Altersdurchschnitt verschieben sich die Maßstäbe dafür, wann jemand als „alt“ oder „zu alt“ gilt. Schon heute, sagt der ursprünglich als Betriebswirt ausgebildete Sozialkundler Oberlander, „ist die „Akzeptanz der Älteren bei den Auftraggebern erstaunlich hoch“. Und je älter die Kunden, desto geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie einem Jüngeren den Vorzug geben — nur weil er jünger ist.
Meist mehr Ideen als Geld
Der berufliche Neustart als Silver Ager gleicht dennoch einem Hürdenlauf. So nützt die gesellschaftliche Anerkennung von Lebens- und Berufserfahrung wenig, solange das typische Förderprogramm für Existenzgründer den Jungunternehmer in den Mittelpunkt stellt, der langfristige Pläne verfolgt. Ein Finanzierungspaket mit 15 oder gar 20 Jahren Laufzeit braucht ein Mittfünfziger gar nicht erst zu beantragen, wissen Gründungsberater, selbst wenn er kerngesund ist und auch bei einem 35-Jährigen keineswegs klar wäre, ob diesem nicht vorzeitig die unternehmerische Puste ausgeht. Dummerweise haben aber auch Ältere oft mehr Ideen als Geld, insbesondere wenn nach einer Phase der Arbeitslosigkeit ihre Reserven zur Neige gehen. Mangel an Eigenkapital sei oft die entscheidende Hürde, sagt Oberlander, dessen Institut auch Gründungsberater vermittelt. Selbst wer einen Kredit bekommt, ist im Nachteil. „Mit zunehmendem Lebensalter unterstellen die Banken höhere Risiken, und das bedeutet höhere Zinsen.“
Also fängt der typische 50-plus-Unternehmer klein an – mit realistischen Vorstellungen davon, wie groß ein Start-up werden kann, das man in diesem Lebensabschnitt noch aufbaut. Weber ist schon zufrieden, wenn seine Geschäftsidee so einschlägt, dass er als Ein-Mann-Betrieb sein Auskommen findet. Der Gartenfachmann, der in Geltender am Westrand des Großraums München lebt, hat eine Marktnische ausgemacht und mit seinem von der IHK München gesponserten Gründungscoach Emil Hofmann systematisch ausgelotet: die unabhängige Beratung von Gartenbesitzern, frei von Verkaufsinteressen, wie sie im Gartencenter im Vordergrund stehen, und mit 38 Euro die Stunde auch für Kunden bezahlbar, die sich keinen Landschaftsarchitekten leisten können.
„Grundlage ist die Natur“, versucht Weber seine Geschäftsphilosophie zu erklären. Als Marktleiter habe er beraten müssen, ohne zu wissen, wie es auf dem Grundstück des Kunden wirklich aussieht. Jetzt schaut er sich persönlich an, ob die Rosen zu dicht stehen und sich deshalb der Mehltau ausbreitet. Statt Symptome mit teuren Spritzmitteln zu bekämpfen, soll der Hobbygärtner lernen, die richtigen Pflanzen an den richtigen Ort zu setzen – und es auch nicht zu übertreiben. Weber blüht sichtbar auf, wenn er erzählt, wie gut es ihm tut, nicht mehr Diener zweier Herren sein zu müssen, des auf Umsatzsteigerung erpichten Arbeitgebers und des Kunden.
Die Geschäftsidee zahlt sich aus
Dass der Markt in seiner Region groß genug ist für die neue Dienstleistung, lässt sich im Businessplan nachlesen. Kernzielgruppe sind die Besitzer von Ein- und Zweifamilienhäusern, die westlich von München das Siedlungsbild prägen. Laut Marktforschung arbeitet etwa die Hälfte dieser Menschen „gern“ oder „sehr gern“ im Garten. Mit 600 Kunden pro Jahr gehe die Rechnung auf, hat der Existenzgründer kalkuliert. Das wäre weniger als ein Prozent Marktabdeckung bei einer Dienstleistung, die nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal ist, sondern sich bei manchem Kunden auch noch voll amortisiert.
Webers große Herausforderung ist das Marketing. Er muss für seine Person werben und für seine Idee, kann aber mit dem Zuschuss der Agentur für Arbeit, der die Basis seiner Selbstständigkeit bildet, keine Kampagne fahren. Deshalb hat er sich ein weiteres Geschäftsfeld erschlossen, sich zum Kräuterpädagogen weitergebildet und die Zusammenarbeit mit dem nahe gelegenen Benediktinerkloster Sankt Ottilien gesucht. Für die Mönche entwarf er einen Kräutergarten nach Vorgaben des frühmittelalterlichen Abts von Reichenau, Walahfrid Strabo. Von dort aus bietet er Kräuterwanderungen und Radtouren zwischen Lech und Ammersee an. Die Teilnehmer lernen, welche vermeintlichen Unkräuter in Wirklichkeit den Speiseplan bereichern.
Weber hat sich auch eine schöne Website bauen und kleine Broschüren drucken lassen, doch seine Zwischenbilanz bestätigt den Werbespruch der Zeitschriftenverleger „Print wirkt“: „Entscheidend ist, dass es in der Zeitung steht.“ Deshalb setzt er stark auf PR in der Tagespresse und in Anzeigenblättern. Sie bringen ihn in Kontakt mit Menschen, die zumeist auch einen eigenen Garten haben – und damit potenzielle Auftraggeber für Webers Kerngeschäft sind. Parallel dazu bearbeitet der 56-jährige Jungunternehmer unablässig Bürgermeister, Gewerbetreibende und Verwalter von Wohnblocks, deren Grünanlagen lieblos oder unprofessionell gepflegt werden. Sein Albtraum ist die brutale Heckenverschandelung per Hausmeisterschnitt, sein Angebot die Anleitung des zuständigen Personals zum „fachgerechten Zierstrauchschnitt“. Mit diesem Mix hofft Weber, bis 2011 komplett auf eigenen Füßen zu stehen – drei Jahre nach seiner Kündigung.
Anders als der Gartenkaufmann, der sich ohne langes Zögern für Weiterbildung und Selbstständigkeit entschied, stürzte Becker, der bei BMW scheinbar überflüssige Chefvolkswirt, 1998 erst einmal in ein tiefes Loch. „Mir war klar, dass ich nicht mehr Fuß fassen würde“, erzählt er unverblümt. „Volkswirtschaftliche Abteilungen wurden ringsum geschlossen, im operativen Geschäft war ich nie gewesen, vom klassischen Consulting halte ich nichts, und ich wollte auch nicht in ein Institut für Wirtschaftsforschung.“ Schlimmer noch: Als „Sherpa“ und „Hofnarr“ von Vorstandschef Eberhard von Kuenheim habe er nur BMW-intern einen Namen gehabt. Diese Rolle im Hintergrund aber entsprach seinem Naturell: „Ich bin eigentlich introvertiert.“
Das muss in einem anderen Leben gewesen sein. Heute kokettiert der Autokonjunkturexperte verschmitzt damit,
er sei selbstmitleidig und arrogant gewesen, und ohne die zupackende Art seiner Frau hätte er die Kurve damals nicht gekriegt. Heute weiß Becker, um markante Sprüche nie verlegen: „Nicht hinfallen ist eine Schande, nur liegen bleiben.“ Er stand auf, lernte mit dem PC umzugehen, fing im Kellerbüro an, kam mit dem Verband der Automobilindustrie ins Geschäft, engagierte zwei seiner früheren Praktikanten, zog mit einem Gründerdarlehen der KfW in repräsentativere Geschäftsräume in Schwabing, expandierte. Schon nach einem Jahr fand er sich zwischen lauter jungen IT-Start-ups wieder als einer der „Mutmacher 1999“.
Doch das Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation, IWK, entwickelt sich nicht entlang von Meilensteinen eines Businessplans, sondern ist ein „atmendes“ Kleinunternehmen, denn Becker, der sich ein Berufsleben lang mit Wirtschaftszyklen und Prognosen befasst hat, hält nicht viel von Planungsgläubigkeit: „Alle, die planen, fallen auf die Schnauze.“ Im Krisenjahr 2003 atmet das IWK aus, Becker kann nur eine Halbtagskraft beschäftigen. Dann holt er wieder Luft, ist in dieser Rezession zu viert.
Die Renaissance der Alten
Der Laden ist auf den Chef zugeschnitten, der Stubenhocker Becker hat sich zum „Medienmann“ entwickelt, zum Schriftsteller und Vortragsreisenden in Sachen Konjunktur und Autoindustrie, dem junge, computerkundigere Volkswirte zuarbeiten. „Ich bin heute ein völlig anderer als vor zehn Jahren“, sagt der fast 66-jährige Saarländer, „ich hätte mir nicht zugetraut, mich in einem Saal mit 100 Leuten vorn hinzustellen und eine freie Rede zu halten.“ Arbeiten will er, solange er denken kann – was wörtlich zu verstehen ist.
Menschen allein aufgrund einer festen Altersgrenze aufs Altenteil zu schieben, hält der Ökonom für großen Unsinn, vor allem angesichts der für ihn unausweichlichen „Renaissance der Alten“. „Die Leute werden doch gebraucht“, sagt Becker, „wenn sie arbeiten wollen, soll man sie nicht zwingen, aufzuhören.“
Die Unternehmerin Bezner-Robert denkt ähnlich: „Ich werde arbeiten bis 100“, sprudelt es aus der Bietigheimerin heraus, die bald 63 wird. Und so dynamisch, wie die schwäbische Wellness- und Anti- Aging-Unternehmerin diese kühne Vorhersage rüberbringt, ist man fast versucht, ihr das auch abzukaufen. Seit acht Jahren ist sie Geschäftsfrau – eine der wenigen Spätgründerinnen, die sich nicht damit begnügt haben, sich als Einzelkämpferin zu behaupten. Wie Becker hat sie ein Unternehmerbild, das nicht von lehrbuchhafter Planung geprägt ist, sondern von Flexibilität und einem Blick für Chancen: „Man muss beweglich sein. Das Leben spielt ganz anders.“
Dieses Talent hat die einstige Chefsekretärin, die lange in der Immobilienfirma ihres elf Jahre älteren Mannes mitgearbeitet hatte, wiederholt bewiesen. Als er sich aus seinem Unternehmerleben zurückzog, fing sie ihres an. Jutta Bezner-Robert hatte eine Krebserkrankung glücklich ohne Chemotherapie überstanden und sah einen Bedarf an Wissen über ganzheitliche Medizin und gesundes Leben. Sie ließ sich als Reiki-Lehrerin ausbilden, versteht sich mithin auf japanische Wellnesstechniken. Doch damit lag sie an einem konservativ-schwäbischen Standort wie Bietigheim-Bissingen weitab der örtlichen Wertewelt: „Die öffentliche Meinung war sehr gegen mich.“ Als sich ihr Energy-Centrum Institut für Lebensgestaltung in den früheren Geschäftsräumen ihres Mannes breitmachte, verdächtigte man sie der Nähe zu Sekten – sogar zu solchen, die mit dieser Art von Lifestyle gar nichts am Hut haben. Dabei waren die leer stehenden Büros nur die beste Starthilfe, die sie bekommen konnte. Ein familiäres
Gründerpaket, das ihr enorme Mietkosten ersparte.
Weil lokal nichts lief, organisierte Bezner-Robert Seminare mit bekannten Vortragsreisenden – und suchte die Teilnehmer überregional. Ihr Akquiseumfeld wurde das Web: Die Szene der Alternativmedizin-Jüngerinnen und Freunde parareligiöser Denkschulen („Bestellung beim Universum“) ist seit jeher internetaffin. Ihr Unternehmen wuchs – und wuchs ihr irgendwann über den Kopf. Bezner-Robert, die inzwischen sogar ein eigenes Catering für die Seminarteilnehmer unterhielt, hatte zehn Mitarbeiterinnen an Bord, mehr als ihr Energy-Centrum tragen konnte. Inzwischen beschäftigt sie nur noch eine feste Halbtagskraft, ansonsten arbeitet sie mit Freiberuflern zusammen – und freut sich, dass sie mit dem Vertrieb eines tragbaren Geräts zur Elektrobehandlung faltiger Haut ein zweites Standbein gefunden hat. Obwohl das Produkt, das aussieht wie ein Damenrasierer, sonst als Faltenbügeleisen apostrophiert wird, tauge es auch zum Do-ityourself-Kurieren schmerzhafter Zipperlein, wie sie ältere Menschen oft haben. Da diese Zielgruppe Zukunft hat, ist Unternehmerin Bezner-Robert guter Dinge.
„Ich suche mir jetzt das raus“, bekennt sie offen, „was lukrativ ist und was mir Spaß macht“. Die 62-Jährige schüttelt über ihre Generationsgenossinnen nur den Kopf: „So viele in meinem Alter haben ihren Fokus nur auf der Rente.“
Ulf J. Froitzheim
Durchstarten
Ältere haben jüngeren Gründern manches voraus. Aber auch sie, warnt Coach Emil Hofmann, machen Anfängerfehler.
Erfahrung ergänzen
Sich allein auf Fachwissen und Berufserfahrung zu verlassen ist riskant. Zum Erfolg verhelfen Alleinstellungsmerkmale: Was wollen Ihre Kunden, das nur Sie bieten können? Kammern und Gründungsinitiativen vermitteln derlei Know-how. Hilft ein Berater beim Businessplan, kann der Gründer Zuschüsse bei der IHK beantragen.
Für sich trommeln
Wer sich auf Website und Werbebriefe verlässt, springt zu kurz. Ältere sind meist gut vernetzt; diese Kontakte müssen sie nutzen, ob beruflich oder privat. Auf Veranstaltungen gehen, sich zeigen, Duftmarken setzen. Vorträge anbieten, eigenes Wissen dokumentieren und andere überzeugen.
Anfangskapital sichern
Förderdarlehen gibt es auch für Ältere. Beim ERP-Unternehmerkapital sind die ersten sieben Jahre tilgungsfrei. Es gilt aber ein Höchstalter von 62 Jahren. Gründer ab 55 müssen daher spätestens mit 62 die Tilgung beginnen.
aus impulse 10/2009
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