Die Anarcho-Währung Bitcoin galt einmal als Frontalangriff auf die Banken. Nachdem der Hype verpufft ist, experimentieren Finanzprofis selbst mit dem Prinzip der „Blockkette“. Die Institute könnten so agiler und konkurrenzfähiger werden.
In Printmedien reicht manchmal der Platz hinten und vorne nicht, um eine aufwendig recherchierte Geschichte vollständig zu erzählen. Dann muss gekürzt werden, und das schmerzt Autoren und Redakteure. Aber es gibt ja das Netz. Dieser Text, in dem ich schildere, wie die Technik hinter der Kryptowährung Bitcoin – die Blockchain – sich von ebendieser emanzipiert, ist die teilweise aktualisierte Langfassung meiner für die Technology Review 10/2015 geschriebenen Titelgeschichte. Weitere Langfassungen sind in Planung.
Die Revoluzzer in der realen Welt dingfest zu machen, in der man seine Miete und sein Essen noch in Euro, Dollar, Pfund oder Franken bezahlt, ist ein Job für Spürnasen. Das hat nichts damit zu tun, dass die bekennenden Geldveränderer ständig zwischen San Francisco und Zürich oder London und Nairobi hin und her düsen, um mit neuartigen Softwarekonzepten eine verkrustete Weltwirtschaft aufzumischen. Man findet schon die Büros ihrer Firmen nicht. Während Gründer anderer Branchen alles tun, um Interessenten zu sich zu lotsen, machen die Vordenker eines „Internets des Geldes“ oft ein Geheimnis daraus, wo sie ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben. Es könnte mitten im Silicon Valley liegen, irgendwo in den Weiten Kanadas, in der Zentralschweiz oder auch im Kosovo. So hat das Startup Blockstream voriges Jahr zwar opulente 21 Millionen Dollar Startkapital bei Großinvestoren eingesammelt, unter ihnen IT-Prominenz wie Max Levchin, Reid Hoffman, Vinod Khosla, Eric Schmidt, Jerry Yang und Ray Ozzie sowie der ehemalige Karstadt-Abenteurer Nicolas Berggruen. Angaben zum Firmensitz fehlen indes nicht nur auf der Website. Sogar in den Whois-Datenbanken sind sie gesperrt. Spuren im Netz führen nach Montreal. Im dortigen Handelsregister sind zu Blockstream gleich zwei Adressen hinterlegt: An der einen residiert eine große Anwaltskanzlei, an der anderen eine Filiale von UPS Canada, die ihren Kunden Briefe, Pakete und Faxe weiterleitet. Wohin, ist Betriebsgeheimnis.
Blockstream gehört unter den Newcomern nicht einmal zu denen, die das Versteckspiel auf die Spitze treiben. Die maßgeblichen Experten und Manager zeigen auf der Website immerhin ihr Gesicht und verraten ihren vollen Namen. Sie sind auch keine Unbekannten, jedenfalls nicht in der Kryptogeld-Szene, die seit sechs Jahren im Dunstkreis der digitalen Anarcho-Währung Bitcoin gedeiht. Andere Akteure verstecken sich schon mal hinter ihren Reddit- oder Twitter-Nicknames samt Fotos furchterregender Fernsehserien-Aliens, wenn sie denn überhaupt eine Datenspur zu ihrer Person legen. Es gibt auch völlig menschenleere Sites, auf denen ein einschlägiges Open-Source-Projekt im wahrsten Sinn des Wortes für sich spricht.
Vertrauen in Algorithmen statt in Institutionen
Derlei konspiratives Auftreten mag vorsichtige Nutzer abschrecken, passt aber ins Bild. Schon die Person hinter dem Phantom „Satoshi Nakamoto“, das mitten in der Aufregung um die Bankenrettungen nach der Lehman-Pleite die bitcoins auf die Welt brachte, hat sich wohl nie aus der Deckung der Pseudonymität gewagt; dem Australier Craig White, der sich vor ein paar Monaten als der Gesuchte ausgab, nahm das jedenfalls niemand ab. Die Anhänger der virtuellen Wertmünzen wiederum schätzen an diesen eine Eigenschaft, die im Jargon der Kryptografieszene „trustless“ heißt, also „vertrauenslos“. Das soll eigentlich nur heißen: „Wer damit bezahlt, muss sich nicht sorgen, dass jemand sein Vertrauen missbraucht, denn notfalls haben unbestechliche Algorithmen alles unter Kontrolle.“ Es scheint indes Menschen anzusprechen, die niemandem mehr trauen wollen. Bitcoin-Foren wirken jedenfalls oft wie Stammtische einer technikgläubigen Querfront, die mit anarchischem Impetus gegen das Establishment kämpft. Linke Idealisten und libertärkapitalistische Ideologen, Open-Everything-Schwärmer und Anhänger gängiger Verschwörungstheorien eint die Vision einer global gültigen, dezentral selbstverwalteten Volkswährung als Hebel zur Entmachtung der Wall Street, der US-Notenbank Fed und anderer Schaltstellen der globalisierten Wirtschaft.
Rational betrachtet gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass aus dieser Revolution je etwas wird. Zumindest der bekanntere Part von Nakamotos Konzept war so weltfremd, als sei es nur ein provokantes Planspiel gewesen, ein intellektuelles bankenkritisches Experiment, das in dem Moment ein Eigenleben entwickelte, als zu viele Menschen es für bare Münze nahmen: Dass Aktivisten via Internet eine XXL-Version des Euro auf die Beine stellen und dabei rund 200 Regierungen friedlich die Währungshoheit entreißen, ist eine abenteuerliche Vorstellung – erst recht, wenn dann auch noch die Geldmenge so eng begrenzt sein soll, dass sich letztlich 500 Erdenbürger eine „Münze“ teilen müssten. Bei so einer Währung stünde der Preis im Supermarkt immer hinter lauter Nullen an der siebten und achten Nachkommastelle. Man könnte also getrost zur Tagesordnung übergehen, gäbe es da nicht auch noch den weniger bekannten Teil des Konzepts, nämlich die Technik (Bitcoin mit großem B) hinter der Münze (bitcoin mit kleinem b). Und die ist tatsächlich drauf und dran, Bewegung in die Finanzwirtschaft zu bringen – anfänglich unter dem Schlagwort „Bitcoin 2.0“, zur besseren Unterscheidung nunmehr als „Blockchain Technology“.
Elektronische Notarrolle mit fälschungssicherem Stempel
Der neue, generische Name verweist auf das Funktionsprinzip der Nakamoto-Software. Eine Blockkette ist das maschinenlesbare Gegenstück zu einer Notarrolle oder der Journalrolle einer Registrierkasse, die alle Vorgänge chronologisch aufzeichnen. Im Unterschied zu ihren Papier-Pendants hat die Kette zwar einen Anfang, aber kein Ende. Sie läuft rund um die Uhr mit, wächst unbefristet und ohne Größenbeschränkung. Sie ist lediglich unterteilt in Blöcke. Alle paar Minuten wird ein Block angehängt, der die neuesten Transaktionen samt fälschungssicheren Zeitstempeln enthält. Dabei kann es sich um Bagatellbeträge handeln, aber ebenso gut um komplexe „smart contracts“, also digitale Verträge, die als regelbasierte Systeme ihre Einhaltung vollautomatisch überwachen – beispielsweise den pünktlichen Eingang von Ratenzahlungen oder einer Dividende nach dem Erwerb einer Aktie. Banken und andere Finanzdienstleister würden so Nutznießer einer Erfindung, die ihnen eigentlich den Garaus machen sollte.
„Die Blockchain ist die entscheidende Innovation“, bestätigt Matthias Kröner, Vorstandschef der Münchner Fidor Bank, die sich als erstes deutsches Geldinstitut mit Bitcoin befasst hat und ihren Kunden – in Zusammenarbeit mit der Herforder Bitcoin Deutschland GmbH – den An- und Verkauf der „Münzen“ anbot, als andere nur die Nase rümpften. Er erwartet Blockchains nicht nur in seiner Branche: „Wenn man diese Vorgehensweise in andere digitale Segmente übernimmt, beispielsweise in die Musik oder Fotografie, entstehen digitale Assets, wo es vorher keinerlei Wertschöpfung gab.“
Tatsächlich gibt es kaum noch einen Bereich, in dem Rechte oder Ansprüche dauerhaft dokumentiert oder auf einen neuen Inhaber übertragen werden sollen, den noch kein Blockchain-Vordenker ins Visier genommen hätte. Ein Startup in Kalifornien namens SKU Chain konzentriert sich zum Beispiel auf die Dokumentation von Lieferketten; ein mögliches Einsatzgebiet ist die Rückverfolgung von Bio-Lebensmitteln vom Verbraucher zum Erzeuger. Selbst die Arbeit von Behörden könnte sich ändern. „Es gäbe hochspannende Möglichkeiten, wenn der Staat seine Grundbücher auf Blockchain-Basis digitalisieren würde“, sagt Kröners Kooperationspartner Oliver Flaskämper, Chef der Tauschbörse bitcoin.de. Ein Hausbesitzer könne dann seine Immobilie unkompliziert in Anteilsscheine splitten und für diese separat bei verschiedenen Banken Hypotheken aufnehmen. Für Notare wäre das allerdings keine gute Nachricht.
Aberwitzige Stromkosten
Was für Ideen es bis zur praktischen Umsetzung schaffen, ist noch nicht abzusehen. In ehrgeizigen Projekten, hinter denen neben kommerziellen Investoren auch Stiftungen stehen, tüfteln Software-Entwickler erst einmal an grundverschiedenen Plattformen, auf die dann die eigentlichen Blockketten-Anwendungen aufgesetzt werden können. Das Spektrum reicht von Add-ons wie den von Blockstream propagierten Sidechains, die an die Original-Bitcoin-Chain angeflanscht werden, über eigenständige Abwandlungen des Ur-Codes bis hin zu von Grund auf neu programmierten Lösungen, die autark arbeiten, mit dem Vorbild allerdings nur noch entfernte Ähnlichkeit haben. Gleich nach der Frage nach der technischen Machbarkeit kommt stets die Kostenfrage: Dass ein Bitcoin-Derivat unter Praxisbedingungen ohne Sicherheitseinbußen billiger arbeiten kann als die bisher eingesetzte Technik, ist nicht unbedingt gesagt. Das dezentrale Computernetz, das die Überweisung von bitcoins absichert, verbraucht zum Beispiel soviel Strom, dass Mitte 2015 auf jede Transaktion mehr als fünf Euro an versteckten Kosten entfielen; zeitweise lag der Wert sogar bei zehn Euro.
Die Crux ist, dass diese Ineffizienz direkt aus der „vertrauenslosen“ Peer-to-Peer-Sicherheitsarchitektur resultiert, die keinen Verantwortlichen kennt und indirekt sogar egoistisches Verhalten fördert. Um niemanden zu mächtig werden zu lassen, entschied sich Satoshi Nakamoto für ein selbstregulierendes System, das seine Teilnehmer mit virtuellen Münzen dafür belohnt, dass sie gegenseitig ihre Transaktionen verifizieren. Die Prämie erhält derjenige, dessen PC den ersten Arbeitsnachweis („proof of work“), also eine schwierige mathematische Herausforderung, in die Runde sendet – vorausgesetzt, dass mehr als die Hälfte der aktiven Rechner bestätigen, dass alles korrekt ist. Besitzer schnellerer Computer waren leicht im Vorteil, doch dieser Investitionsanreiz diente der Sicherheit aller, und umgerechnet fünf oder zehn Dollar Blockprämie waren nicht die Welt. Den Early Adopters, die in der Frühphase schon dabei waren, ging es nicht ums Geld. Noch im Mai 2010 waren bitcoins so wertlos, dass der Informatiker Laszlo Hanecz aus Jacksonville in Florida, der bereits 70000 Münzen angehäuft hatte, 10000 davon für eine Bringpizza springen ließ. Falls der Bäcker die Coins gehortet hat, waren sie Ende Juni 2016 fast sieben Millionen Dollar wert.
Glücksritter im Goldrausch
Die Zeit der Glücksritter begann im Frühjahr 2011: Im Netz hatte sich herumgesprochen, dass es eine Geldmine namens Bitcoin gibt, in der man am besten mittels einer High-end-Grafikkarte schürft. Obwohl eine Währung, bei der die Menge des Geldes schneller wächst als die Möglichkeit, es auszugeben, eigentlich an Wert verlieren müsste, trieb der Hype den Umrechnungskurs sogar nach oben – ein klares Anzeichen für den Einstieg von Spekulanten, die Münzen zukauften. Plötzlich waren im Zehnminutentakt dreistellige Dollarsummen zu holen. Wer beim technischen Wettrüsten nicht mitzog, war aus dem Spiel. Als nächste blieben diejenigen auf der Strecke, die im falschen Land ihre mit Grafikkarten vollgestopften Rechner heißlaufen ließen: Bei deutschen Stromtarifen kamen sie nicht einmal im Winter auf ihre Kosten, wenn sie wegen der Abhitze ihrer übertakteten Computer die Heizung abdrehen konnten. Dann kam die Zeit der Botnetze: Kriminelle Hacker kaperten fremde Computer und verwandelten gestohlene Kilowattstunden in Bitcoins. Schließlich brachten clevere Halbleiter-Designer Spezialchips auf den Markt, die ausschließlich Bitcoin-Rechenaufgaben lösen konnten, das aber so schnell, dass sie jeden Grafik-PC abhängten.
Ende 2013 erreichte der Goldrausch seinen vorläufigen Höhepunkt: Alle zehn Minuten schaufelten die „Miner“ bitcoins im Wert von über 20.000 Dollar auf ihre Konten, vier bis fünf Millionen Dollar pro Tag. Investoren pachteten Lagerhallen an kalten Standorten mit Zugang zu billigem Industriestrom und stopften sie mit den neuen Maschinen voll. Sie setzten auf das Windhund-Geschäftsmodell, bei dem die Marktteilnehmer auf den First Mover Advantage spekulieren: Wenn die Rechenleistung anschwillt, passt sich der Schwierigkeitsgrad des proof-of-work daran an, er steigt also mit leichter Verzögerung.
Die Investitionen der aufstrebenden Mining-Industriellen zahlten sich nicht aus. Der Skandal um den grob fahrlässigen oder gar betrügerischen Bankrott der Tokioter Wechselstube Mt. Gox – bis heute ist nicht genau bekannt, was passierte – riss den Kurs der Kunstwährung in die Tiefe. Die angeblich so zuverlässige Technik hatte nicht verhindern können, dass 650000 kundeneigene Bitcoins in dunklen Kanälen versickerten. Die Ironie daran: Die Binsenweisheit, dass der Umtauschwert jeder Währung mit dem Vertrauen der Anleger steht und fällt, bestätigte sich ausgerechnet bei der „vertrauenslos“ apostrophierten Kunstwährung besonders deutlich.
Spekulanten auf Achterbahnfahrt
Im vorigen Herbst dümpelten die bitcoins mehr als 80 Prozent unterhalb ihres Allzeithochs; allein während der Feriensaison 2015 verloren sie ein Viertel ihres Wertes. Die Nachwehen des großen Crashs von 2014 zeigten sich darin, dass Geschäftemacher die sozialen Medien nach naiven Menschen abgrasten, die sich weismachen ließen, die bitcoins seien eine brachliegende Goldgrube. Tatsächlich hingen noch rund drei Milliarden Dollar im System fest, deren Eigentümer auf bessere Zeiten warteten. Um aussteigen zu können, mussten sie neue Teilnehmer in den Markt locken und so den Kurs stabilisieren. Zeitweise bestand die Gefahr, mit dem Rücktausch von ein paar Hundert Coins einen weiteren Erdrutsch auszulösen. Erschwerend kam hinzu, dass ein Richtungsstreit unter den Nakamoto-Epigonen die Community spaltete. Reformer und Prinzipientreue lieferten sich in den einschlägigen Foren erbitterte Wortschlachten. Dennoch gelang es den auf ihrem virtuellen Geld festsitzenden Spekulanten, einen neuen Hype zu entfachen. Der Kurs ist zwar noch ein Stück entfernt vom historischen Hoch – Ende 2013 kratzte er an der 1000-Dollar-Marke –, doch er hat sich binnen der letzten zehn Monate in etwa verdreifacht.
Neulinge auf seriöse Weise zu begeistern ist allerdings schwer, solange man mit den Coins nicht viel mehr anstellen kann außer Kurswetten einzugehen oder sie in achtellegalen Internet-Casinos aufs Spiel zu setzen. Auf dem Weg zum alltagstauglichen Zahlungsmittel kommt die Bitmünze nicht vom Fleck. Sie hat ein Henne-Ei-Problem: Ihre Volatilität ist zugleich Grund und Folge ihrer verschwindend geringen Akzeptanz als Alternative zum Euro. In bitcoin gerechnet, schwanken Verbraucherpreise für beliebige Waren stärker und hektischer als der Spritpreis in Euro. Und nicht einmal durch aufmerksamste Marktbeobachtung lässt sich lernen, welchen Gegenwert ein bestimmtes Produkt in dieser sprung- und flatterhaften Kunstwährung hat: Ein Golf, der im vorigen August bis zu 100 btc gekostet hätte, wäre in diesem Juni kurz für 29 btc zu haben gewesen; binnen Tagen hätte er sich aber wieder auf 36 btc verteuert. Die Anhänger des Blockchain-Geldes hoffen darauf, dass sich dessen Wert stabilisiert, wenn es gelingt, eine kritische Masse von Verbrauchern von der Idee zu begeistern. Bislang tun sie das vergeblich: Achterbahnfahrten locken Zocker, Normalverbraucher schrecken sie ab.
Dennoch geben eingefleischte Fans nicht auf. So findet man in fast jeder Großstadt ein Szenecafé, das zum Tagespreis von 0,00531 oder 0,00386 btc einen Cappuccino grande serviert. Ein Berliner hat sogar einen Webshop gegründet, bei dem man alles an Elektronik ordern und in bitcoin bezahlen kann, was das Herz begehrt. Doch das ist l‘art pour l‘art: Der Online-Händler verfügt überhaupt nicht über eigene Ware. Geht eine Bestellung ein, leitet er sie 1:1 weiter an einen Grossisten, der in seinem Namen das Paket verschickt und dafür ganz normale Euros erhält.
Wer auf größeren Beständen des Krypto-Geldes sitzt, hat allerdings Wichtigeres zu tun als einfach einzukaufen oder Rechnungen zu begleichen. Er muss nicht nur die notorischen Kursschwankungen genau verfolgen, sondern auch aufpassen, wer die Kontrolle über das verzweigte Geldschöpfungssystem hat. So werden immer wieder Businesspläne von Mining-Firmen zu Makulatur – entweder weil der technische Fortschritt bei den Computerchips, die zur Geldschöpfung verwendet werden, die teuer angeschaffte Hardware vorzeitig veralten und nutzlos werden lässt, oder weil nach den Spielregeln des Bitcoin-Systems wieder mal die Einnahmen sinken. So meldete im Mai 2016 das schwedische Unternehmen KNCMiner Insolvenz an, weil demnächst die Gutschrift pro Block turnusmäßig von 25 auf 12,50 bitcoins halbiert wird und damit trotz des momentan hohen Dollar-Umtauschkurses keine Chance mehr bestehe, die Spezialrechner kostendeckend zu betreiben. Anfang 2015 hatte ein noch viel größerer Player überraschend die Arbeit eingestellt: Für den Mining-Pool GHash/CEX.io war die Bitmünzerei binnen weniger Monate zum Verlustgeschäft geworden. Das Geschäftsmodell solcher Pools erinnert an Lotto-Systemspiel-Tippgemeinschaften. Sie sind Sammelbecken für Teilnehmer, die alleine keine nennenswerte Chance auf einen lukrativen Treffer hätten. Der derzeit größte Pool, der unter dem Namen „DiscusFish/F2Pool“ auftritt, hat derzeit einen Marktanteil von 25 Prozent. Die mächtigsten Vier – genauer: deren Chefs – beherrschen 70 Prozent des Geschäfts. Die kleinen Privatinvestoren, die mit ein paar Tausend Euro dabei sind, haben nicht viel mit zu entscheiden. Die Machtverhältnisse können sich jedenfalls jederzeit ändern. Und Macht heißt, sich eine Mehrheit zu sichern, um neue Spielregeln durchzusetzen.
Bye-bye Bitcoin, hello Blockchain
Dass es vor allem chinesische Minen sind, die auf Gedeih und Verderb weitermachen, weckt im Westen Argwohn, obwohl die Identität der Betreiber nach der Trustless-Philosophie eigentlich irrelevant wäre. Der amerikanische Marktbeobachter Tim Swanson, der sich tief wie kein anderer in die Bitcoin-Ökonomie hineingegraben hat, sah schon voriges Jahr keine Chance mehr, dass das Mining je wieder den Münzgewinn abwerfen wird, auf den die Profi-Miner scharf waren: „Es kostet immer ein bitcoin, ein bitcoin herzustellen.“ Der amerikanische Autor Jeffrey Robinson, einer der kritischsten Beobachter der Szene, halbierte 2015 seine Prognose für den Bitcoin-Untergang von zehn auf fünf Jahre, ist allerdings sehr angetan von der Blockchain.
Für die aufstrebenden Blockketten-Entwickler bedeutet dies einen Spagat. Viele Projektteams stehen mit einem Bein noch in der Bitcoin-Welt, mit dem anderen dort, wo reale Geschäfte gemacht werden. Eines davon arbeitet bei Ethereum, einem der meistbeachteten und ehrgeizigsten Startups. Die junge Mannschaft hat sich vorgenommen, ein komplettes Ökosystem aufzusetzen. Es reicht von einer Blockkette mit eigener Münze, dem „Ether“, über eine Entwicklungsplattform bis zum Browser „Mist“, einer Art Firefox für ein zukünftiges Internet des Geldes. Das Konzept sieht vor, dass jedermann auf Basis dieser Infrastruktur seine eigenen Anwendungen erstellen kann, die sogenannten Ðapps (Decentralized Applications). Treibende Kraft des Projekts ist das Mathegenie Vitalik Buterin, ein 22-jähriger Kanadier russischer Abstammung und Schützling des brachiallibertären deutsch-amerikanischen Unternehmers Peter Thiel. Noch als Teenager betätigte sich Buterin, ein milchbubig-altkluger Nerd vom Schlag des jungen Bill Gates, als Herausgeber des Branchenorgans Bitcoin Magazine, dann wechselte er von der Beobachter- auf die Macherseite.
Ethereum wurzelt nicht nur mental, sondern auch finanziell in der Bitcoin-Welt. Die nötigen Ressourcen, um das Projekt zu starten, beschafften sich Buterik und seine lebenserfahreneren Mitstreiter über einen sogenannten Bitcoin-Crowdsale, eine Mischung aus Micro-Risikokapital und Crowdfunding. Die Förderer überwiesen im Sommer 2014 bitcoins im Wert von mehr als 15 Millionen Dollar und erhielten dafür Einheiten der Hauswährung Ether, die bei einem Misserfolg verloren wären. Träger des Projekts ist eine Stiftung in der Schweiz, mit der wiederum eine Ethereum Switzerland GmbH, eine DEVolution GmbH und eine Talentförderungseinrichtung namens Ethdev verbunden sind. Obwohl der Sitz Baar ist, eine Stadt im Steuerspar- und Briefkastenfirmenkanton Zug südlich des Zürichsees, stellt sich bei einer Stippvisite im August 2015 heraus, dass Mitglieder des telefonisch nicht erreichbaren Kernteams tatsächlich dort arbeiten. Die Jungmännerriege residiert allerdings nicht in einer Büroetage in der City, sondern hat sich am Stadtrand in einem extravaganten neokubistischen Wohnquader mit Dachterrasse einquartiert. Entgegen der branchenüblichen Geheimniskrämerei stehen sogar zwölf Klarnamen auf dem Briefkasten – von A wie Aeron Buchanan bis V wie Vitalik Buterin. Gavin Wood, einer der Hauptentwickler, kommt sichtlich überarbeitet die Treppe herunter und öffnet die Glastür, überrascht vom Interesse, bittet den Besucher aber nicht herein. Zeit für ein Gespräch hat leider niemand aus dem Team – die Deadline für ein Softwarerelease drückt.
Ganz in der Nähe, in Baar, residiert die Bitcoin Suisse AG. Im Obergeschoss eines unprätentiösen Gewerbebaus arbeitet CEO Niels Niklas Nikolajsen. Der dunkelhaarige Däne sieht mit Knebelbart und Pferdeschwanz aus wie ein Musketier-Darsteller. Er kam in die Schweiz, weil es dort weniger Regularien für Unternehmer gibt als in der EU. Er hat neben seiner Firma ein zweites Standbein als IT-Dienstleister. Zudem ist er Schweizer Repräsentant der Freien Republik von Liberland. Das ist ein unbewohntes Stück Niemandsland an der Donau, das weder Serbien noch Kroatien haben wollte.
Bei Nikolajsen kann man Bitcoins sogar in Papierform kaufen; wenn man das Geld braucht, rubbelt man den privaten Schlüssel frei und gibt ihn in die Bitcoin-Wallet ein. Damit will er ein analog-digitales Äquivalent zu anonymen Nummernkonten schaffen. Außerdem betreibt er noch eine Handelsplattform und verkauft Bitcoin-Geldautomaten. Obwohl 150-prozentiger Enthusiast, ist er Realist genug, um über das Mining zu lästern: „Wenn ich eine Maschine baue, mit der ich Geld verdienen kann, verkaufe ich sie doch nicht.“
Geldtransfer für Arbeitsmigranten
Nicolajsen ist gut vernetzt und hat die Telefonnummer von Johann Gevers im Handy, dem Gründer und Chef der Monetas AG. Der charmante, hagere Hüne mit rotblonder Kurzhaarfrisur nimmt sich spontan Zeit für ein Treffen in seinem schicken neuen Büro in der Baarer Stadtmitte. Der Fünfzigjährige hat ein schlechtes Gewissen, weil er auf eine E-Mail-Anfrage lange nicht reagiert hatte. Auf Anhieb zu finden war auch er nicht; in der Mitgliederliste des Zürcher Lobbyclubs „Digital Finance Compliance Association“ war seine Firma noch unter einer Adresse eingetragen, an der diverse „Domizilgesellschaften“ ansässig sind, so der Schweizer Euphemismus für Briefkastenfirmen. Gevers – ein charmanter, hagerer Hüne mit rotblonder Kurzhaarfrisur, eine komplette Generation älter als Buterin und Wood – ist Gründer und Chef der Monetas AG. Dieses Softwarehaus spart auf seiner (komplett englischsprachigen) Website nicht mit großen Versprechungen. Monetas sei die „fortschrittlichste Transaktionsplattform der Welt“, löse „eine der größten Herausforderungen der Menschheit“ und biete allen Beteiligten „unglaublichen Nutzen“. Gemeint ist damit ein Blockchain-basiertes Zahlungssystem, mit dem beispielsweise Arbeitsmigranten aus armen Ländern zu geringstmöglichen Kosten Geld an die Familie überweisen können. Dieses Thema ist unter dem Stichwort „Remittance“ ein Dauerbrenner in Bitcoiner-Kreisen, denn es passt zum Feindbild von räuberischen Banken. Allerdings kursieren über Western Union & Co. mehr Schauermärchen als wahre Daten.
Erst im persönlichen Gespräch wird klar, dass das angeberische Marketingbohei auf monetas.net gar nicht zum Naturell von Johann Gevers passt. Der Sproß einer norddeutschen Missionarsfamilie, die im 19. Jahrhundert nach Südafrika ausgewandert war, ist ein sanfter, offener Typ, der glaubt, was er sagt. Von Haus aus Kaufmann, hatte er schon als Wirtschaftsprüfer, Vermögensverwalter und Unternehmensberater gearbeitet, bevor er mit Patri Friedman zusammenkam. Der Enkel des berühmten Ökonomen Milton Friedman ist Gründer der libertären Seasteading-Bewegung, die auf schwimmenden künstlichen Inseln herrschaftsfreie Kommunen gründen wollte. 2011 engagierte er den Wahlkanadier Gevers als Projektmanager für eine „Freie Stadt“ in Honduras, ein privat finanziertes soziales Experiment auf dem Festland, das sich aus politischen Gründen dann doch nicht realisieren ließ. Es war die Zeit, als Bitcoin bekannt wurde und rasch Amerikas Libertarians verzückte. Auch Gevers, der sich schon früher für digitales Geld interessiert hatte, wurde neugierig. Gemeinsam mit dem amerikanischen Softwareentwickler Chris Odom konzipierte er die von Bitcoin inspirierte Monetas-Software; Odom schrieb das Proof-of-concept.
Der Prototyp funktionierte, doch der Kaufmann in Gevers wusste, dass das Ergebnis weit weg war von einem Produkt, das er seiner Zielgruppe hätte verkaufen können: Banken, die mit neuen Serviceprodukten neue Kunden ansprechen wollen. Eigentlich sieht der Monetas-Gründer – ganz im Einklang mit der Bitcoin-Szene – Geldinstitute umso kritischer, je größer sie sind. „Das Finanzsystem ist zu zentralisiert“, erklärt er in seiner unaufgeregten Art und erinnert an die Zeit der Bankenrettung und das Argument „Too big to fail“. „Jetzt sind die Großen noch größer“, doziert Gevers, „in einem dezentralen System ist das so: Wenn der Einzelne einen Fehler macht, hat er Pech. Aber nicht alle Anderen.“
Als Pragmatiker und bekennender Anhänger des Kapitalismus sagt er allerdings nicht nein, wenn er seine Software an Großbanken verkaufen kann, die damit ihrerseits Menschen in armen Ländern erschwinglichere Dienste anbieten können als etwa der vielgerühmte kenianische Mobile-Payment-Dienst mPesa, hinter dem Vodafone steht. Deshalb engagierte er erfahrene Softwareingenieure, die den Code von Grund auf neu schrieben. Inzwischen hat die Vermarktung begonnen, und Monetas, das auf dem Prinzip der „Colored Coins“ basiert, könnte eine der ersten kommerziellen Blockchain-Anwendungen werden. Diese „gefärbten“ Münzen nutzen – ähnlich wie Blockstreams Sidechains – die Bitcoin-Blockkette als Träger- oder Referenzmedium im Hintergrund, während die eigentlichen Transaktionen extern laufen. Das widerspricht der reinen Lehre, ist aber effizienter. Das Risiko verlagert sich vom Endverbraucher auf den Betreiber, der dazu freilich, wie in der Prä-Bitcoin-Ära, um das Vertrauen seiner Kunden werben muss.
Strenggläubige und Agnostiker
Auch Gevers spielt auf Risiko, wenngleich er es für gering hält: Sollte das Bitcoin-System kollabieren, hinge Monetas in der Luft. Bei Ripple Labs kann so etwas nicht passieren. Das mit Geld von Google Ventures und Internet-Altmeister Marc Andreessen angeschobene Unternehmen ist der Branchenpionier schlechthin und wird den „Agnostics“ zugerechnet. Sprich: Es hat mit der Ideologie der Bitcoin-Szene nichts am Hut. Die 100 Mitarbeiter sitzen im Finanzdistrikt von San Francisco und haben sich darauf spezialisiert, die IT der bestehenden Banken auf Trab zu bringen. Es gibt kein langsames, energieverschwenderisches Proof-of-work, denn die Netzknoten werden von bekannten Partnern betrieben, die einander trauen. Deshalb benötigt es auch kein Münz-Mining; die „XRP“ genannten Coins dienen lediglich dazu, pro Transaktion eine kleine Bearbeitungsgebühr zu erheben, sowie als Brückenwährung zwischen „illiquiden“ Währungspaaren, also solchen, die an den Devisenmärkten ein so geringes Handelsvolumen aufweisen, dass beim Kurs mit Ausreißern zu rechnen ist. Die pragmatisch-realistische Denkweise des Unternehmens spiegelt sich inzwischen auch bei anderen wider. Blockstream spricht nicht von „trustless“, sondern von „distributed trust“: Zwischen den Extremen „verlass dich komplett auf einen“ und „vertraue niemandem“ gibt es eine Grauskala. Tatsächlich wäre nach Nakamotos ursprünglichem P2P-Konstrukt nicht nur Bitcoin, sondern das ganze Internet eines Tages an exponentiellem Wachstum erstickt: 100 Millionen Teilnehmer bringen nicht mehr Unbestechlichkeit ins System als 100.000 oder 1000.
Ripples deutscher Referenzkunde ist die Fidor Bank. Auf die Frage, ob die Zusammenarbeit für ihn schon mehr sei als ein Experiment, antwortet Vorstandschef Matthias Kröner in einer E-Mail ausweichend: „Ripple hilft Banken, Auslandsüberweisungen in Echtzeit zu günstigen Kosten anzubieten. Wir halten Ripple für eine spannende Innovation, die sich jede Bank ansehen sollte.“ Zumindest seine Kollegen in den großen Häusern brauchen diesen Rat wohl nicht. ABN Amro, Citibank, Deutsche Bank und UBS wagen sich zwar noch nicht an Pilotprojekte, aber ihre Informatiker und Juristen verfolgen die Blockchain-Szene genau. Eine der entscheidenden Fragen ist eher rechtlich-organisatorischer als technischer Natur: Geht bei Bitcoin der private Schlüssel des Münzbesitzers verloren, ist das Geld für immer weg, es ist sein persönliches Problem. Das darf bei einer Blockchain, an der die Eigentumsrechte an Häusern, Autos, Aktien oder Kunstwerken hängen, nicht passieren. Eine Blockchain, die nur eine Kopie des Grundbuchs, Kfz-Registers oder Echtheitszertifikats wäre, bringt wenig Nutzen. Die Anwendung dieser Technologie könne seinem Haus „beträchtlichen Nutzen“ bieten, schrieb gleichwohl Daniel Trinder, Chef der für Regulierungspolitik zuständigen Stabsstelle der Deutschen Bank in London, unlängst an die europäische Finanzmarktaufsicht ESMA.
Worin dieser Nutzen bestehen könnte, verriet sein Kollege Matthijs Geneste von der ABN Amro Clearing Bank: Vielleicht könnten Banken eines Tages Fiatgeld, also normale Währungen wie den Euro, auf die Blockkette legen – natürlich unter den Fittichen der jeweiligen Zentralbank. Wenn es soweit kommen sollte, hätte Satoshi Nakamoto das glatte Gegenteil von dem erreicht, was er wollte.
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