Blutleere Begriffe

WIRTSCHAFTSWOCHE 28/1997

Ein Computerprogramm der Kölner Universität enttarnt hohles Geschwätz.

Wenn Hans Messelken wieder einmal einen umfangreichen Text begutachten soll, nimmt er ihn am liebsten mit nach Hause in die Eifel. Nicht weil der Kölner Universitätsprofessor dort mehr Ruhe zum Lesen fände. Nein, sein eigener Computer erledigt diesen Job viel schneller als die betagten PCs am Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik.

WirtschaftsWoche 28/1997

Reichlich Rechenpower ist ein Muß für Messelken und seinen Assistenten Matthias Ballod. Die beiden Sprachwissenschaftler haben nämlich ein Programm namens Cut (Abkürzung für Computerunterstützte Textanalyse) entwickelt, das alle Arten von Text seziert und auf ihren Gehalt prüft – vom literarischen Klassiker bis hin zur profanen Bedienungsanleitung eines Videorecorders.

Dabei liefert Cut auf Knopfdruck nicht nur eine knappe Inhaltsangabe der Schrift, sondern vermittelt auch Wertungen über deren Verständlichkeit. Cut geht vor allem Schaumschlägern an den Kragen: Autoren, die ihre Leser mit blutleeren Begriffen strapazieren, werden unbarmherzig geoutet. Prominentes Opfer: Jürgen Rüttgers, mit dessen Presseverlautbarung zum Thema „Klonierung beim Menschen“ Messelken seinen Rechner für die Wirtschaftswoche gefüttert hat (siehe Grafik Seite 66). Die programmgenerierte Wertung in den Worten Messelkens: „Die abstrakten, meist undefinierten  Begriffe vermindern die Eindeutigkeit der Aussage.“ Die Frage, ob man klonen dürfe, komme überhaupt nicht vor. Urteil des Professors: „Sprache im Leerlauf.“

So klug die digitale Prüfung, von Messelken verständlich ausformuliert, auch anmutet: Von Künstlicher Intelligenz (KI) will der Wissenschaftler in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Zwar sei das Programm vollgestopft mit linguistischem Expertenwissen; es mache aber Forscher, Lektoren, Redakteure oder Kritiker keineswegs überflüssig. „Verstehen ist letztlich ein Willensakt“, ist Messelken überzeugt.

Zum Beweis der Leistungsfähigkeit der Software fütterten die Kölner kürzlich auch den umfangreichen Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ in den Rechner. Cut lieferte schon nach wenigen Minuten eine aussagekräftige Zusammenfassung des Textes von Daniel Goldhagen. Schon träumt Verständlichkeitsforscher Messelken vom Einsatz seiner computerisierten Textanalyse in Wirtschaft, Medien und Verwaltung. Marketing- und PR-Manager könnten beispielsweise über eine Art Controlling der schriftlichen Korrespondenz sicherstellen, daß alle Mitarbeiter der Kundschaft gegenüber eine einheitliche Sprache sprechen. Lektoren in Schulbuchverlagen könnten Texte dem erlernten Vokabular der jeweiligen Jahrgangsstufe besser anpassen. Und Redakteure hätten es leichter, eine Nachricht aus aufgeplusterten Politikerreden zu destillieren, ohne sich mit leeren Floskeln herumquälen zu müssen.

In vereinfachter Form eignete sich eine solche Software sogar zur Selbstkontrolle, glaubt Messelken: Redenschreiber, Schriftsteller und Journalisten kämen ihren eigenen rhetorischen Marotten auf die Spur. Und bei entsprechender Computerkapazität könnte eine automatisierte Textanalyse sogar die Trefferquote von Suchdiensten in Datennetzen steigern.

Sollten die Bürger dann wirklich via PC und Internet den Politikern auf den Mund schauen, müßte sich Minister Rüttgers hinter seiner Staatssekretärin Elke Wülfing verstecken. Die versteht – sagt Cut – das Kommunikationshandwerk viel besser als ihr Ressortchef. Nur in Behörden, die Messelken gern zur Zielgruppe seines Produkts zählen würde, läßt sich Cut nicht einfach einsetzen: Die vielen Abkürzungen im typischen Amtsdeutsch reduzieren die durchschnittliche Wortlänge derart, daß der Computer einen Text für verständlicher halten würde, als er ist.

Um die tatsächlichen Marktchancen zu eruieren, stellen die Kölner Cut bald ins Netz: Ab dem 15. Juli können Interessenten eigene Texte via Internet einreichen, die mit dem Cut-Prototyp auf Herz und Nieren geprüft werden (http://www.uni-koeln.de/ewfak/cut).

ULF J. FROITZHEIM

Sprache im Leerlauf

Hans Messelken: Textauszüge bekannter Autoren und ihre Computerauswertung

Franz Kafka: „Auf der Galerie“

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind, vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Da es aber nicht so ist, eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet. vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es [ … ]

Wertung*: Die extreme Häufung von Wortformen, die ein einziges Mal vorkommen (169 von 205), deutet auf einen schwer zu verstehenden Text hin: Üblicherweise versucht ein Autor, die wesentlichen Punkte mehrfach beim Namen zu nennen. Die vielen Variationen zeugen jedenfalls von einer starken ästhetischen Ausdruckskraft, auf die es bei literarischen Texten ankommt. Etwa jedes vierte Wort ist texttypisch, nicht zuletzt weil Kafka aus alltäglichen Wörtern ungewöhnliche Zusammensetzungen bildet, die in den Wortschatz-Datenbanken nicht enthalten sind (etwa „lungensüchtig“ statt „lungenkrank“ oder „schwindsüchtig“). Besonders auffällig ist die Häufung von Partizipien.

❏ Daniel Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker“

Wie einzigartig Höchstädters cri de coeur in seiner Nüchternheit, seiner „Unnormalität“ und auch seiner Hilflosigkeit ist, wird deutlich, wenn man ihn neben die antisemitischen Außerungen der Bischöfe, Kirchenführer und anderer bekannter Kirchenmitglieder stellt – etwa neben die Bemerkung von Pastor Martin Niemöller, des berühmten NS-Gegners, die Juden vergifteten alles, was sie berührten; oder neben die von Bischof Dibelius überlieferte Hoffnung, die jüdische Gemeinde würde aufgrund ihrer niedrigen Geburtenrate aussterben und Deutschland so von ihrer schädlichen Gegenwart befreien; oder neben die Versicherung von Bischof Wurm, er „bestreite mit keinem Wort“ das Recht des Staates, die Juden als ein gefährliches Element zu bekämpfen, das auf „religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet“ zersetzend wirke; oder neben die Außerung von Bischof August Marahrens, mit der er nach dem Krieg, im August 1945, sein Bekenntnis der Schuld, nicht für die Juden eingetreten zu sein, ergänzte: „Wir mögen im Glauben noch so sehr von den Juden geschieden sein, es mag auch eine Reihe von ihnen schweres Unheil über unser Volk gebracht haben, sie duften aber nicht in unmenschlicher Weise angegriffen werden.“

Wertung*: Stilistisch entspricht der Text einer gutbürgerlichen Tageszeitung. Er läßt sich ohne große Umstände einfach herunterlesen: Für einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch eine bemerkenswerte Leistung. Das Buch enthält jedoch auch syntaktische Problemzonen, die sich durch die Computeranalyse leicht lokalisieren lassen. Der längste Satz etwa erweist sich mit seinen 172 Wörtern als syntaktisches wie lexikalisches Schwergewicht. Allerdings mögen allzu häufige Wiederholungen dem Leser das Gefühl geben, man wolle ihm die sprachliche Botschaft einhämmern, um die Kraft der Argumente noch zu verstärken.

❏ Jürgen Rüttgers: „Klonierung beim Menschen“

Eineiigen Zwillingen darf die Einzigartigkeit und Schutzwürdigkeit ihrer Persönlichkeit nicht bestritten werden. Entscheidend für die Ächtung des Klonierens ist deshalb nicht die Tatsache der identischen Erbinformationen per se. Ethisch zu verwerfen ist die Klonierung deshalb,
a) weil Menschen zu einem bestimmten Zweck geplant und erzeugt werden
b) und weil Menschen sich erheben, über die Zweckgebundenheit noch zu schaffender Menschen
zu entscheiden.

Die Würde des Menschen und die Integrität der Person ergeben sich aber gerade daraus, daß die Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung prinzipiell frei und damit auch zweckfrei sind und bleiben. Die Entscheidung über den Zweck anderer Menschen kann nach dem Verständnis unserer Werteordnung niemandem zustehen. Sowohl die Zweckgebundenheit als auch die Fremdbestimmtheit von Menschen sind fundamental als menschenunwürdig abzulehnen. [ … ]

Wir brauchen internationale Vereinbarungen zur weltweiten Ächtung des Klonierens von Menschen. Der Eindeutigkeit der rechtlichen Bestimmungen in Deutschland steht der Handlungsbedarf auf der internationalen Ebene gegenüber.

Wertung*: Beim ersten Blick auf die Daten scheint der Text leicht verständlich zu sein – die Syntax ist einfach, die Satzgewichte nicht zu hoch. Geht man jedoch in die Feinheiten und betrachtet die Wortlisten, ändert sich der Eindruck. Hier häufen sich sogenannte Prinzipalia – Adjektive mit kategorischem Geltungsanspruch, die für die Unverbindlichkeitsprosa des Politjargons charakteristisch sind: etwa fundamental, prinzipiell.

Dieser administrative Stil, zu dem auch viele institutionelle Begriffe wie Handlungsbedarf und internationale Ebene gehören, erschwert den Zugang zum Text. Die abstrakten, meist undefinierten Begriffe vermindern die Eindeutigkeit der Aussage und vermitteln dadurch den Eindruck einer Sprache im Leerlauf.

* Formuliert von Professor Hans Messelken für meinen Beitrag in der WirtschaftsWoche

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