Bertelsmann – Wie ein virtuelles Unternehmen geht der Gütersloher Medienriese den E-Commerce an – ohne Befehle von oben.
Multimedia ist in Gütersloh kein Thema mehr. Online, offline: Das ist nach der neuen Philosophie von Thoma Middelhoff einerlei. Der einstige New-Economy-Propagandist auf dem Chefsessel der Bertelsmann AG will Profite sehen. Wie Manageridol Jack Welch von General Electric wünscht er sich einen Konzern, der mit allen seinen Aktivitäten die Nummer eins oder zwei auf dem Markt ist. Hat eine Tochter keine Chance, eine führende Position in ihrem Metier zu ergattern, bläst der Boss zum Zapfenstreich.
Soeben kam das nicht gerade von (An-)Bietern überrannte Auktionshaus Andsold selbst unter den Hammer – wenn es auch eher eine Reverse Auction wurde: Die Versteigerungsexperten von Ebay drückten das Mindestgebot für den Bertelsmann-Anteil immer weiter abwärts.
Der Ausstieg bei dem E-Auktionator, der mit Objekten wie Verona Feldbuschs Big-Brother-Lokusbox „po-pulär“ werden wollte, war kein Präzedenzfall: Die Kapitalvernichtungsmaschine Lycos, den schwächelnden Pfennigfuchserservice Evenbetter und den Fremdkörper Mediaways entsorgte Middelhoff durch Joint-Ventures mit der Telefonica-Tochter Terra Networks und Dealtime, dem US-Marktführer bei lnternet-Preisvergleichen.
Bei anderen Zuschussgeschäften ist Tabula rasa allerdings keine Option für Middelhoff. Der Medienshop BOL hat noch eine sehr lange Durststrecke vor sich, der modernisierungsbedürftige Buchclub ist Kerngeschäft, und den Sanierungsfall CD-Now hat der Bertelsmann-Chef gerade erst gekauft, weil die 40-Prozent-Tochter Barnesandnoble.com allein nicht die kritische Masse hatte, die ein Medienvermarkter im amerikanischen E-Commerce-Geschäft braucht. So beschränken sich die Erfolgsmeldungen aus der Konzernzentrale bisher auf Windfall Profits: Der unfreiwillige und später schöngeredete Rückzug aus dem Venture mit AOL hat wenigstens die Kasse gefüllt – fast einen Jahresumsatz hat der Medienriese (1999: 32 Milliarden Mark) derzeit im Jackpot geparkt.
Viel Geld im Sack
Schön für Middelhoff? „Wir sitzen auf einem Sack voller Geld“, prahlte der Vorstandsvorsitzende auf der Bilanzpressekonferenz im September. In Wirklichkeit ist das sein Problem: Er weiß nicht wohin mit dem vielen Geld. Der Musikgigant EMI ist nach dem Verbot der Fusion mit AOL Time Warner wieder auf dem Markt, doch Middelhoff macht ein Pokerface. Das, was er dringender bräuchte als einen höheren Marktanteil, ist auch für viel Geld nicht einzukaufen: eine klare, konzernweit gültige und gut kommunizierbare Strategie für den Online-Vertrieb von Content – Musik, Bücher, Video.
Stattdessen kämpft in der Zentrale und den vielen Gesellschaften, an denen der notorisch dezentralistische Moloch Bertelsmann mehr- oder minderheitIich beteiligt ist, jeder für sich. Wer welche Kompetenzen hat, ist selbst für die betroffenen Mitarbeiter schwer zu durchblicken. „Die Beteiligungsverhältnisse“, sagt jemand bei einer wichtigen TochterfIrma, sind so kompliziert, dass man ein Studium dazu bräuchte.“
Das macht Synergien schwierig. Zwar gibt es in Gütersloh eine E-Commerce Group (BECG) mit Andreas Schmidt an der Spitze. Der ehemalige Journalist von Gruner & Jahr und AOL-Manager gilt als energischster Vordenker des Konzerns auf diesem Gebiet. Doch mit viel Macht ist sein Amt nicht ausgestattet. Der Dynamiker Schmidt ist dem für das neue Vorstandsresssort „Direct to Customer“ verantwortlichen Klaus Eierhoff unterstellt, mit dem er wenig Gemeinsamkeiten hat. Schmidts Pressesprecher Frank Sarfeld – sichtlich genervt von nicht enden wollenden Presseberichten über einen internen Machtkampf – beteuert tapfer, die beiden zögen an einem Strang: „Es gibt da keine Interessenkonflikte.“ Schmidts Beritt seien die jungen E-Commerce-Firmen Barnes & Noble, BOL und CD-Now; vorrangigste Aufgabe seines Vorgesetzten Eierhoff sei es, die Buchclub-Sparte zukunftsfähig zu machen.
Inhalte schon digital
Die spannendere Aufgabe hätte damit allemal Schmidt: Seine Unternehmen, die derzeit noch klassische Bücher und CDs auf dem Postweg vertreiben, sollen ihre Inhalte in wenigen Jahren ganz massiv in immaterieller Form vermarkten. „Niemand verfügt über so viel digitalisierten Content wie Bertelsmann“, so Sarfeld. Und weil die hochverschuldeten Mobilfunkbetreiber zu einem raschen Einstieg in den Massenmarkt gezwungen seien, biete sich eine hervorragende Gelegenheit für Bertelsmann, Musik und andere Entertainment-Inhalte über die mobilen Geräte zu verbreiten. „Vielleicht werden Handy-Besitzer dann die Musik abonnieren“, spekuliert der BECG-Sprecher über Flatrates für Popfans.
Bis die Technik so weit ist, geht jedoch das traditionelle Geschäft vor. So glaubt Klaus Eierhoff, jüngere BOL-Kunden für den Buchclub gewinnen zu können. Links sind bereits in bei den Richtungen geschaltet. Der Interessent, der bei BOL für John Grishams Buch „Das Testament“ den Fixpreis von 46 Mark berappen müsste, spart im Club zehn Mark (allerdings ist die Lieferung nicht portofrei).
Um die Aktivitäten der Bertelsmann-Satelliten von RTL bis Gruner & Jahr indes kümmert sich weder Schmidt noch Eierhoff, der sich bis vor kurzem „Vorstand Multimedia“ nennen durfte. „Dieser Geschäftsbereich wird aufgelöst“, erklärt Gerd Koslowski, der neue Kommunikationschef von Eierhoffs Direct Group, „weil Multimedia das gesamte Unternehmen durchdrungen hat.“
Wenn RTL (37 Prozent Bertelsmann) bei der Metro-Tochter Primus einsteigt und Powerhopping anbietet, wenn Gruner & Jahr (75 Prozent) in Business-, Travel- und Computer-Channel investiert, so tun sie das auf eigene Faust oder in Absprache mit anderen Vorständen wie Content-Boss Rolf Schmidt-Holtz oder Arvato-Chef Gunther Thielen.
Dezentrale Kultur
Nach offizieller Sprachregelung soll sich daran nicht Grundlegendes ändern. „Die sehr dezentrale Unternehmenskultur von Bertelsmann ist ein großer Vorteil“, erklärt Koslowski, „weil sie sehr viel mehr Kreativität hervorbringt“ als eine zentrale Planung. Die neue Konzernstruktur, die Kunden, Content und Logistik in den Mittelpunkt stelle, stehe „quer zur bisherigen Ausrichtung“, entschuldigt der Kommunikator die Konfusion.
Alle also kein Strategiedefizit, sondern nur vorübergehendes Chaos? Für Koslowski ja. Im besten Bertelsmann-Englisch beschwört er die „Startup-Kultur“ des großen Mittelständlers, der sich gerade in ein virtuelles Unternehmen wandelt. Thomas Middelhoff sehe die Aufgabe der Zentrale vor allem darin, allen Unternehmensbereichen die nötigen Ressourcen an die Hand zu geben – bis zum Erfahrungsaustausch an der „Börtelsmän Juniwörsity“. Koslowski spricht fast wie der Vorstandschef. Kein Wunder: Bisher hat er ihm seine Reden geschrieben.
AUS <E>MARKET 44/2000.
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