Weiß irgendjemand hier noch nicht, dass es ungesund ist, viel Zucker zu essen und große Mengen süßer Getränke in sich hineinzuschütten? Ah, brav… alle wissen es, sie halten sich nur nicht dran. Dann ist das mal geklärt. Damit zum stern vom Donnerstag und seiner Titelstory:
Die Zuckermafia
Das Blatt, vom Gründer Henri Nannen einst als Lieschen Müllers Wundertüte konzipiert, springt seinen Lesern diese Woche mit einer ziemlich unverschämten Aufmachung ins Gesicht: ein knallroter kandidierter Apfel am Stiel, wie man ihn von Wiesn, Wasen und Dom kennt. Um ans Gesunde zu kommen, muss man sich durchs Ungesunde beißen, eine Kruste aus Kristallzucker, ein wenig Zitronensaft und reichlich Lebensmittelfarbe. Was will uns diese Text-Bild-Schere sagen? Dass Jahrmarkttandler alle Mafiosi sind? Nein, es geht um „die raffinierten“ (was sonst) „Methoden der Industrie“, ums „Tricksen, Täuschen, Tarnen“ und die Aufklärung, wieviel Zucker „in unserem“ Essen steckt.
Wie es scheint, verfügt die Redaktion über weniger Raffinade Raffinesse als die Industrie. Sonst hätte vor der Imprimatur jemand gemerkt, dass der rote Apfel die mit Abstand offenste, ehrlichste und trickloseste Art darstellt, Menschen zum Zuckerkonsum zu verführen: Weniger kann man das süße Gift nicht verstecken. Das Cover konterkariert also die Story, die es verkaufen soll. Um diese Titelgeschichte wäre es allerdings nicht schade, denn wer mit Fakten trickst, Unwissenheit tarnt und Leser täuscht, sind die beteiligten Redakteure.
Da wäre zum Beispiel eine willkürlich zusammengestellte Auswahl von Lebensmittel-Markenprodukten, in denen der Zucker laut Bildunterschrift „gut versteckt“ sein soll, indem man ihn in der Zutatenliste unter Bezeichnungen wie Dextrose oder Glukose aufführe. Eines der an den Pranger gestellten Produkte ist der Orangensaft der altbekannten Marke „Hohes C“. Die Literflasche enthält laut stern 90 Gramm Zucker. Dem Leser wird also suggeriert, die böse Industriefirma Eckes-Granini verstecke neun Prozent Zucker in ihrem Produkt. Das dürfte sie nicht, und sie tut es auch gar nicht. Orangensaft enthält von Natur aus zwischen acht und elf Gramm Kohlenhydrate, und zwar fast ausschließlich in Form von Fruchtzucker. Es handelt sich also nicht um eine Zutat, die gemäß der Lebensmittelkennzeichnungsverordnung ausgewiesen werden müsste, sondern um einen Inhaltsstoff, der – wenn er freiwillig deklariert wird – unter dem Sammelbegriff „Zucker“ in der Nährwerttabelle steht („Kohlenhydrate, davon Zucker… soundsoviel Gramm“).
Gefährlicher Apfelsaft
Richtig irre wird die Sache aber, wenn man die Werte für Müller-Milch Erdbeere und Coca-Cola mit dem O-Saft vergleicht. Das Gesöff aus der Molkerei ist zwar noch süßer als die schwarze Brause, beide Verdächtigen liegen mit elf und zehn Prozent Gesamtzuckergehalt aber auf dem Niveau von ganz normalem (ungezuckertem) Apfelsaft. Dass der Stern auch noch falsch abgerundet hat – nämlich von 10,6 auf 10 und von 11,5 auf 11 %, ist nicht entscheidend, wohl aber sollte man erwähnen, dass ein erklecklicher Teil des Zuckers in der Müller-Milch aufs Konto der Kuh geht: Milch enthält zwischen vier und fünf Prozent Milchzucker (Laktose). Weiterer Beleg für die Hilfs- und Ahnungslosigkeit derer, die die 19 (!) Produkte ausgewählt haben: Ein 37-Gramm-Tütchen Knorr Fix Chili Con Carne enthält 32 Prozent Zucker, also gerade einmal 12 Gramm, die im Vier-Personen-Eintopf verlorengehen. Wer keine größeren Sorgen hat als die Prise Zucker (drei Gramm) pro Portion, dem ist nicht zu helfen.
Fassen wir mal kurz zusammen: Wenn Zucker egal welcher Art und Herkunft so gefährlich ist/wäre, wie die Titelstory uns glauben machen will, ist das primäre Problem keine Mafia von Rübenbauern-Genossenschaften und Zucker verarbeitenden Lebensmittelkonzernen, sondern die Süße unserer Nahrung. Wir müssten uns dann vor Apfelsaft genauso hüten wie vor Coke.
Eine leider nicht kaputtrecherchierte Geschichte
Nun ist Differenzierung der Feind jeder steilen These, und Recherche macht bekanntlich die schönsten Geschichten kaputt. Deshalb sucht man in der Zuckermafia-Räuberpistole auch vergeblich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu der Frage, welcher Zucker denn nun am ungesündesten ist. Man liest nichts darüber, dass der Coca-Cola-Konzern trotz Geheimformel in verschiedenen Ländern unterschiedliche Zuckermischungen verwendet. Es gibt keine starre Rezeptur. Die Getränkeindustrie richtet sich immer nach dem Marktangebot und den geschmacklichen Vorlieben der Konsumenten. In Europa ist soviel Rübenzucker auf dem Markt, dass die Zuckerkonzerne sogar ins Ethanol-Sprit-Geschäft eingestiegen sind, um den Absatz anzukurbeln. In anderen Ländern (etwa USA) ist High Fructose Corn Syrup, ein flüssiger Extrakt aus Zuckermais, das für die Industrie wirtschaftlichste Süßungsmittel.
Auch wenn es nicht um Lebensmittelchemie und Ernährungsmedizin geht, schreiben die Autoren wie die Blinden von der Farbe. So fragt eine SPD-Verbraucherpolitikerin (MdB) laut stern: „Warum nicht 19 Prozent (Mehrwertsteuer) auf Süßwaren und Süßgetränke?“ Man könnte darauf antworten: Weil auf Getränke seit eh und je kein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt. Auch auf Apfelsaft und Mineralwasser, von Cola ganz zu schweigen, erhebt der Fiskus volle 19 Prozent. Ich unterstelle mal, dass eine verbraucherpolitische Fraktionssprecherin das weiß, selbst wenn sie Sozialdemokratin ist. Demnach hat sie möglicherweise flüssige Molkereiprodukte wie Müller-Milch gemeint.
Texte, die den Leser erschaudern lassen
Die Redaktion hätte nachhaken müssen, wenn die Beteiligten denn gewusst hätten, worum es überhaupt geht. Aber nein, sie (oder der Textchef?) fahren fort: „Solche Vorschläge lassen die Industrie erschaudern.“ Solche, also nicht dieser Vorschlag, sondern ein anderer oder mehrere. Geht es vielleicht um die USA? Der Verdacht drängt sich auf, denn es geht so weiter: „Coca-Cola warnt die Investoren, das könnte den Gewinn schmälern.“ Hallo? Schon mal was von Börsenregeln gehört oder gelesen? Verschweigt der Vorstand einer Aktiengesellschaft den Aktionären irgendeine ihm bekannte Tatsache, die den Gewinn schmälern könnte, handelt er grob fahrlässig und riskiert, auf Schadenersatz verklagt zu werden.
Zusammenhanglos flanscht die Redaktion an diesen Einschub zur Gewinnwarnung den Satz an: „Anfang Mai kündigte der Konzern nach wachsendem Druck an, weltweit auf Werbung an Kinder zu verzichten.“ Wenn das irgendetwas mit Zucker zu tun hätte, warum umwirbt er Kinder dann nicht mit Kampagnen für seine zuckerfreien Produktlinien? Man kann es glauben oder nicht: Fakt ist, dass The Coca-Cola Company auch Tafelwasser, Säfte und Süßstoffplörre der Dachmarke Zero (Coke Zero, Sprite Zero) vertreibt.
Antikapitalistische Empörungsrhetorik
Schon zwei Absätze weiter nimmt die Empörungsrhetorik im stern regelrecht antikapitalistische Züge an. „Am Zucker verdienen alle sehr, sehr gut“, wird da ohne Beleg behauptet, „die Rübenbauern, die Zuckerfabriken, die Süßigkeitenhersteller, sogar die Supermärkte.“ Warum „sogar“? Warum Rewe und Edeka an süßem Markenmist besser verdienen sollten als an fettigem oder salzigem, erschließt sich weder dem Leser noch dem Kenner des Einzelhandels. Eigentlich verdient der Lebensmittelhandel eher schlecht, und dass die Quengelware an der Kasse etwas besser kalkuliert ist, rechtfertigt noch nicht diese Dramatisierung („sehr, sehr gut“). Der Rest der These – nun ja: An was bitteschön sollen Rübenbauern, Zuckerfabriken und Süßigkeitenhersteller denn sonst Geld verdienen, wenn nicht an dem, was sie produzieren? Aber die Firmen sind kein einiges Kartell. Wenn sie an einem Strang ziehen, dann von zwei Seiten. Dass die Bauern momentan ganz gut dastehen, liegt an der Zuckermarktordnung der EU. Sie beschränkt die Anbauflächen, was zusammen mit der Nachfrage der Biosprit-Destillen die Preise stützt – und für die Gewinne der Süßwarenindustrie schlecht ist. Die hofft auf ein Ende der Marktordnung (voraussichtlich 2015), dann wächst die Anbaufläche und die Preise sinken. Eine logische Folge des wachsenden Angebots wäre, dass die Industrie versucht, noch mehr Zuckerwaren in den Markt zu drücken. Das würde die Mafia-These stützen, doch den Ball spielt der stern nicht.
Und wie ungesund ist es nun, unser süßes weißes Laster, unser Zucker? „Neue Studien weisen nun eindeutig in eine Richtung: Er ist wohl schädlich.“ Ja was nun? Eindeutig oder wohl? Mit Lenor gespülte Windeln sind steinhart gegen solche Soft Facts. Präzisiert, wenn man diese hochtrabende Vokabel denn verwenden will, präzisiert also wird dies unter anderem durch Aussagen über Leberverfettung bei Mäusen, die zuviel Fruktose gefressen haben, und die Rolle von Insulin für den Glukose-Stoffwechsel. Was nun? Fruktose oder Glukose? Journalismus gilt ja als Kunst, anderen Menschen einleuchtend Sachverhalte zu erklären, die man selbst nicht verstanden hat. Hier kann man das „einleuchtend“ streichen. Die Autoren lassen sich anmerken, dass sie nicht verstanden haben, worüber sie schreiben. Das merkt selbst der Laie an Formulierungen wie dieser: „Natürlich sind Mäuse keine Menschen. Aber längst sprechen Untersuchungen dafür, dass es bei Menschen genauso funktioniert.“ Ach ja, längst? Was für Untersuchungen? Leute, Ihr blamiert Euren ganzen Berufsstand mit solchem inhaltsleeren Geschwurbel aus der Kurz-vor-Andruck-Trickkiste gestresster Spiegel-Textchefs der Achtzigerjahre.
Mehr als 750 Gramm nimmt man durch Zucker nicht zu – oder wie?
Ein letztes Beispiel muss noch sein, weil so schön absurd ist: „0,75 Kilo nehmen die Versuchspersonen im Schnitt zu, wenn sie über Wochen mehr Zucker essen. Zu viel Zucker sei also verbunden mit Adipositas und einem höheren Risiko für chronische Krankheiten.“ Aua. Wenn ich mir wochenlang beliebig viel Zucker in den Magen schlagen kann, am Ende aber nur anderthalb Pfund mehr auf die Waage bringe, bin ich nicht adipös, sondern ein Stoffwechselwunder. Es wäre zu schön, um wahr zu sein – und wäre damit der ultimative Killer dieser Story. Leider sind Adipositas und übermäßiger Zuckerkonsum reale Probleme. Guter Journalismus müsste versuchen, den Lesern Wege zu zeigen, wie man aus der Zuckerfalle herauskommt. Nicht die Mafia ist schuld, sondern der ignorante Konsument.
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„Die deutsche Journalistik war und ist zum größten Theile noch ein wahrer Schandfleck unsrer Culturgeschichte. Man konnte die öffentlichen Urtheile in den Blättern nurt eintheilen in absichtlich lügenhafte oder bornirte.“
Karl Leberecht Immermann (1796 – 1840), deutscher Landgerichtsrat, Dramatiker und Romanautor
Zum Glück gibt es aber auch noch die Anderen, die ihren Job gut machen. Als Leser hat man nur die schwere Aufgabe, die Guten zu finden und die Schlechten zu meiden.