Das deutsche System zur Förderung von Forschung und Entwicklung produziert Masse – und übersieht Klasse.
Deutschlands Keynesianer sind frustriert. Jahrzehntelang kamen sie nicht an gegen den Mainstream der Marktliberalisten. Jetzt hört man ihnen zu, doch es ist zu spät. „Wir könnten heute schlauer sein, wenn Forschungsgelder in der Vergangenheit anders verteilt worden wären“, empörte sich der Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Arne Heise kürzlich in den „VDI Nachrichten“. Die Verantwortung sieht Heise bei den Peers – den Wissenschaftler-Kollegen, die als Gutachter und Gremienmitglieder bestimmen, wer Forschungszuschüsse aus der Staatskasse erhält: „Die achten darauf, dass die Gelder nicht an marginalisierte keynesianisch orientierte Ökonomen gehen.“
Ob die Volkswirte-Minorität, die eine stärkere Rolle des Staates propagiert, mithilfe generöser Projekt-Etats tatsächlich ein Patentrezept zur Rettung des Finanzsystems zuwege gebracht hätte, weiß niemand. Wer jedoch solche Vorwürfe als beleidigtes Nachtreten abtut, macht es sich zu einfach. Heise spricht aus, was im Wissenschaftsbetrieb kaum jemand zugibt: Das mehr als 300 Jahre alte Prinzip anonymisierter Peer Reviews ist seinem Anspruch, die Qualität der Forschung durch ein System kollegialer Selbstkontrolle zu gewährleisten, längst nicht mehr gewachsen.
Dass die Art, wie Peer Review in Deutschland praktiziert wird, einem strukturellen Konservativismus Vorschub leistet, ist kein neuer Befund. Gutachter werden danach ausgewählt, dass sie viel vom Fachgebiet des Antragstellers verstehen. Das geht meist nur so lange gut, wie die Ziele des Antragstellers nicht mit der Lehrmeinung des Gutachters kollidieren. Die naheliegende Lösung, eine Berufungsinstanz zu schaffen, ist bei den Professoren unpopulär: Diese Hintertür stünde nicht nur verkannten Querdenkern offen, sondern auch der Masse von Mittelmäßigen, deren minderwertige Anträge zu Recht ausgesiebt wurden. Und noch mehr Arbeit mit dem ehrenamtlichen Job der Peer Review ist das Letzte, was die Hochschullehrer brauchen können. Der Zeitaufwand, den ihnen Förderanträge der Kollegen bescheren, ist in den vergangenen Jahrzehnten dermaßen eskaliert, dass ihre eigene Arbeit massiv darunter leidet. Parallel dazu wächst das Aufkommen an wissenschaftlichen Publikationen, die irgendwer prüfen muss. Kein namhafter Forscher kann sich der Verpflichtung entziehen, als Mitglied des Herausgeberbeirats eines renommierten Zunftblattes fremde Forschungsberichte durchzuackern.
Vollends absurd wird das System dadurch, dass für die Forschungsevaluation auf dem Campus viel strengere Maßstäbe gelten als außerhalb. Während die in „Exzellenz“-Wettläufe gezwungenen Unis ihre besten Leute in wahren Evaluationsorgien verschleißen, fließen unter viel laxeren Bedingungen ungleich höhere Summen in die F&E-Abteilungen der Industrie. So sponsert das Bundeswirtschaftsministerium in einem „Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand“ derzeit „technologieoffen“ alle möglichen Projekte, die irgendwie nach Fortschritt klingen. Hauptsache, der Antragsteller trägt zwei Drittel der Kosten selbst. Das Bundesforschungsministerium wiederum delegiert die Verteilung seiner Fördermilliarden traditionell an Projektträger, deren Sachbearbeiter einen großen Entscheidungsspielraum genießen. Und auch beim industriefreundlichen 7. Forschungs-Rahmenprograrnm der EU geht es lockerer zu als im deutschen Wissenschaftsbetrieb: Als Evaluator kann sich jeder Europäer bei der Kommission bewerben; die von den Brüsseler Beamten für kompetent und proporzkonform befundenen Experten erhalten im Gegensatz zu den ehrenamtlichen Peers der Deutschen Forschungsgemeinschaft sogar eine Aufwandspauschale von 450 Euro pro Tag.
In Deutschland gilt eine Bezahlung der Reviewer-Jobs als nicht finanzierbar. Das Selbstverständnis der Peers verlangt aber ohnehin nach einer anderen Entlohnung: Respekt, Reputation und frei verfügbare Zeit sind den Wissenschaftlern wichtiger. Vielleicht liegt der Schlüssel in einer Öffnung der hermetischen Forscherwelt, wie sie das Open -Access-Lager forciert. Bei der „Collaborative Peer Review“ stellen Forscher ihre Ergebnisse im Internet zur Diskussion. Eine junge Avantgarde hofft, so die Zwänge des Publish-or-perish-Prinzips – publizieren oder untergehen – zu überwinden: Gutachter dürfen aus der Anonymität heraustreten und mit konstruktiven Kommentaren Renommeepunkte sammeln. Überflüssigen Alibi-Publikationen mit marginalem Erkenntnisgewinn, die sowohl Autoren als auch Reviewern Zeit stehlen, würde der Boden entzogen. Zugleich hätten etablierte Platzhirsche weniger Macht, neues Denken auszubremsen.
Der Charme dieser Idee reicht weit über die professoralen Ranking-Rituale hinaus, bei denen heute Omnipräsenz vor Kompetenz kommt. Wenn sich die Forscherelite nicht mehr im Leerlauf aufreiben muss, hat sie die Köpfe frei, um sich auf neue Ideen einzulassen – und über wirklich innovative Projektvorschläge der Hochschulkollegen mit der gebotenen Gründlichkeit und Unvoreingenommenheit nachzudenken. Vielleicht kommen unsere Akademiker bei der Gelegenheit sogar auf den ketzerischen Gedanken, dass die Verpflichtung zur Drittmittelakquise sie in fatale Abhängigkeiten geführt hat. Womöglich wäre es ja umgekehrt sinnvoll, künftig die aus Steuermitteln bezahlten Experten zu Rate zu ziehen, bevor der Staat der Industrie Milliarden für angeblich zukunftsweisende Technologie-Vorhaben zuschießt. Dass die Wirtschaft ihr Kapital nicht immer weise investiert, haben wir schließlich erlebt.
Erschienen in Technology Review 5/2009
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