Das Jahr 2019 markiert eine Trendwende im zwischenunmenschlichen Umgang deutscher Social-Media-Nutzer miteinander. Irgendwann im Sommer wurde die Pauschalverunglimpfung „alter weißer Männer“ seltener, um so mehr verbreitete sich die auch auf weibliche User anwendbare Floskel „Ok Boomer“. Angeblich ist damit eine Haltung gemeint. In Wirklichkeit verrät die Chiffre mehr über die „Haltung“ derer, die sie verwenden. Und die ist bedenklich. Ein fälliger Rant.
Die soziodemographische Schublade, in der ich qua Geburt in einem der so genannten Wirtschaftswunderjahre verortet bin, heißt auf gut Amtsdeutsch „geburtenstarke Jahrgänge“. Wir waren diejenigen, die mit 39 Mitschülern in eine Klasse gestopft wurden, weil es weder so viele Lehrer noch so viele Klassenzimmer gab, um uns unter äußeren Umständen zu unterrichten, die heute als pädagogische Minimalanforderung gelten. Meine „Generation“ geht zurück bis 1955, ihre Zeit endete 1969 mit dem Pillenknick, der pharmazietechnisch früher hätte eintreten können, aber statistisch erst richtig signifikant wurde, als unsere 68er Wichtigeres im Kopf hatten, als Familien zu gründen.
Was wir NIE waren: Babyboomer. Während unsereins nicht älter ist als 64 (Ulf+3) und nicht jünger als 50 (Ulf+11), sind die ersten echten Boomer bereits Mitte 70 und die letzten 55. (Baby)Boomer ist ein Terminus technicus aus den USA, der sich auf die dort (und in einzelnen anderen Staaten wie der Schweiz) übliche Alterskohorte bezieht. Selbst wenn man das marketinggetriebene Konzept willkürlich zugeschnittener Generationenschubladen alias Zielgruppen grundsätzlich anwendbar findet, ist es hochgradig schwachsinnig, einen 1969 geborenen mitteleuropäischen Menschen mit einem 25 Jahre älteren amerikanischen in eine dieser Schubladen zu zwängen. Eine Kindheit oder Jugend im McCarthy-Amerika und eine im Brandt-Deutschland könnten nicht unterschiedlicher verlaufen sein. Mit Ausnahme des Umstands, dass wohl alle Lassie, Flipper und Bonanza geschaut haben, sind diese Sozialisationen wirklich nicht vergleichbar. 25 Jahre sind ein echter, ein biologischer Generationenabstand.
Im Sommer 2019 tauchte aber nun plötzlich das uraltbekannte Wort „Boomer“ in Deutschland auf – meist verbunden mit dem Präfix Ok, das man wohl „Ou-kéeee??!“ aussprechen muss, während „Boomer!“ im geistigen Ohr den Sound eines Verständnislosigkeit ausdrückenden Seufzers erzeugen soll. In atemberaubender Geschwindigkeit verdrängte „Ok Boomer“ den „Alten Weißen Mann“ aus dem Netz, was einerseits einen gewissen Charme hatte (nicht so rassistisch und sexistisch, weniger offensichtlich altersdiskriminierend) und andererseits einen klaren praktischen Nutzen (bei Bedarf auch zur Beleidigung Alter Weißer Frauen tauglich, gibt es doch im American English kein Wort wie Boomerin oder Boomeress).
Seitdem wird es inflationär als Klischee-Stempel gebraucht. Ohne es empirisch überprüft zu haben, würde ich behaupten, dass es um ein Mehrfaches häufiger zum Einsatz kommt als die Summe der bekannten Verbalinjurien „linksgrünversiffter Gutmensch“, „Linksfaschist“ und „xyz-Nazi“ zusammen. Und die sind schon verdammt häufig. Ich denke, bei der Wahl zum (Un-)Wort des Jahres wird es demnächst auf der Shortlist stehen.
Nachtrag 15. Januar 2020: Nicht die Boomer, sondern noch die Alten Weißen Männer landeten in der engeren Wahl.
Aber lassen wir erst mal jemanden zu Wort kommen, der den Boomer im Ok-Kontext Ok findet. Ein Mensch, der mein Sohn sein könnte und meinen Intellekt bzw. meine Auffassungsgabe deutlich unterschätzt, bot mir heute eine auf paternalistische (!) Weise freundlich gemeinte Erklärung an:
„Ok Boomer richtet sich nicht an bestimmte Jahrgänge sondern an eine Haltung, die sich gern eine unreflektierte Meinung über die Millenials / Generation Z bildet und sich etwas auf ihre Lebenserfahrung aus vordigitalisierten Zeiten einbildet.“
Ja, was ist das? In meiner Generation sagt man zu sowas „Locken auf der Glatze drehen“. Man denkt sich etwas aus, was schön klingen soll. So in der Art: „Sei nicht beleidigt, wir erklären Dich zwar qua Gruppenzugehörigkeit für unzurechnungsfähig, aber wir meinen das doch gar nicht böse. Wir bilden uns lediglich ein, zu wissen, welche Haltung für Menschen wie Dich charakteristisch ist, die bereits in vordigitalisierten Zeiten eine Lebenserfahrung gesammelt haben, auf welche wir Jüngeren nichts geben, weil – ja, weil vordigital. Deshalb erlauben wir uns, diese Eure Lebenserfahrung für irrelevant zu erklären und daher zu ignorieren.“
Um mal Dein Klischee zu bedienen, Jungchen junger Mann, drehe ich zum Spaß den Spieß um und rede so unqualifiziert daher wie Ihr, nur andersrum: Ihr Digital Na(t)ives bildet Euch alle etwas auf Eure IT-Kenntnisse ein, die sich aufs Googlen, Aus-der-Wikipedia-Abschreiben, virtuoses Daumenjogging in der Whats-App und einen guten Score beim angesagtesten Egoshooter beschränken. Nein, mit bestimmten Jahrgängen hat das nichts zu tun, es geht nur um die Haltung derer, die sich etwas darauf einbilden, im Online-Zeitalter aufgewachsen zu sein.
War das jetzt der Ton, in dem man mit Euch kommunizieren soll? Ist das die Wertschätzende Kommunikation, von der alle reden? Hilft es der Gesellschaft, ihre Probleme zu lösen? Oder macht es nicht alles unnötig schlimmer?
Ich vereinfache jetzt noch mal ein bisschen – so wie diejenigen, die „Ok Boomer(!)“ in Twitter- und Facebook-Kommentare tippen: Wer das Sprachbild verwendet, interessiert sich nicht für andere Menschen, sondern ist ein arrogantes, ignorantes Wesen (mwd), klugscheißernd, kurzsichtig und sozial inkompetent.
Nicht für ungut, ihr habt schon verstanden, wie ich das meine. Nicht bös. Gehen wir also mal ans Eingemachte: Wie oder wer seid denn „Ihr“, wie oder wer sind wir?
Wir, das ist zum Beispiel die Altersgruppe, aus der die AfD in Thüringen auffällig weniger Stimmen bekommen hat. Wir, das ist die Altersgruppe, von der sehr viele mit Anfang 20 gegen Vorhaben wie die Kernbrennstab-Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, die Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Nuklearsprengköpfen, die Frankfurter Startbahn West oder die Atommüllgrube in Gorleben protestiert haben, zusammen mit nicht wenigen noch Älteren. Wer an friedensbewegte Umweltschützer denkt, müsste als erstes an Leute denken, die heute Mitte 50 und älter sind. Ohne uns gäbe es weder Bio-Supermärkte noch das Internet. Allerdings kommen aus unserer Generation auch das Topmanagement der Industrie und die Führungseliten politischer Parteien. Wir waren eben geburtenstarke Jahrgänge, und gemäß der Gauß’schen Normalverteilung stehen wir links und rechts und in der Mitte, machen uns entweder Sorgen ums Klima oder um den Hubraum unserer Autos, sind für oder gegen Zuwanderung. Wir sind ein bunt gemischter Haufen, ein Spiegelbild der Gesellschaft, jedenfalls alles andere als eine homogene Gruppe.
Und Ihr? Soll ich künftig, wenn mir ein Tweet von Euch nicht passt, mit „Ok, Millennial“, „Ok, GenZetter“ oder „Ok, Digital Naive“ antworten? Jeder von uns Alten weiß ja: Ihr seid nicht nur die Generation von Kevin und Rezo, Greta und Luisa. Ihr seid auch die Generation von Tilman Kuban und Paul Ziemiak, um zuerst die Klügeren und Netteren derer zu nennen, an denen man verzweifeln kann, oder von Roman Möseneder, Martin Sellner und noch Schlimmeren.
Vielleicht können wir uns ja darauf einigen, dass Idealismus und Kotzbrockentum, Dummheit und Intelligenz in jeder Altergruppe vorkommen und dass weder Alter noch Jugend ein Verdienst ist oder etwas, was einen Menschen (mwd) über den anderen erhebt. Was wir brauchen, ist keine Polarisierung, keine Überheblichkeit, sondern eine Allgenerationen-Allianz der Klugen, die einen Triumph der Dummheit verhindert.
Ok, Digital Naives?
Sie sind der oder die 3631. Leser/in dieses Beitrags.
Okay, Boomer.
Oder
Heul doch.
Der Anfang des Blogposts hat doch schon die Erkenntnis gebracht: Es ist eine besondere Geisteshaltung, die Boomer wie eine Monstranz vor sich her tragen. „Wir damals – meterhoher Schnee, Löcher in den Stiefeln, zu Fuß zur Schule“ und „Die Kinder haben alle Smartphones und werden mit dem SUV ins Klassenzimmer gefahren“.
Tilman Kuban als „nett“ zu titulieren, grenzt an Debilität (sorry for that)
Ich empfehle diesen Blogbeitrag über Herrn Kelle, vorletzter Absatz. https://rechtemedieninfo.blogspot.com/2019/10/denken-erwunscht-der-kelle-blog-germanz.html
Hat ganz schön lang gedauert, bis hier jemand seine Schwierigkeiten bei der Textinterpretation oder den Unwillen zur Lektüre offenbart. 😉
Ich spare mir die Retourkutsche, die ja nur so aussehen könnte, über die besondere Geisteshaltung einer jüngeren Altersgruppe abzulästern. Das Vorurteilsstrotzende an diesem Kommentar dürfte für alle Mitlesenden offensichtlich sein – ebenso wie der Umstand, dass der Kommentar unbeabsichtigt den sachlichen Kern meiner Polemik belegt.
Mich betrübt nur etwas, dass der Kommentator so fest in seiner vorgefassten Meinung einbetoniert ist, dass ihm die Süffisanz des Satzes über Herrn Kuban entgangen ist.
P.S.: „Rechte Medieninfo“ ist so etwas wie die saure Gurkenzeit.
Leute, die wissen, dass es Saure-Gurken-Zeit heißt und was der Unterschied ist, müssen denken, dass diese Medieninfo rechts ist, obwohl deren Anbieter eigentlich „Rechte-Medien-Info“ gemeint hat.
Da ich vielleicht zu viel voraussetze: Bei „saure Gurkenzeit“ ist nicht die Gurke sauer, sondern die Zeit.
Im Grunde die klassisch Kantsche Erkenntnis “ Wage es, Deinen Verstand zu gebrauchen“…
@Christoph, auf wen oder was genau bezieht sich das?