Graichens Fall oder: Trumps deutsche Vettern

Die Welt steht am Abgrund, aber einflussreiche Akteure aus Parteien und Medien benehmen sich, als lebten sie auf einem anderen, einem sicheren und fernen Planeten – und verplempern wertvolle Zeit mit anachronistischen Machtspielen.

Niemand mag Vetternwirtschaft – außer, er ist selbst einer der Vettern. So könnte man das, was auf der politischen Bühne gerade gespielt wird, auf den Punkt bringen und breite Zustimmung ernten. Eine solche Aussage funktioniert universell. Sie lässt sich schön auf Akteure jeglicher Herkunft projizieren. So entsteht der Eindruck, es seien alle gleich erbärmlich und charakterschwach, die Grünen nicht besser als die Schwarzen. Diese Art der politischen Auseinandersetzung schadet nicht nur den Angegriffenen, sondern dem Vertrauen in die demokratischen Institutionen insgesamt. Aber es relativiert die Schandtaten der Skrupellosen oder lenkt von ihnen ab.

Die Gefährlichkeit des Vorwurfs der Vetternwirtschaft liegt in seiner Pauschalität, im Negieren des jeweiligen Falls, in der mutwilligen Maßstabslosigkeit, die zu rhetorischer Maßlosigkeit führt. Die Behauptung kommt mit vorgetäuschter Objektivität daher, wie ein Faktum, das für sich stehen kann, ohne dass die Öffentlichkeit den Kontext kennen müsste oder den Zweck der Attacke und die (mangelnde) Seriosität ihrer Urheber. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft gehört zum klassischen Handwerkszeug von Spin-Doktoren, Kampagnenjournalisten und Desinformationsprofis. Und leider kennen sich Menschen, die sich schon oft und zu Recht damit konfrontiert sahen, am besten mit den Spielregeln aus. Sie haben mehr Übung. Merke: Wann immer jemand „haltet den Dieb!“ ruft, sollte man skeptisch werden. Angemessen unfein gesagt: Der Furz ist meist dem entwichen, der mit vorwurfsvoller Miene die Nase rümpft.

Was in Berlin derzeit abgeht, stinkt wirklich zum Himmel. Die Klimakatastrophe schreitet voran, mit Dürren und Hochwasser in Südeuropa, in einigen unserer Hauptanbaugebiete für Obst und Gemüse, mit schmelzenden Alpengletschern und absehbarer Trinkwasser-Rationierung in bisher nicht betroffenen Gebieten. Aber was machen die eigentliche und die regierungsinterne Opposition? Sie tun alles, um Robert Habeck wie einen Filzokraten erscheinen zu lassen, und nötigen ihn zu kontraproduktiven Personalentscheidungen.

Deshalb gehört der wohfeile Nepotismus-Vorwurf einmal grundsätzlich dekonstruiert. Hierzu ein Rant im FAQ-Format:

Was ist Vetternwirtschaft überhaupt?

Vettern- oder Freunderlwirtschaft ist ein Euphemismus für eine Spielart von Korruption, die der persönlichen Bereicherung und/oder dem Machterhalt dient. Der ein öffentliches Amt bekleidende Vetternwirt schiebt seinen Cousins und Cousinen, Kindern, Geschwistern, Amigos oder Lebenspartner:innen gut bezahlte Posten oder Aufträge zu oder engagiert sie als Strohleute, um öffentliches Geld abzuzweigen oder Kritiker ruhigzustellen. Das Spektrum der Taten reicht vom profanen Wahlgeschenk bis zu Kickback-Geschäften, die sich bei Staatsoberhäuptern oder Regierungschefs gerne darin äußern, dass nahe Angehörige in den Besitz von Firmenanteilen, Immobilien oder maritimen Mobilien kommen, die selbst Mitglieder royaler Dynastien vor Neid erblassen lassen. Umgekehrt gilt: Wer nichts abgreift, nicht in die eigene Tasche oder die der Seinen wirtschaftet und der Allgemeinheit auch keinen Schaden zufügt, für den passt das Wort nicht. „Graichens Fall oder: Trumps deutsche Vettern“ weiterlesen

Fachkräftemangel trifft VG Wort (2)

Wer (1) hinter eine Headline schreibt, muss auch eine (2) liefern. Hier ist sie – mein Versuch, die Gremlins der VG Wort an ihre Aufgabe und Verantwortung zu erinnern. Denn die Organisation steht kurz vor einem gefährlichen Vakuum im Management.

Gremlins nannte Günther Jauch einst die Gremien-Mitglieder der ARD. Ich habe Spaß an solchen in der bayerischen Politik-Folklore „Derblecken“ genannten Sottisen, vor allem dann, wenn sie einen wahren Kern enthalten. Was das zweitoberste Gremium der VG Wort angeht, kann ich mir anmaßen, so zu reden, schließlich kenne ich nicht nur die meisten Protagonisten, sondern gehörte lange genug selbst diesem Verwaltungsrat an (von 2003 bis 2019). 

In Teil (1) dieser Blog-Episode hatte ich schon versucht deutlich zu machen, weshalb (nicht nur) wir Autor:innen (sondern auch die Verlegerseite) gute Kandidat:innen für die anstehende VR-Wahl am 17. Juni brauchen. Nicht so deutlich habe ich dabei gemacht, wie enttäuscht ich von der Performance dieses Zirkels in jüngster Zeit bin. Zu gerne würde ich die Sitzungsprotokolle von 2022 und vielleicht auch von 2021 lesen, um mir einen Reim darauf machen zu können, was da in der Unteren Weidenstraße und an den Zoom-Bildschirmen passiert ist. Denn jetzt, zum Jahreswechsel, klafft an einer ziemlich exponierten Stelle des Verwaltungsapparats ein Loch, eine nicht zu erwartende Vakanz, ein Vakuum. Es existiert nur deshalb, weil das Aufsichtsgremium, der Verwaltungsrat, offensichtlich verlernt hat, mit Meinungsunterschieden vernünftig umzugehen – und weil nicht genug seiner Mitglieder die Konsequenzen ihrer Entscheidungen oder besser Nicht-Entscheidung überblickt haben. Mir fehlt da strategischer Weitblick und Kompromissfähigkeit bei Leuten, die ich bisher sehr respektiert habe.

Die Lücke, die ich meine, ist der gleichzeitige Abgang eines der beiden Geschäftsführer und einer wichtigen Fach- und Führungskraft, „Fachkräftemangel trifft VG Wort (2)“ weiterlesen

Fachkräftemangel trifft VG Wort (1)

Urheber, die sich als Verwaltungsratsmitglieder in der Verwertungsgesellschaft Wort engagieren, werden ab sofort fair für die Zeit entschädigt, die sie in Sitzungen verbringen. Die Gremienarbeit attraktiver zu machen, war dringend geboten: Die VG Wort braucht kräftige Impulse für ihre Aufholjagd ins Digitale.

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Wer die Entwicklung der VG Wort im 21. Jahrhundert mitverfolgt hatte und nun die Unterlagen zur außerordentlichen Mitgliederversammlung am vorigen Samstag studierte, dürfte sich verwundert die Augen gerieben haben: Bei den Anträgen von Mitgliedern stand mein Name neben dem des Kollegen Oliver Eberhardt, der sich bei den Freischreibern ums Urheberrecht kümmert. Wir haben gemeinsam durchgesetzt, dass die finanzielle Entschädigung für die Ehrenamtlichen kräftig aufgestockt wird (siehe unten).

Wenn das Anliegen stimmt, geht’s auch ohne Fraktionsdisziplin: Antrag von 70 VG-Wort-Mitgliedern vom 10.12.2022

Nein, ich bin immer noch meinem DJV treu, ich bin nicht übergelaufen. Es ist im Gegenteil so, dass sich bei dem Freiberufler-Verband, der noch vor sechs Jahren in der VG Wort zu Recht als großes Schreckgespenst galt und hier im Blog mehrfach Thema war, einiges getan hat. Damals drängten sich beim Freischreiber e.V. ein paar Kolleg:innen darum, das Thema zu besetzen, die nie verstanden haben, wie das Urheberrecht im Allgemeinen und die VG Wort im Besonderen funktioniert. Sie wussten alles besser und knallten uns Funktionären wildeste Anschuldigungen um die Ohren. Oliver hingegen hat das getan, was gute Journalisten tun: Er hat zugehört und sich schlau gemacht. „Fachkräftemangel trifft VG Wort (1)“ weiterlesen

Uns geht’s wohl zu gut – immer noch

Wer ein privates Fest in einer Gaststätte besucht, ist entweder Teil des Problems oder weiß nicht, an wem er mehr verzweifeln soll: an den Gastronomen oder den anderen Gästen. Ein Rant über unseren Umgang mit Essen und Trinken.

Das Wort „Lebensmittelverschwendung“ wird man im Jahr 2022 schon mal gehört haben. Du oder Sie auch, oder? An einem Teil der Menschen, denen ich am Wochenende zum ersten und vorläufig letzten Mal begegnet bin, muss es aber vorbeigerauscht sein, ohne irgendwelche Reaktionen im Gehirn zu hinterlassen.

Es war die Hochzeitsfeier eines guten Freundes, nicht mehr der allerjüngste Bräutigam, aber bedeutend jünger als ich. Er arbeitet in einem weltbekannten Schweizer Unternehmen in der Finanzkommunikation, seine Frau ist Kardiologin. Die beiden können es sich also leisten, in gediegenem Rahmen zu feiern. Da Freunde und Familie überwiegend im süddeutschen Raum und der Schweiz zu Hause sind, hatte sich das Brautpaar ein Hotel am Bodensee ausgesucht. Und damit jeder Gast (m/w/d) mit der Beköstigung zufrieden ist, hatte das Brautpaar auf der Antwortkarte zur Einladung abgefragt, ob die Eingeladenen unter Allergien oder Unverträglichkeiten leiden oder ob sie ein vegetarisches Gericht wünschen.

Tja, und dann landeten doch mehrere feinste Rumpsteaks im Müll. „Uns geht’s wohl zu gut – immer noch“ weiterlesen

Naive Atom-Träume

Atomkraftwerke sind plötzlich wieder recht beliebt in Deutschland. Ihr Image war vermutlich nie besser. Wahr ist zwar, dass sie besser sind als ihr Ruf bis dato war. Neue zu bauen, ist dennoch kein Beitrag zur Lösung unserer Energieprobleme. Hier zur Erinnerung ein paar vergessene oder verdrängte Fakten.

AKWs brauchen viel Wasser 

Atomkraftwerke sind, ohne Witz, große Wasserkocher. Die bei der Kernspaltung anfallende Zerfallswärme wird über ein zweistufiges Kühlsystem abgeführt. Der zweite, von der Radioaktivität abgeschirmte Teil sieht so aus, dass Kühlwasser verdampft und eine Turbine antreibt, die dann den Strom erzeugt. Wer von der A8 aus bei Burgau mal nach Norden geblickt hat, kennt die Dampfschwaden der Kühltürme von Gundremmingen. Wasser aus der Donau wurde zu Wolken. AKWe stehen auch an Isar, Weser, Elbe, Neckar, Main und Rhein. „Naive Atom-Träume“ weiterlesen