Zwar sitzt Deutschlands größte Programmschmiede, die SAP AG, nicht in Bayern. Dennoch kommt praktisch kein Computeranwender in der Republik an Software aus dem Freistaat vorbei.
Die Nachricht aus Übersee kam für Wolfgang Gentzsch völlig unerwartet:
„Wir haben erst mal geschluckt, als wir das gelesen haben“, erinnert sich der Chef der Genias Software GmbH im oberpfälzischen Neutraubling. Die Supercomputer-Experten der US-Raumfahrtagentur hatten „Codine“, eine Genias-Eigenentwicklung, mit elf amerikanischen Programmen verglichen und legten nun die Auswertung vor. Resultat: Die Software aus der Oberpfalz erfüllte auf Anhieb mehr der geforderten Kriterien als jedes der US-Konkurrenzprodukte – Sieger nach Punkten (siehe Kasten Seite 32).
Das transatlantische Lob war auch für den Geldgeber von Genias, die Münchner Atlas Venture GmbH, eine willkommene Überraschung. Seit dem Testbericht häufen sich nämlich schon Anfragen von Unternehmen aus dem Ausland, die ein solches Produkt gerne vertreiben würden. Ein derartiges Tempo bei der Markterschließung hatten die Wagnisfinanzierer dem Team des Unternehmers Gentzsch, der im Hauptberuf Informatikprofessor an der Fachhochschule Regensburg ist, gar nicht abverlangt.
Kleine innovative Unternehmen wie die 18köpfige Genias sind es, die dem typischen bayerischen Software-Menü seine spezifische Würze verleihen – wenngleich nur wenige Programmschmieden außerhalb der großen Ballungsräume anzutreffen sind. Dagegen hat bis heute keiner der großen Generalisten der Branche – wie SAP, Software AG oder Cap Debis – seinen Hauptsitz im Freistaat, sondern im Rhein-Main-Neckar-Raum zwischen Frankfurt und Stuttgart. Dort hatte sich, als Anfang der 80er Jahre der EDV-Boom begann, längst eine Informatik-Szene etabliert, die damals völlig auf die schwäbische IBM-Zentrale und deren Großrechner fixiert war.
Für alles, was mit dem Personalcomputer zu tun hat, entwickelte sich jedoch das bei den Amerikanern so beliebte Oberbayern zum Eldorado: Die Vertriebsdependancen, die Apple und Compaq vor über zehn Jahren in München einrichteten, wurden zu Kristallisationskernen einer beispiellosen Ballung von High-Tech-Unternehmen und einschlägigen Vertriebsfirmen.
Führende US-Softwarekonzerne, allen voran Microsoft, später auch Lotus
Development, Oracle und Informix, entschieden sich ebenfalls für München und deutschen hier ihre Programmpakete ein. Gerade in wachstumsträchtigen Sparten wie Computergrafik oder Multimedia entstehen in und um die Landeshauptstadt ständig neue Unternehmen,
die mit ausgeklügelten Paketen aus Software und Hardware international
reüssieren. So konnte sich die Fast Electronic GmbH mit ihren Bildverarbeitungssystemen „Screen Machine“ und „“Video Machine“ in einer Marktnische breitmachen, die die Konzerne ignoriert hatten.
Oft unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit arbeiten im Großraum München Softwarehersteller, die auf speziellen Anwendungsgebieten eine führende Steilung einnehmen. Namen wie Nemetschek Programmsystem, Fidelio Software oder Kratzer Automatisierung sind nur Insidern geläufig, obwohl es sich um erste Adressen bei Bau-Software, Hotelverwaltungssystemen und – an vorderster technologischer Front – Neuronalen Netzen für die Industrie handelt. So beziffert das Londoner Marktforschungsinstitut Dataquest den Anteil von Nemetschek am deutschen Markt für Architektur-CAD-Programme auf 22 Prozent. Demnach ist das schnell wachsende Münchner Systemhaus (Softwareumsatz 1993: 74 Millionen Mark) in der Bundesrepublik klarer Marktführer und europaweit den weitaus bekannteren Herstellern Autodesk und Intergraph dicht auf den Fersen.
Überregionale Bedeutung hat auch die Ixos Software GmbH aus dem Münchner Vorort Grasbrunn. Das Unternehmen ist nicht nur ein wichtiger Anbieter von elektronischen Archivsystemen, sondern soll im Auftrag der SAP AG dafür sorgen, daß deren betriebswirtschaftliche Standardsoftware R/3 reibungslos mit dem neuen Microsoft-Betriebssystem NT zusammenarbeitet. Der Ixos-Umsatz stieg im Geschäftsjahr 1993/94 (30. Juni) – freilich beflügelt vom weltweiten
Erfolg der SAP – um 18 Prozent auf 20,5 Millionen Mark.
So positiv entwickelt sich allerdings nicht die gesamte bayerische Softwarebranche. Das Vordringen der Standardsoftware hinterläßt Bremsspuren in den Umsatzkurven der Projektspezialisten, die für ihre Kunden individuelle Lösungen stricken. Am schwersten traf es die Digital Equipment GmbH in München, die sich mit ihrer geplanten Metamorphose vom Hardwareproduzenten zum Lösungsanbieter reichlich schwertut. Jetzt setzt der Ableger des gleichnamigen US-Konzerns reihenweise überzählige Softwerker mit Aufhebungsverträgen auf die Straße.
Die projektlastige Münchner Softlab GmbH, mittlerweile von der BMW
AG übernommen, konnte 1993 ihren Umsatz gegenüber dem Vorjahr nur noch von 150 auf 156 Millionen Mark steigern. Die Berater der Ismaninger
Plaut-Gruppe quälten sich von 67 auf 70 Millionen Mark. Zum Vergleich: Die Deutschland-Zentrale des Weltmarktführers für PC-Software, Microsoft (MS), die in Unterschleißheim etwa 800 Mitarbeiter beschäftigt, machte im selben Zeitraum einen Umsatzsprung von 494 auf
stattliche 713 Millionen Mark. In Deutschland wird kaum ein PC ohne MS-Software ausgeliefert.
Alle Zahlenbeispiele können jedoch nur eine schwache Ahnung davon vermitteln, wie viele Informatiker tatsächlich in Bayern am Werk sind. In amtlichen Statistiken kommen Worte wie „Software“ oder „Informationstechnik“ bis heute nicht vor. Die Dunkelziffer ist auf jeden Fall hoch. Experten schätzen, daß in vielen der Branchen, die im Freistaat stark vertreten sind, ein stetig steigender Anteil des Entwicklungsaufwands auf Software entfällt: Immer mehr technische Güter werden zuerst komplett im Computer simuliert, bevor die erste Version zum Anfassen gefertigt wird.
Und in der Kommunikations- und Medizintechnik, in der Elektronik, im Maschinen- und im Automobilbau sorgen programmierbare Komponenten für eine flexible Anpassung der Produkte an den Markt. Sollte sich gar die neueste amerikanische Definition des Begriffs „Software“ durchsetzen, wonach im multimedialen Zeitalter auch Fernsehprogramme zur weichen Ware zählen, wäre Software aus Bayern ohnehin allgegenwärtig: Leo Kirchs üppiges Filmarchiv, das nicht nur seine Haus-Sender Sat.1 und Pro7 beliefert, steht in Oberföhring vor den Toren Münchens.
Ulf J. Froitzheim
Netzwerk-Regisseur
Was die Genias-Software „Codine“ leistet
Schon der Software-Prototyp, den Genias nach nur einem Jahr Entwicklungszeit im Sommer 1993 vorgelegt hatte, stieß rasch auf reges Interesse der Fachwelt. Die frühreife Codine („Computing in Distributed Networked Environments“) verfügt nämlich über ungewöhnliche Fähigkeiten: Wie ein gewiefter Personalmanager verteilt sie die anstehenden Programm-„Jobs“ in einem heterogenen (also aus verschiedenartiger Hardware bestehenden) Computernetz auf die jeweils am besten geeigneten Prozessoren – ungeachtet ihres Typs oder Standorts.
So kann es sein, daß sie für voluminöse Aufgaben mal eine Gruppe gerade ungenutzter Workstations in Toulouse einspannt, bei nächster Gelegenheit einen Supercomputer in Stuttgart. Der menschliche Auftraggeber merkt von den damit verbundenen Datenfahrten auf der „Infobahn“ kaum etwas, es sei denn, er muß eine gebührenpflichtige Fernverbindung genehmigen.
Schon mehr als 20 Kunden (darunter BMW, Volkswagen und etliche Forschungseinrichtungen) haben dieses „Metacomputing“ installiert, um dezentrale Computernetze möglichst effizient auszulasten.
Sie sind der oder die 3101. Leser/in dieses Beitrags.