Kein weiterer Ausbau
Die Telekom mustert ihren Überwachungsservice aus. Viele Investoren fühlen sich verschaukelt.
Es war wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ausgerechnet die Fernmeldesparte der Deutschen Bundespost, sonst immer gescholten wegen ihrer stattlichen Gebühren, beglückte den Markt mit einer neuen Technologie, deren größter Vorzug – mit läppischen sechs Mark Grundgebühr pro Monat – ihre extrem günstige wirtschaftliche Nutzung war. Noch dazu sollte Temex (Telemetry Exchange), so der Name der postalischen Innovation, zu einem Musterbeispiel an Vielseitigkeit werden: Temex als allzeit bereiter Nachtwächter und Parkplatzanweiser, Temex als Stromableser und Umweltschützer, Temex als Schutzengel für kranke Menschen.
Dem Märchen fehlt freilich das Happy-End. Zwar ersannen viele Elektrohandwerker, Wachdienstunternehmen und Softwareentwickler pfiffige Dienstleistungen und praktische Anwendungen. Doch als sie jetzt die Früchte ihrer jahrelangen Entwicklungsarbeit ernten wollten, verpaßte ihnen der Bonner Telekom-Vorstand einen harschen Dämpfer: „Die Telekom ist verpflichtet, nach unternehmerischen Gesichtspunkten zu handeln und somit alle Produktangebote kostendeckend zu gestalten.“
Der Temex-Dienst aber sei nicht kostendeckend, und um „mögliche Fehlinvestitionen der Kunden zu vermeiden“, dürften die Fernmeldeämter Aufträge nur noch mit dem Hinweis „kein weiterer Ausbau, keine weitere Produktentwicklung, gegebenenfalls Preisanhebung“ bestätigen. Glaubten viele Betroffene anfangs noch an ein böswilliges Gerücht, sehen die Skeptiker inzwischen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Denn auf besorgte Anfragen von Unternehmern und Vorsitzenden einschlägiger Branchenverbände antworten Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling, die Generaldirektion Telekom und die örtlichen Fernmeldeämter bislang lediglich mit einem hinbaltenden Standardtext.
Nach dieser offiziellen Sprachregelung soll Temex dort, wo die technische Infrastruktur bereits existiert, zwar zunächst weitergeführt werden – bis zum Jahr 1996 haben Nutzer ohnehin einen Rechtsanspruch auf die Fortführung des Dienstes. Doch in bisher unversorgten Wirtschaftsräumen werden Anschlüsse nur noch dann gelegt, wenn mindestens 50 Prozent Auslastung durch feste Aufträge sichergestellt sind.
Da eine Warnung vor „Fehlinvestitionen“ inzwischen gleich mitgeliefert wird, trauen sich die im Temex-Markt engagierten Dienstleister – wie zum Beispiel Betreiber von privaten Notrufzentralen – nicht mehr, für ihren Service noch zu werben. „Ich habe Hemmungen, meinen Kunden dieses System zu empfehlen“, seufzt Roland Horstkotte, Abteilungsleiter der HBI Sicherheitsdienste GmbH in Offenbach, stellvertretend für seine Branche. Nach Ansicht von Frithjof Schaefer, Geschäftsführer des Verbands der Sachversicherer (VdS) in Köln und ausgewiesener Temex-Befürworter, ist die Verunsicherung durchaus beabsichtigt: „Der Vorstand der Telekom hat wohl beschlossen, Temex sterben zu lassen.“
Inzwischen formiert sich allerdings breiter Widerstand gegen diese stille Einschläferung. „Wenn der Dienst gänzlich eingestellt würde, käme dies einer Düpierung ohne Beispiel gleich“, entrüstet sich Heinz-Werner Schult, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands der Deutschen Elektrohandwerke in Frankfurt am Main. „Die Investitionen der Privatwirtschaft übersteigen bereits heute die Grenze von 500 Millionen Mark.“
Als Wortführer einer Pro-Temex-Allianz trommelte der Handwerksfunktionär Repräsentanten aller Interessengruppen, die den preiswerten Kommunikationsdienst nutzen wollen, zu einer Krisensitzung zusammen. Und sie kamen alle – von der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (wichtigste Anwendung: Fernablesen von Zählerständen) über den Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (Betrieb preiswerter Notfall-Meldezentralen) bis hin zum Deutschen Städtetag (Verkehrsleitsysteme). Ziel dieser konzertierten Aktion: Möglichst viele Organisatoren sollen einen gemeinsamen Appell an den Aufsichtsrat der Telekom unterschreiben, damit der angeblich unwirtschaftliche Dienst doch noch eine reelle Chance bekommt.
Wütend reagieren viele Unternehmen vor allem auf die offizielle Einschätzung der Telekom, daß „eine Rentabilität auch mit einschneidenden Änderungen des Temex-Dienstes langfristig nicht zu erreichen“ sei. „Das ist völliger Unsinn“, wettert der Hamburger Computer- und Kommunikationsspezialist Gottfried Neuhaus, „es gibt durchaus Möglichkeiten, Temex in die schwarzen Zahlen zu führen.“
So sei es technisch kein Problem, das Temex-System auch beim elektronischen Zahlungsverkehr im Einzelhandel einzusetzen, also Kreditkartendaten über das vorhandene Telefon von der Ladenkasse zur Bank zu übertragen. Weil Temex in einem ansonsten ungenutzten Frequenzbereich arbeitet, kann während des Datentransfers sogar telefoniert werden. Daß dieses Verfahren in der Praxis tadellos funktioniert, bestätigte ein sechsmonatiger Feldversuch in Berlin, der – so Klaus C. Richter, Geschäftsführer der Racal Datacom GmbH in Neu-Isenburg – „sehr gut gelaufen ist“. Doch die Mühe war vergebens. Denn auch diese Temex-Anwendung will die Telekom nicht weiterverfolgen.
Kein Wunder, daß sich bei den Temex-Fans der Verdacht verstärkt, die Kostenargumente seien nur vorgeschoben. Der Münsteraner Mittelständler Volker Remme, der als Chef der Remme Nachrichten-Technik (RNT) bereits seit den ersten Pilotprojekten Anfang der achtziger Jahre an Temex-Anwendungen arbeitet, will nicht einsehen, daß das krasse Mißverhältnis zwischen Kosten und Einnahmen über fünf Jahre lang niemandem aufgefallen sein soll.
Außerdem ärgert ihn eine andere Ungereimtheit: Die endgültige, technisch ausgereifte Version von Temex sei überhaupt erst seit Oktober vergangenen Jahres verfügbar. „Da läuft ein Dienst drei, vier Monate“, wundert sich Remme, „dann wird er ganz plötzlich kaputtgequatscht.“
Telekom-Kritiker Remme glaubt den Grund für den plötzlichen Schwenk zu kennen. Er wittert den starken Druck einer einflußreichen Lobby, die im preiswerten Temex eine Bedrohung für ihre konventionellen, wesentlich aufwendigeren Systeme sehe. Tatsächlich würde ein Aus von Temex viele Geschäftsinhaber vor die Alternative stellen, eine sehr viel teurere – vom Verband der Sachversicherer anerkannte – Alarmanlage zu installieren oder bei der Versicherung abzublitzen. „Die können sich’s dann aussuchen“, spottet Sicherheitsexperte Roland Horstkotte, „entweder barfuß oder Lackschuh.“
Die Telekom Generaldirektion in Bonn arbeitet derweil unbeeindruckt an ihrem halbwegs geordneten Teilrückzug. „Wir sind seinerzeit von falschen Voraussetzungen ausgegangen“, gesteht ein Sprecher des Vorstands, „und haben Temex als flächendeckenden Massendienst geplant.“ Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, daß sich ein im Funktionsumfang reduziertes Temex unter bestimmten Voraussetzungen finanziell durchaus rechne.
Ein abgemagertes System aber würde zumindest Frithjof Schaefer nicht durchgehen lassen. Der Manager des Versicherungsverbandes VdS ist von der ursprünglichen Konzeption noch immer überzeugt. „Es würde mich regelrecht freuen, wenn jetzt ein paar Millionenklagen auf die Telekom zukämen“, macht er seinem Ärger Luft, „dann würden denen in Bonn vielleicht mal die Augen aufgehen.“
ULF J. FROITZHElM
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