Heikle Mission

Sage niemand was gegen die gute alte Bundesbahn: 1992 investierte der Staatskonzern in einen hochmodernen, also computergesteuerten Container-Umschlagbahnhof, der die Münchner Innenstadt von viel Güterverkehr entlastete. Was alles dazugehörte, dieses Projekt ans Laufen zu bringen, steht in meinem Bericht für das WiWo-Ressort Technik+Innovation (erschienen in der Ausgabe 36/1992). Bebildert ist der Text übrigens – was bei der WiWo sehr selten vorkommt – mit einem Foto, das der schreibende Reporter selbst aufgenommen hat. 🙂

Containerumschlag München-Riem: Im Minutentakt

Die Bundesbahn testet ein neues Logistikkonzept. Schnelle Abfertigung soll mehr Fracht auf die Schiene locken.

Wenn irgendwann in diesem Spätsommer ein paar hochspezialisierte Informatiker vom hessischen Sulzbach an den Bodensee fahren, dann geht es ihnen nicht um einen harmlosen Segeltörn. Das Team hat eine heikle Mission zu erfüllen. Drei Tage haben die Experten Zeit, mit den fiesesten Tricks eine Software zum Absturz zu bringen, auf die die Deutsche Bundesbahn große Hoffnungen setzt: Das Terminal-Informationssystem, kurz TIS genannt, soll die Spediteure animieren, mehr Fracht auf die Schiene zu schicken.

Einsatzort der berufsmäßigen Hacker aus dem Taunus, die alle im Sold des Computerkonzerns Unisys Deutschland GmbH stehen, ist die Abteilung Planungsberatung der Dornier GmbH in Friedrichshafen. Die Tochterfirma der Deutschen Aerospace AG (Dasa) hat das neue EDV-Konzept für den sogenannten Kombinierten Ladungsverkehr (KLV) ausgearbeitet, bei dem die Bundesbahn mit privaten Fuhrunternehmern Hand in Hand arbeitet. Und weil vor allem die Zuverlässigkeit von TIS darüber entscheidet, ob die für den 27. September geplante Einweihung des modernsten Containerterminals der Bundesbahn mit einem Triumph oder einem Debakel endet, wird die Software für den neuen Umschlagbahnhof München-Riem vor der Installation einem gnadenlosen Crashtest unterzogen. TIS soll im Zusammenspiel mit anderen Computerprogrammen das Be- und Entladen der Züge optimieren sowie die Lkw-Fahrer, die Container anliefern oder abholen, schnell zu den richtigen Waggons lotsen.

Für die Bundesbahn geht es um mehr als nur um einen relativ bescheidenen Softwareauftrag. Sie will mit der Eröffnung des neuen Frachtterminals, in Sichtweite des verlassenen Flughafens Riem, in die Zukunft des Güterverkehrs starten.

„München hat eine Pilotfunktion“, erklärt Rudolf Mayer, Geschäftsführer der Umschlagbahnhof München-Riem (UBM) GmbH, an der die Bahn mit 51 Prozent beteiligt ist. Den Rest halten zwei regionale Gesellschaften. Funktional durchdacht bis ins letzte Detail und technisch auf dem neuesten Stand, soll Riem als Aushängeschild der neuen Bahn Furore machen.

Der Neubau war überfällig: Ob im Container- oder Huckepackverkehr, der zur Zeit der Pferdegespanne gebaute Güterbahnhof in der Innenstadt ist ein Dauerärgernis für Industrie, Handel, Bundesbahn und Anwohner. Stundenlang muß – noch bis Ende September – jeden Morgen und Abend mit kilometerweit hörbarem Quietschen hin- und herrangiert werden, weil die Gleise für die heutigen Langzüge viel zu kurz sind.

Zudem fehlt es an Platz zum Rangieren der schweren Lkw, so daß die Fahrer unfreiwillig Blockaden bauen. Zusätzliche Zeitverluste und damit kostenträchtige Terminverzögerungen sind die Folge. Unter dem Strich machten die unvermeidlichen Leerzeiten alle Bemühungen der Bahn zunichte, auf langen Strecken von und nach München schneller zu sein als der Lkw. „Die Kunden, die uns deswegen weggelaufen sind“ , seufzt Mayer, „hätten wir nicht einmal mit einem Nulltarif halten können.“

Ab Ende September hat der Eisenbahner die Chance, die verlorene Kundschaft zurückzugewinnen. Quasi in letzter Minute vor der Eröffnung des europäischen Binnenmarkts kommt die bayrische Landeshauptstadt jetzt zu einem Umschlagbahnhof, der ihrer Rolle als süddeutsche Drehscheibe für hochwertige Güter entspricht.

Die gesamte Technik der Riemer Anlage ist konsequent darauf ausgelegt, die Bahn für das Just-in-time-Zeitalter fit zu machen: Auf acht 700 Meter langen Gleisen können künftig Züge aus bis zu 55 Waggons auf einen Rutsch von den mächtigen Portalkränen be- und entladen werden. Zeitraubendes Rangieren entfällt. Vom Computer optimal dirigiert, kann jeder der Kräne – vier Exemplare zum Stückpreis von sieben Millionen Mark – in nur zwei Minuten einen Container oder Wechselbehälter vom Waggon auf den Lastwagen umladen.

Um zu verhindern, daß die Trucker unfreiwillig Blockaden bauen, haben die Planer reichlich Platz für Fahrzeuge und Container vorgesehen. Und damit der Verkehr zügig abfließt, verfügt der neue Bahnhof sogar über einen eigenen Anschluß an die Autobahn (A 94). „90 Prozent der Wagen werden binnen einer halben Stunde das Gelände wieder verlassen können“, wirbt UBM-Chef Mayer für seinen Expreßbahnhof.

Billig ist das zukunftsweisende Projekt nicht. Mit 230 Millionen Mark Baukosten ist es sogar das mit Abstand teuerste Einzelvorhaben im Rahmen der „Infrastrukturplanung KLV“, die Gesamtausgaben von 1,1 Milliarden Mark für 34 Bundesbahn-Standorte vorsieht. Doch die Investitionen in dieses Transportsystem sind durch die Marktentwicklung gerechtfertigt. Wurden 1990 etwas mehr als 26 Millionen Tonnen im KLV bewegt, richtet sich der Bundesbahn-Vorstand für das Jahr 2000 auf 50 bis 56 Millionen Tonnen ein.

Überproportional soll dabei der internationale Verkehr zulegen: In ihrer Brüsseler Erklärung von 1990 streben die europäischen Bahnen eine Verdreifachung der grenzüberschreitenden KLV-Transporte bis zum Jahr 2000 an. „Über 60 Prozent des Kombinierten Verkehrs werden dann international sein“, prophezeit Hauptabteilungsleiter Albert Richey von der Bundesbahn in Frankfurt.

Um dieses Ziel zu erreichen, wollen die Eisenbahner auch in der Datenverarbeitung mit ihren Geschäftspartnern gleichziehen. Denn den Kunden genügt es nicht mehr zu wissen, ob ein Waggon bereits unterwegs ist oder den Zielbahnhof erreicht hat, sie wollen auch jederzeit den aktuellen Standort jedes einzelnen Waggons und Containers feststellen können.

Abhilfe verspricht ein engmaschiges Datennetz, das Bundesbahn und Reichsbahn derzeit entlang der Schienen aufbauen. Buchstäblich alle Informationen, die mit dem Transport einer Ladeeinheit zusammenhängen, werden in dieses System integriert. Bald sollen sogar die Absender und Empfänger der Frachten Zugriff auf das Datennetz bekommen.

Daß die Noch-Behörde Bundesbahn sich plötzlich so viele Gedanken über die Bedürfnisse ihrer Kunden macht, kommt nicht von ungefähr. Verkehrsexperten erwarten ab 1993 einen verschärften Wettbewerb durch ausländische Discount-Spediteure, weil dann jeder Europäer freien Zugang zu allen Märkten innerhalb der Gemeinschaft hat. Freilich nehmen die Bundesbahn-Manager die bevorstehende Invasion der Billigbrummis noch relativ gelassen, denn ob bei denen nicht nur der Preis, sondern auch die Leistung stimmt, muß sich erst noch erweisen.

ULF J. FROITZHEIM

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