Fast 15 Millionen Menschen in Deutschland stammen aus Familien, in denen Deutsch eine Fremdsprache war oder ist. Nicht wenige entziehen sich dem medialen Mainstream per Satelliten-TV und Internet. Wer sie erreichen will, muss Zugang finden zu diversen Paralleluniversen – falls es denn den Aufwand lohnt.
Ein knappes Fünftel der deutschen Bevölkerung steht soziologisch gesehen vor einem »Migrationshintergrund«. Dieser politisch korrekte Sammelterminus verrät nichts über die so etikettierten Menschen. Der in Frankfurt geborene Deutschtürke landet ebenso in dieser Schublade wie der Asylbewerber aus Darfur und der im Rentenalter übergesiedelte Kasachstandeutsche. Dass jemand einen Migrationshintergrund hat, sagt nichts aus über seine tatsächliche Integration und seine Integrationschancen – also darüber, was Kommunikationsverantwortliche hierzulande tun können und müssen, um diese Menschen zu erreichen.
Die Erkenntnis, dass es hier etwas zu tun gibt, nicht zuletzt wegen wachsender Kaufkraft, begann sich erst in den neunziger Jahren durchzusetzen. »Jahrzehntelang wurden Einwanderer von den deutschen Unternehmen regelrecht übersehen«, sagt Aysun Ertan (41), die lange als Redakteurin in der deutschen Dependance der Tageszeitung Hürriyet gearbeitet hat. Seit 2000 berät die gebürtige Frankfurterin deutsche Firmen beim Ethno-Marketing – und warnt sie eindringlich vor gängigen Klischees über die türkische Zielgruppe, deren Entwicklung sie als Einwandererkind und Reporterin selbst miterlebt hat. »So wie es junge Türken gibt, die in einer Moschee beten gehen, gibt es ältere, die einen Roadster fahren«, erklärt Ertan gerne und verweist auf den entscheidenden Punkt: »Die einzige Gemeinsamkeit aller Generationen ist zweifelsfrei – auch wenn sie fließend Deutsch sprechen – die Sprache ihres Herzens.« Also Türkisch.
Anders als bei den knapp zweieinhalb Millionen Menschen türkischer Abstammung lässt sich bei den Zuwanderern aus dem Gebiet der Russischen Föderation nicht einmal eindeutig feststellen, wie groß diese vielschichtige Personengruppe ist. Harte Zahlen gibt es nicht, die Angaben schwanken zwischen einer und 4,5 Millionen »Russland-Deutschen«. Für die historischen Emigranten aus Europa und Fernost war es so einfach wie nahe liegend, sich in Amerika mit anderen Menschen zusammenzutun, die ihre Sprache und Kultur teilten. Die Ankömmlinge waren hin- und hergerissen zwischen Integration in die neue Gesellschaft und dem Sog des Vertrauten. Identität war zugleich Abgrenzung, ihr idealer Ausdruck die eigene Zeitung in der alten Muttersprache. Die Erfindung der audiovisuellen Massenmedien änderte jedoch alles. Radio und TV erwiesen sich als Moto- ren der Assimilation: Frequenzen waren zu knapp, um sie Minderheiten zu überlassen. Wer jetzt noch mitreden wollte, hatte keine andere Wahl mehr, als sich voll und ganz auf die Landessprache einzulassen, die Immigrantenpostillen versanken in der Bedeutungslosigkeit. In Europa verlief die Entwicklung der Medienszene zunächst anders: »Gastarbeiter« aus der Türkei, Italien oder Griechenland konnten am Kiosk ihre Blätter aus der Heimat kaufen. Die Tageszeitung Hürriyet, die zu guten Zeiten in Deutschland in weit über 100.000 Haushalten gelesen wurde, baute für die regionale Berichterstattung eine 60-köpfige Redaktion auf. Im Rundfunk war jedoch, von ein paar pflichtschuldig angebotenen Minderheitensendungen abgesehen, bis in die neunziger Jahre hinein auch immer die Landessprache angesagt.
Digitalisierung: Das Pendel schwingt zurück
Seit Breitbandkabel, Satelliten und das Internet Raum bieten für Dutzende von Kanälen und Online-Content, ist der Bildschirm jedoch kein Gleichmacher mehr, der zur kommunikativen Anpassung zwingt, sondern eine Brücke zu einer Fülle virtueller, subkultureller Communities. Türkische Migranten gehören zu den besten Kunden der Satellitenschüssel-Hersteller und sind begeisterte Onliner. Wenn Aldi kyrillische Computertastaturen anböte, wären sie vermutlich bald vergriffen angesichts der Flut russischsprachiger Websites mit Domain-Endung ».de«.
Allerdings ist es ein Trugschluss, dass die fremdsprachigen Medien den gesamten Markt der Menschen mit Migrationshintergrund im Griff hätten. So ist die verkaufte Auflage von Hürriyet auf 36.000 Exemplare zusammengeschmolzen – was für Aysun Ertan auch eine Generationenfrage ist: »Viele der alten Stammleser sind in die Türkei zurückgekehrt oder gestorben.« Abgesehen vom Sat-TV, das »die ganze Familie rund um die Uhr unterhält«, informierten sich die Jüngeren zunehmend im Internet und läsen häufiger auch deutsche Zeitungen. Tatsächlich hat schon etwa jeder dritte Angehörige der Bevölkerungsgruppe die deutsche Staatsangehörigkeit. Wie viele Leser die anderen türkischen Zeitungen Türkiye, Sabah, Milliyet und Cumhuriyet noch erreichen, ist deren Betriebsgeheimnis.
Auch die Reichweite der Printmedien in russischer Sprache ist endlich. Eine in Deutschland produzierte Tageszeitung gibt es nicht. Die Berliner Wochenzeitung Europa Express verkauft knapp 80.000 Exemplare. Die Russkaja Germanija ist mit 42.000 Verkäufen schon deutlich kleiner. Die überregionalen Monatstitel Ewrejskaja Gazeta (Jüdische Zeitung) und Kstati (A propos) melden nicht, ihre verbreiteten Auflagen bewegen sich nach Recherchen der Münchner TV-Journalistin Olga Richter aber in vergleichbaren Regionen.
Von Ausnahmen abgesehen, ignoriert die deutsche Wirtschaft die Blätter mit den kyrillischen Lettern, oder sie verlässt sich wie bei der türkischen Szene darauf, dass die Redakteure die Inhalte korrekt für ihre Leser übersetzen. »Für PR in den russischsprachigen Massenmedien interessieren sich praktisch nur große Telefongesellschaften, einige Rechtsanwälte und Repräsentanten von Versicherungen«, hat Richter beim gezielten Querlesen festgestellt. Ein Blick auf die Presse- und Investor-Relations-Webseiten von DAX-30-Konzernen bestätigt den Eindruck: Fremdsprachige Informationen sind nur in der Börsensprache Englisch erhältlich. Russisch oder Türkisch sprechen deutsche Öffentlichkeitsarbeiter allenfalls dann, wenn ihre Firma im Zuge eines Ethno-Marketing-Programms die jeweiligen Migranten bedient oder in deren Herkunftsländern Geschäfte macht. Ansonsten herrscht pragmatischer Zugang vor. Falls tatsächlich einmal eine Anfrage komme, für die ein Muttersprachler benötigt werde, sagt ein Konzernsprecher, vermittle man einfach einen Ansprechpartner bei der Landesgesellschaft in Ankara oder Moskau.
Das Gesundheitswesen kommuniziert mehrsprachig
Nur eine Branche bemüht sich besonders um einen Dialog mit Stakeholdern, die des Deutschen nicht mächtig sind: das Gesundheitswesen. Die Gmünder Ersatzkasse bietet ihre Leistungsbroschüre in Englisch, Französisch, Russisch und Türkisch an. Die AOK verlinkt auf ihrer Homepage »Infos auf Türkisch«. Das Krebsforschungszentrum Heidelberg erklärt türkischen Patienten, was bei häufigen Tumorarten zu beachten ist. Doch jeder, der für Vielsprachigkeit Arbeitskräfte bezahlen muss, lässt meist nur einen kleinen Ausschnitt seiner PR-Materialien in mehrere Sprachen übersetzen.
Selbst wenn ein PR-Chef daran glauben würde, dass sich Investitionen in die Ansprache ethnischer Mikro-Zielgrüppchen auszahlen, könnte er dies kaum einem Controller vorrechnen – unter anderem, weil ihm die Sprachkenntnisse fehlen, um die Qualität der Arbeiten beurteilen zu können. Ethno-Marketing-Expertin Ertan warnt davor, einfach einen Muttersprachler damit zu betrauen und sich darauf zu verlassen, »dass der das schon richtig macht«. Sie kann auf genug Beispiele verweisen, bei denen sich mutige Manager eine blutige Nase geholt haben. So kommt es zu dem stillschweigenden Konsens, die Öffentlichkeitsarbeit im Migrationsumfeld als Holschuld der ethnischen Medien zu behandeln.
Aus dem Kundenmagazin Cision Profile 01 2008
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