Hochwürden auf dem Kartentrip

Eine Flut von Chipkarten rollt auf uns zu – als Ersatz für Kleingeld und Krankenschein, Ausweis und Arztrezept. Einige Anbieter ziehen die Notbremse: Per „Multifunktionskarte“ wollen sie die Inflation stoppen.

Wenn noch ein Symbol für den endgültigen Triumph der Plastikkarte gefehlt hatte, dann dieses: Die Pastoren der fünf evangelischen Hauptkirchen in der Hamburger City erwägen ernsthaft die Einführung einer „Church Card“.

Top Business 7/1993

Mit dem analytischen Geist gewiefter Marketingexperten haben die Gottesmänner eine Offerte für die kühl rechnenden hanseatischen Kaufleute maßgeschneidert, die im Schatten des Michel längst die alteingesessenen Gemeindebürger verdrängt haben. „Die Kirche muß sich dem Wettbewerb stellen“, propagiert Hauptpastor Lutz Mohaupt ein konsequent marktwirtschaftliches Christentum. Wer stets brav seine Kirchensteuer zahlt, soll auch etwas davon haben – sei es der verbilligte Eintritt beim Kirchenkonzert oder die Vorzugsbehandlung bei der Kindergarten-Warteliste. „Hochwürden auf dem Kartentrip“ weiterlesen

Private Kombinate

Zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz entwickelt sich langsam eine neue industrielle Infrastruktur. Westkonzerne testen in Sachsen innovative Konzepte – und sind sehr angetan von ihren Werktätigen.

Capital 6/1993 (Fotos: UJF)

Das obligatorische Honecker-Porträt fehlt, und die Gardinen sind frisch gewaschen. Ansonsten entspricht der muffig-spießige Konferenzraum, in dem der Manager Wolfgang Neef seine Besucher empfangen muß, noch voll und ganz dem aus DDR-Tagen gewohnten Bild: ringsum abgewetzte, durchgesessene Polsterelemente in den Farben Orange und Oliv, holzvertäfelte Wände in klassischer Politbüro-Optik, der Blick aus dem Fenster fällt auf eine düstere Kulisse aus größtenteils abbruchreifen Fabrikbauten.

Dennoch ist es nicht das trostlose Ambiente, das den Geschäftsführer der traditionsreichen Sachsenring Automobilwerke GmbH in Zwickau bedrückt. Es sind jene fünf „Profitcenters“, aus denen das Treuhand-Unternehmen heute besteht. Separat, sagt der Nachlaßverwalter der ehemaligen Trabi-Fabrik, könne er die Firmenteile – so unterschiedliche Sparten wie Fahrzeugbau, Ersatzteilhandel, Ingenieurbüro, Autorecycling und Bau von Fertigungsmitteln – privaten Investoren gewiß schmackhaft machen. Doch die IG Metall sperre sich, und darum stehe die GmbH leider nur en bloc zum Verkauf.

„Den Leuten in unserer Region“, stöhnt Neef, der seit seiner Lehre vier Jahrzehnte beim Sachsenring verbracht hat, „wäre doch mit fünf kleinen Betrieben zu je 150 Arbeitsplätzen besser gedient als mit einem großen, bei dem vielleicht 400 Arbeitsplätze übrigbleiben.“ Noch stehen freilich 1700 Menschen auf der Lohnliste, darunter alleine 300 Lehrlinge.

Wie die industrielle Zukunft des Sachsenrings aussehen könnte, ist in der unmittelbaren Nachbarschaft zu besichtigen. Dort hat sich – in einem verwitterten Bau, der einst den berühmten Horch-Werken gehörte – die Siemens Automobiltechnik GmbH (AT) mit ihrer Bordnetz-Fertigung eingemietet. Wie Klöpplerinnen hantieren einige Dutzend Frauen ungemein fix mit bunten Kabeln, bis daraus dicke Stränge werden: die Elektrik für den Golf, den VW hier ganz in der Nähe baut. Weil es Hunderte von Varianten gibt, ist das jeweilige Schema exakt auf der mannshohen Arbeitstafel vorgezeichnet.

Obwohl die Zwickauer Manufaktur mit einem Investitionsvolumen von zehn Millionen Mark zu den kleinsten Flecken auf der Sachsen-Karte der Siemens AG zählt, ist sie bereits zum Vorzeigebetrieb geworden. Nach anfänglicher Skepsis sind die AT-Geschäftsführer Gerhard Sander und Peter Schmitt von ihren 290 sächsischen Werktätigen regelrecht begeistert. „Wir sind sehr rasch eines Guten belehrt worden“, strahlt Sander, „die Motivation unserer Mitarbeiter ist hervorragend.“

Zum Beleg verweisen die zwei Westmanager auf das frische Computerdiagramm, das für jeden sichtbar am schwarzen Brett prangt. Danach hat die Belegschaft in den ersten Apriltagen die vorgegebene Norm um durchschnittlich 15 Prozent übererfüllt: Die Frauen haben schneller geklöppelt, als geplant war. Auch bei Krankenstand und Qualität halten die Kurven großen Abstand von der markierten Schmerzgrenze – die kapitalistische Planwirtschaft funktioniert.

Mit ihrer Kabelbaum-Produktion ist die Siemens AG nur einer von vielen Auto-Zulieferern, die sich auf einen ehrgeizigen Großversuch eingelassen haben: den Umbau einer traditionellen Autoregion zum modernsten Produktionsstandort Europas. Wo früher unter Regie des volkseigenen IFA-Konzerns mit einer Fertigungstiefe von 100 Prozent der Trabi montiert wurde, wächst jetzt um das VW-Werk Mosel herum ein enges Geflecht von selbständigen Unternehmen, die – quasi integriert in ein privatwirtschaftlich organisiertes Kombinat – gemeinsam und höchst rationell des Deutschen liebstes Auto produzieren.

Die Fertigungstiefe der eigentlichen VW-Fabrik sinkt dabei auf bescheidene 30 Prozent, ergo kann der Konzern auch einen Teil der Investitionen auf die Lieferanten abwälzen. Die extreme räumliche Nähe zwischen den Partnerbetrieben – im Westen in diesem Maß überhaupt nicht realisierbar – drückt die Reaktionszeiten der Just-in-time-Lieferanten auf ein absolutes Minimum.

Gegen ein Problem sind die Chefs der Zulieferbetriebe, zu denen neben Siemens auch Ableger von Hella, VDO und Allibert zählen, freilich machtlos – gegen den drastischen Sparkurs ihres Kunden Volkswagen. Die Niedersachsen, die ursprünglich bis 1994 rund 4,6 Milliarden Mark in Sachsen investieren wollten, haben den Endausbau des Standorts Zwickau-Mosel auf 1997 verschoben. Statt 1200 laufen deshalb vorerst nur 400 Exemplare des Golf pro Tag vom Band.

Während die Autobranche auf die Stotterbremse tritt, geben weniger konjunkturanfällige Wirtschaftszweige neuerdings in Sachsen kräftig Gas:

❏ Die Getränkeindustrie, allen voran Coca-Cola und die Bierkonzerne Binding und Holsten, steckt dreistellige Millionenbeträge in supermoderne Braustätten und Abfüllereien in Radeberg und Dresden.
❏ Der Fürther Schickedanz-Gruppe ist ein neues Quelle-Großversandhaus bei Leipzig fast eine Milliarde Mark wert; die fünf gigantischen Hallen, zusammen so groß wie zwölf Fußballfelder, sind für 25 Millionen Pakete pro Jahr ausgelegt.
❏  Die Degussa-Tochter Asta verordnete sich eine moderne Tablettenfabrik in Dresden für 325 Millionen Mark; produziert werden allerdings nur Generika, also Standard-Pillen ohne neuentwickelte Wirkstoffe.
❏ Die Frankfurter Investmentfirma Advanta trieb 250 Millionen Mark auf, mit denen das denkmalgeschützte Taschenbergpalais zum „Steigenberger Hotel Dresden“ umgebaut wird.
❏ Der Aretsrieder Milchgigant Müller, bereits Pächter mehrerer sächsischer Molkereien, greift nach der Devise „Alles Müller oder was?“ nach der Marktführerschaft in ostdeutschen Kühltheken; dazu bauen die Allgäuer südlich von Leipzig eine Großmolkerei samt Käsefabrik für 180 Millionen Mark.

Um ein großes Technologie-Unternehmen, in das noch vor Jahresfrist viele Sachsen große Hoffnungen gesetzt hatte, ist es hingegen sehr, sehr still geworden: das Zentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD). Die ehemalige DDR-Chipfabrik sei gerettet, hatte Wirtschaftsminister Kajo Schommer im vergangenen Oktober verkündet. Dresdner Bank und Commerzbank würden in Kürze die Gesellschafteranteile von der Treuhandanstalt übernehmen, das Halbleiter-Know-how stelle die Siemens AG. Ein halbes Jahr später sagt eine Commerzbank-Sprecherin nichts anderes: „Das ist auch heute Stand der Dinge.“

Ulf J. Froitzheim

Dieser Text erschien im Juni 1993 – gekürzt und vermischt mit dem Beitrag einer Kollegin – unter der Überschrift „Testfall für Ostdeutschland“ in der Haupt- und der Ostausgabe von Capital.

Client/Server: Wege zum Lean Computing

Top Business 3/1993

Neue Konzepte für die EDV:

Parallel zum Niedergang des Computermonolithen IBM keimt in vielen Unternehmen der Mut, sich von überholten Informatik-Konzepten zu verabschieden. Die konsequente Dezentralisierung der EDV macht oft ein flexibleres Management erst möglich.

Die Jagd ist eröffnet, die Treiber stehen bereit zur Hatz auf elektronische Dinosaurier.“ Wir blasen zum Halali auf die Großrechner“, stößt Jochen Haink, im Alltagsleben Geschäftsführer der Microsoft GmbH in Unterschleißheim, ins Horn.

Mit so kernigen Sprüchen weiß sich der Münchner Statthalter des amerikanischen Software-Tycoons Bill Gates in bester Jagdgesellschaft. Hatten bisher vor allem Produzenten preiswerter Hardware die bis zu 40 Millionen Mark teuren Mainframe-Computer ins Visier genommen, liegen jetzt immer mehr Waidmänner aus der Softwarebranche ihre Flinten auf sie an.

Unter dem Codewort „Client-Server“ sollen die mächtigen Datenmonster aus ihrem klimatisierten Bunkern verbannt werden, um Platz zu schaffen für eine neue Art der EDV: Lean Computing – die schlanke, dezentrale Datenverarbeitung, die sich passgenau einfügt in das wendige Unternehmen von morgen mit seinen flachen Hierarchien. „Client/Server: Wege zum Lean Computing“ weiterlesen

CeBIT-Special – Kritische Nabelschau der Computerwelt

Auf der CeBIT drängelt sich alles, was in der Branche Rang und Namen hat. Allerdings wird auch immer offener Kritik laut – Grenzen des Wachstums?

Top Business 2/1993

Wer heute mit einem Computerspezialisten innovative Trends bei Hardware oder Software diskutieren will, erntet höchstens noch ein mitleidiges Lächeln. Um ernstgenommen zu werden in der Fachwelt, muß er über Multimedia und Systemintegration reden, am besten aber über Themen wie Vernetzung und Kommunikation parlieren können. Tatsächlich attestieren Markt-forscher diesen Sparten der Informationstechnik noch ein solides Wachstumspotential – wogegen mit traditioneller Rechner-Hardware kaum noch Geld zu verdienen ist.

Was Wunder, daß sich auch die CeBIT mehr denn je als Pflichtveranstaltung für Computervernetzer zu profilieren sucht und gleich vier Hallen der Telekommunikation widmet. Auf Jürgen Müller, Marketing Communications Manager der Novell GmbH in Düsseldorf, machen die neuesten Anstrengungen der Niedersachsen allerdings keinen Eindruck mehr. Nach der CeBIT 1992 zog der Messeverantwortliche des führenden deutschen Anbieters von Personalcomputer-Netztechnik einen Schlußstrich unter das Thema „Hannover“. „Etwa 30 Prozent der Messebesucher waren an Netzen interessiert, und nach unseren Stichprobenzählungen waren die wohl alle auch bei uns auf dem Stand“, denkt Müller nur noch mit Grausen an jene Horden von Seh-Leuten, die es unmöglich machten, „ein ruhiges Wort mit wirklich interessierten Kunden zu wechseln.“ „CeBIT-Special – Kritische Nabelschau der Computerwelt“ weiterlesen

Fotoindustrie: Digital in die Zukunft

Über die Photo CD, ein elektronisches Fotoalbum, will der Kodak-Konzern sein Geschäft mit chemischem Film absichern und gleichzeitig vom Multimedia-Boom profitieren. Doch erst auf lange Sicht verspricht der digitale Zwitter auch Gewinne.

Top Business 2/1993

Die Jubiläumsfilme waren längst im Kino angelaufen, unzählige Reden auf unzähligen 500-Jahr-Feiern schon geschwungen, da leistete Leo J. („Jack“) Thomas noch einen späten Beitrag zum Kolumbus-Jahr. „Es ist, als hätten wir einen neuen Kontinent entdeckt, auf dem die Felder unserer Möglichkeiten nur durch die Phantasie begrenzt sind“, schwelgte der Präsident des Geschäftsbereichs Imaging der Eastman Kodak Company in Metaphern.

Was den amerikanischen Topmanager zu solch orakelhaften Formulierungen inspirierte, ist die vielseitigste Erfindung, die seine Entwicklungsingenieure seit langem auf die Beine stellten: eine bespielbare Compact-Disc, die konventionelle Fotos in die Welt der Elektronik integrieren soll.

Für Kodak, den diversifizierten Mischkonzern, dessen lebenswichtiges Kerngeschäft mit Filmen und Fotopapier seit Jahren unter Wachstumsschwäche leidet, ist die goldglänzende Photo CD nichts Geringeres als eine Brücke in die digitale Zukunft. Denn wenn Jack Thomas‘ Pläne aufgehen, wird die zwölf Zentimeter große Laserscheibe nicht etwa nur eine kleine Marktlücke stopfen. Als elektronischer Tausendsassa soll sie jeden ansprechen, der im Beruf oder in der Freizeit mit Fotos umgeht.

Die Photo CD ist für Kodak das strategische Produkt der 90er Jahre schlechthin: Vom Erfolg der seit September laufenden Einführungskampagne hängt ab, ob der Konzern aus Rochester seinen traditionsreichen Namen auf Flop oder Top verwettet hat.

Viele Fachleute sehen in der Verknüpfung von traditioneller Fotografie mit digitaler Weiterverarbeitung tatsächlich das Ei des Kolumbus. „Fotoindustrie: Digital in die Zukunft“ weiterlesen