Mit Cyber-Cafes fing es an. Dann kamen Spielhallen, Web-Läden und Surfschulen für Privatleute und Firmen. Nachahmer sind durchaus erwünscht: Die Konzepte sind käuflich. Potentielle EXISTENZGRÜNDER aber halten sich noch zurück.
Der Typ jugendlicher Surfer war Marshall Smith gewiß nicht, als er beschloß, seinen Lebensunterhalt fortan im Cyberspace zu verdienen. Der amerikanische Geschäftsmann kapierte anfangs nicht einmal, was dieses ominöse „World Wide Web“ überhaupt sein sollte. Aber mit 62 Jahren fühlte er sich zu jung, um eine vielversprechende Marktchance ungenutzt zu lassen.
Und die sah er klar vor sich: Noch vor dem Höhepunkt jenes großen Medienrummels, der die Metamorphose des Hochschulnetzes zum Freizeitmedium begleitete, stand sein Konzept für „Cybersmith„, die erste Online-Café-Kette in den USA. Während Bürgerrechtler von Key West bis Seattle über den freien Zugang aller Gesellschaftsschichten zu den Wissensschätzen des Internets theoretisierten, dachte Smith längst an harte Dollars. Und an zahlungskräftige Gäste: Jungvolk aus der Mittelschicht, dessen liebstes Spielzeug der Computer ist.
Dem Geld dieser Klientel jagen heute Nachahmer in aller Welt hinterher – vom Informatikstudenten bis zum Gastwirt. Und das, obwohl Internet-Cafés offenbar ein diffiziles Geschäft sind: Mehrere deutsche Gründer mußten nach kurzer Zeit die Segel streichen. „Viele haben keine Idee, welche Kosten damit verbunden sind“, wundert sich Gaby Gläsener-Cipollone, Herausgeberin des deutschen Café-Verzeichnisses (http://www.cyberyder.de). Einen ersten Überblick könnten sich die Neulinge auf der Website des Londoner Internet-Experten Mark Dziecielewski verschaffen, der die wohl umfassendste Sammlung einschlägiger Informationen pflegt (www.easynet.co.uk/pages/cafe/ccafe.htm).
Dort finden sich nicht nur die Adressen von Hunderten computerisierter Cafés, Pubs und sonstiger Gastwirtschaften rund um den Globus, sondern auch Praxistips für Existenzgründer. Die sind angesichts der immer härteren Konkurrenz nötig: Handelskonzerne wie die Karstadt AG mit ihren „Cyberbars“ locken neuerdings mit kostenlosem Netzzugang in die Filialen.
Mit einem professionellen Konzept jedoch karm sich der Service rund ums Netz rechnen. Marshall Smith, zuvor schon erfolgreich mit den Filialketten „Booksmith“, „Learningsmith“ und „Videosmith“, hat es vorgemacht: Im Februar 1995 eröffnete er in Cambridge/Massachusetts sein erstes Cybersmith-Lokal. Dort kommt jeder zu seinem Recht: Spiele-Freaks, Surfer und Geschäftsleute. Selbst für Kindergeburtstage im Lokal hält der Wirt ein Servicepaket parat.
Wie in der Systemgastronomie üblich, entspricht jedes Detail exakt einem minutiösen Business Plan. So sorgt etwa eine Standleitung für frustfreies Surfen. Und als Mitnahmeartikel sind Software, Zeitschriften und Bücher im Sortiment, ebenso hauseigene Devotionalien wie Sweatshirts und Baseballkappen. Nicht einmal ein hehrer Slogan fehlt: „Building Community with Technology“, lautet das offizielle Motto des Vollblutkaufmanns Smith, der sogar Nicholas Negroponte vom nahen MIT Media Lab an Bord lotste – als Aktionär, Aufsichtsrat und Aushängeschild des Konzerns Cybersmith Inc.
Die wahren Pioniere der Branche leben indes in London. Schon im September 1994, als Cyber-Smith noch über seinen Plänen brütete, eröffneten Eva Pascoe und Gene Teare dort ihr „Cyberia„. das erste Netzcafé in Europa. Das Café genießt inzwischen unter insidern Kultstatus. Mit Ablegern in Edinburgh, Manchester, Ealing, Kingston-on-Thames und Wrexham, Paris, Rotterdam, Bangkok und Tokio mutierte der Archetyp der Spezies in kürzester Zeit zur Keimzelle der größten Filialkette der Branche.
Auch Cybersmith denkt global. „Unser Business Plan“, witzelt das Management in den „Frequently Asked Questions“, sehe für das Geschäftsjahr 1997 die „Übernahme der Weltherrschaft vor“. Doch bisher existieren Filialen erst an vergleichsweise risikolosen Standorten: in der Westchester Mall in White Plains/New York (Sitz eines großen IBM-Labors), in Palo Alto (Herzstück des Silicon Valley) und am Quincy Market in Boston – quasi als Sahnehäubchen auf der schicksten Einkaufs- und Restaurant-Mall im historischen Stadtkern.
„Informatik-Absolventen haben meist keine Idee, welche Kosten hinter einem Internet-Café stecken.“
In Deutschland spielen Franchiseketten wie Cybersmith oder Cyberia bislang keine Rolle; noch bestimmen Idealisten und kaufmännische Amateure das Bild. Internet-Cafés finden zwar selbst in Provinzstädtchen wie Ahaus, Bautzen, Cham, Illertissen und Schongau ihr Publikum. „Die Frage ist aber“, grübelt Branchenchronistin Gläsener-Cipollone, die im Brotberuf Chefin des „Cyberyder“ in Frankfurt ist, „ob die Leute eine Institution wie ein Internet-Café auf Dauer als Teil ihrer sozialen Umgebung akzeptieren werden“. Aus gastronomischer Sicht stehen viele der rund 50 Etablissements in Deutschland auf wackligen Beinen.
Beispiel München: In Roberto Saadanis „lnternet-Café“ hockt abends die Jugend der Gegend, vertilgt billige Pizza und chattet um die Wette. Während jeder normale Fladenbäcker sich bemüht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Gäste abzuspeisen, gibt der Wirt seiner Klientel sogar noch allen Grund, sich an ihren Weißbiergläsern festzuhalten und die Tische zu blockieren: Der Internet-Zugang ist in den Verzehrpreisen schon inbegriffen.
Betreiber anderer Internet-Cafés rätseln, wie Saadani mit dem Nulltarif auf seine Kosten kommt. Denn unter denen, die es zwischen Rostock und Konstanz bisher versucht haben, herrscht Konsens, daß die Investition in Geräte und Netzzugang allein über den Verkauf von Speisen und Getränken nicht zu finanzieren ist. Die meisten kassieren deshalb zeitabhängige Gebühren für die Nutzung der Computer – typischer Preis sind fünf Mark pro begonnener halber Stunde. Im Cybersmith kostet eine Stunde etwa 16 Mark, im Cyberia zwölf Mark.
Der Verkauf von Online-Zeit ist für viele der erste Schritt in die Vermarktung von Dienstleistungen rund ums Internet. Konsequent setzt Gaby Gläsener-Cipollone auf Beratung und Online-Schulungen jeder Art. Ob sich jemand für Suchmaschinen interessiert oder für die Gestaltung von Web-Seiten, ob man den Umgang mit FTP- oder Mail-Software lernen will – Cyberyder hat den passenden Abendkurs.
Tagsüber können Geschäftsreisende E-Mails abrufen oder versenden und offline mit Office-Programmen arbeiten. Die Business-Ausrichtung erscheint dem Inhaber-Ehepaar Gaby und Greg Cipollone – sie Betriebswirtin, er Techniker – nur logisch. Der Kundenkreis erwartet mehr Kompetenz als Design und schaut nicht so sehr auf die Mark, wenn der Nutzen stimmt. „Der Zulauf wird größer“, freut sich die Wirtin, „immer mehr Leute müssen ins Internet eingewiesen werden“.
Der von Cyberia übernommene Anspruch spiegelt sich im nüchternen Ambiente: Im Lokal sieht es aus wie in einem Klassenzimmer mit Tresen. Immerhin gibt es einen guten Capuccino, anders als bei Sebastian Renner in München-Schwabing. Dessen im Frühjahr eröffneter Laden Klick! (nicht im Internet-Archiv) verzichtet ganz auf Gastronomie und konzentriert sich auf Hilfestellung beim Internet-Einstieg.
Renner und die Cipollones gehen nicht nur auf die gleiche Zielgruppe los: Geschäftsleute mit Trainingsdefizit in Sachen Internet. Sowohl Klick! als auch Cyberyder sollen keine unternehmerischen Einzelkinder bleiben.
Die Gründer liebäugeln mit dem Aufbau von Filialnetzen. Nach etlichen Gesprächen mit Interessenten brachte Renner jetzt seinen ersten Franchisevertrag unter Dach und Fach. Achim Krause, selbständiger Desktop-Publishing-Profi aus Mönchengladbach, will mit seinem Partner Thomas Jerzy noch 1996 die erste Klick-Filiale am Niederrhein eröffnen. Läuft das Geschäft gut an, soll ein zweiter Shop in Düsseldorf folgen. Cyberyder wartet dagegen noch auf Nachahmer, die die Kriterien der Cipollones erfüllen.
Von einer völlig anderen Seite geht die Cybermind Interactive Europe AG, deren Virtuality Café in Berlin als ältestes Internet-Kaffeehaus Deutschlands gilt, den Franchisemarkt an (www.cybermind.de). Das Unternehmen lebt, wie Vorstand Holger Timm zugibt, vor allem von der Aufstellung von Virtual-Reality-Simulatoren in Spielhallen. Nur wenige der sechs Partner – etwa das „Cybers“ unter dem Dach der Frankfurter Zeil-Galerie – haben es gewagt, in ihren Etablissements PCs aufzustellen. Der Nürnberger Konkurrent Löwenplay, der mit der Marke „Cyberthek“ neue Gästeschichten ansprechen will, kommt ebenfalls langsam voran. Erst seit kurzem gibt es eine zweite Online-Cyberthek in Karlsruhe.
Die Zurückhaltung potentieller Gastronomen und Dienstleister, ob mit Online- oder Offline-Ausrichtung, hängt freilich damit zusammen, daß im Umfeld des Cyberspace mitunter nur schwer zu erkennen ist, welche Angebote wirklich seriös sind. Auch schwarze Schafe werben mit der Aussicht, im virtuellen Raum sei Geld zu verdienen – und wollen in Wirklichkeit nur an das Portemonnaie des Interessenten. Statt online virtuelle Deals zu schließen, können ängstliche Naturen das Web indes auch auf völlig ungefahrliche Weise nutzen: Die Kölner Agentur Mühlhaus & Moers etwa informiert unter www.Franchise-Net.de über verschiedene Geschäftskonzepte. Die vorgestellten Aktivitäten – wie auch die späteren Umsätze – sind durch die Bank real. Und garantiert offline.
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