Impfmuffel: Meine sorgenvoll-hilflose Verzweiflungswut

„Meine sehr verirrten Damen und Herren“, das habe ich als kleiner Junge verstanden, als ich die Höflichkeitsfloskel „sehr verehrt“ noch nicht kannte. Der über 50 Jahre alte Verhörer passt leider sehr gut in unsere Jetztzeit mit 50.000 Neuinfektionen am Tag, dem erneuten Katastrophenfall in Bayern und einer Inzidenz von mehr als 2500 3000 bei Kindern im Kreis Elbe-Elster in den Landkreisen Meißen und Oberer Spreewald-Lausitz. Verirrt haben sich Millionen von Mitmenschen, darunter auch gute Bekannte und enge Freund:innen der Familie. Sie sind in der Corona-Zeit derart auf Abwege geraten, dass unklar ist, ob wir einander jemals wieder so nahe sein werden wie früher. Das gilt emotional wie auch physisch: Wer sich jetzt noch nicht hat impfen lassen, rast nicht nur ohne Gurt und Airbag über eine kurvige Landstraße. Er steht sich auch buchstäblich selbst im Weg.

Die Covid-Seuche offenbart leider Charaktereigenschaften, über die man außerhalb von Krisenzeiten leicht hinwegsehen konnte, obwohl sie gar nicht so selten sind. Die Mischung von Unvernunft und Aberglauben, sträflicher Ignoranz und Hedonismus, Leichtsinn, Selbstüberschätzung und sturem Trotz ergibt eine zugleich selbstmörderische und gemeingefährliche Melange.

Übertreibe ich? Leider nein. Ich habe diese Woche live und in Farbe miterlebt, dass alles, was man außer Impfungen tun kann, zu wenig ist, um das Virus Sars-CoV 2 zu stoppen.

Jeder dürfte schon mal davon gehört haben, dass die Impfstoffe vor schweren Krankheitsverläufen schützen, aber nicht davor, sich die kleinen Biester einzufangen und zumindest in kleinen Mengen ein paar Tage lang weiterzuverbreiten. Das sieht dann so aus, dass man selbst zum Beispiel nur einen Schnupfen bekommt, aber mit einem plötzlichen Nieser Erreger ausstößt, die für Ungeimpfte eine potenziell tödliche Gefahr darstellen. Geimpfte können sogar Geimpfte anstecken, und zwar bevor sie selbst Symptome spüren. Das ist Fakt. Ich kann es bezeugen. Aber bevor ich erkläre, was passiert ist und warum das keineswegs gegen das Impfen spricht, sondern dafür, möchte ich darauf hinweisen, dass auch ein Anschnallgurt und die Airbags keine Kollision verhindern. Sie tragen nur dazu bei, dass man den Crash mit glimpflichen Verletzungen überlebt. Krachen zwei Autos mit einer Restgeschwindigkeit von jeweils 20 km/h frontal ineinander und einer von beiden Fahrern ist nicht angegurtet, verletzt sich dieser gleich schwer, als prallte er mit 40 Sachen auf einen geparkten Wagen. Wenn man Glück hat, kommt einem ein Auto mit einer besonders guten Knautschzone entgegen, die überdurchschnittlich viel kinetische Energie aufnimmt. Das sind die Impfung und die FFP2-Maske des Anderen. Sich nicht anzuschnallen, weil man sich auf die Knautschzone des Unfallgegners verlässt, wäre aber doch ausgesprochen hirnrissig, nicht wahr? Im Verkehr wie bei einer Pandemie ist und bleibt es dabei, dass jeder selbst für seine eigene Sicherheit sorgen muss.  „Impfmuffel: Meine sorgenvoll-hilflose Verzweiflungswut“ weiterlesen

Warum der BJV jetzt gute neue Leute braucht

„Tu Gutes und rede darüber“ lautete der Titel eines 1961 erschienenen Standardwerks über Öffentlichkeitsarbeit. Geschrieben hat es Georg-Volkmar Graf Zedtwitz-Arnim, der sich jahrzehntelang im DJV für „Journalisten in Wirtschaft und Verwaltung“ engagierte. Sein altes Motto sollte eigentlich auch „mein“ Landesverband leben – der BJV, der vor 75 Jahren gegründet wurde und das Jubiläum nicht begangen hat. Man kann durchaus darüber streiten, ob es etwas zu feiern gegeben hätte, denn der Verband schrumpft seit Jahren vor sich hin, und weil das nichts Gutes ist, redet man ungern darüber. Ich halte es aber lieber mit dem Kollegen Stefan Primbs, der dafür plädiert, das Versäumte mit einem „Fest der Begegnungen, des Kennenlernens, des Vernetzens“ nachzuholen: Eine Jubliläumsfeier kann ein Anlass sein, sich alter Stärken zu besinnen, neue Pläne zu schmieden, Aufbruchstimmung zu verbreiten und sich in Erinnerung zu rufen, dass „der BJV“ nicht die Funktionäre und die Geschäftsstelle sind, sondern wir alle. 

Bitte anmelden, vormerken, kandidieren: Am 29. Oktober wählt die BJV-Fachgruppe Freie ein neues Vorstandsteam! *

Was ist eigentlich unser Problem? Warum bleibt der BJV seit einiger Zeit so unter seinen Möglichkeiten? Darüber müssen wir reden. Die viel zu kurz angesetzte und noch dazu „hybride“ Mitgliederversammlung im September bot für so einen Diskurs nicht den Rahmen. Sie machte aber allein schon durch die Abwesenheit von 98,7 Prozent der Mitglieder eines klar: Damit ein Journalistenverband Gutes tun kann, über das zu reden sich lohnt, braucht er nicht nur Geld – davon hat der BJV wahrlich mehr als genug auf turmhoher Kante – sondern in erster Linie mehr Aktive und Engagierte. Leute, die mit anpacken, die ihren inneren Schweinehund bezwingen, die nicht am „Lass-lieber-mal-die-Anderen-machen“-Syndrom leiden, das in der Ehrenamtlerei leider überall grassiert, vom Elternbeirat bis zu den alten Volksparteien. Es kann nicht wahr sein, dass man oft schon froh sein muss, wenn es überhaupt genügend Kandidaten gibt für die zu besetzenden Ehrenämter. Früher oder später führt solcher Mangel dazu, dass nicht nur die Besten, Qualifiziertesten und Kreativsten gewählt werden, sondern dass Vereinsmeier und Gschaftlhuberinnen sich mit einem Pöstchen schmücken können, von denen sich niemand repräsentiert sehen will. Wenn wir also mehr sein wollen als eine in die Jahre gekommene Gewerkschaft, die sich um Tageszeitungs- und BR-Redaktionen kümmert, nämlich eine starke, moderne Interessenvertretung aller in Bayern journalistisch Tätigen, dann müssen auch alle ihren Teil dazu beitragen, denen das am Herzen liegt. Je mehr Kolleginnen und Kollegen quer durch alle Generationen etwas Zeit in die gemeinsame Sache investieren, desto weniger Arbeit lastet dann auch auf den Schultern Einzelner. Dann wird unsere alte Gewerkschaftstante BJV auch automatisch attraktiver für Jüngere, die es uns Boomern zeigen (oder auch das eine oder andere von uns lernen) wollen. Dann können wir auch unsere Nachwuchsprobleme lösen, den Schrumpftumskurs verlassen und ihn womöglich sogar umkehren. (Ich meine, wenn das sogar die SPD schafft, sollten wir uns nicht wie die CDU benehmen.)  „Warum der BJV jetzt gute neue Leute braucht“ weiterlesen

Zu alt: Datenjournalist will mir das Wahlrecht nehmen

Der Berliner Kollege Lorenz Matzat hat den Datenjournalismus nicht erfunden, aber es geschickt geschafft, sich auf diesem Gebiet zur Marke zu machen. Jetzt dreht er allerdings frei und propagiert eine ganz eigene Form des Gerrymanderings: Menschen ab 60 sollen bei jeder zweiten Wahl aussetzen – oder das Wahlrecht soll nur 14- bis 70-Jährigen zustehen.

Republikanische Politiker in vielen Bundesstaaten der USA lassen nichts unversucht, um Wählergruppen, die erfahrungsgemäß die Demokraten wählen, von den Urnen fernzuhalten. Anhand demografischer Analysen schneiden sie Stimmbezirke so zu, dass die Wege zu den Wahllokalen absurd weit sind, oder ziehen künstliche Grenzen quer durch gewachsene Stadtviertel, um den Kandidaten der „Grand Old Party“ in möglichst vielen Bezirken komfortable Mehrheiten zu sichern. Diese Tricksereien nennt man „Gerrymandering“.

Wer solche Machenschaften für ein amerikanisches Problem hält, das uns nicht tangiert, sollte vorsichtig sein. Auch bei uns gibt es Menschen, die bestimmte soziodemografische Gruppen, bei denen sie ein unerwünschtes Wahlverhalten befürchten, an der Wahl hindern wollen. Sie gehen sogar noch weiter als die Gerrymanderer, die das Wählen „nur“ erschweren oder vor dem Hintergrund des US-Mehrheitswahlrechts faktisch sinnlos machen: Suspekten oder verachteten Wählergruppen wollen sie das Wahlrecht gleich ganz entziehen. Einer der beiden Menschen, die in jüngerer Zeit offensiv mit derlei Gedanken an die Öffentlichkeit gegangen sind, kommt von ganz rechts: Es ist der Goldverkäufer Markus Krall, der am liebsten allen Empfängern von Subventionen und staatlich garantierten Transferleistungen – im Klartext: Hartz-IV-Beziehern und Aufstockern, alleinerziehenden Müttern, eigentlich allen Eltern (Kindergeld!), Landwirten und natürlich Schwerbehinderten – das Wählen verbieten würde. Der andere verortet sich scheinbar auf der gegenüber liegenden Seite des politischen Spektrums: Lorenz Matzat (@lorz), Datenjournalist aus Berlin. Er meint es fraglos gut, denn er glaubt, mit seinen antidemokratischen Anwandlungen etwas für den Klimaschutz zu können oder müssen.

Konkret schlägt Kollege @lorz vor, das Wahlrecht bereits 14-Jährigen zu gewähren und es im Gegenzug den Über-70-Jährigen wegzunehmen (s. Screenshot oben). „Zu alt: Datenjournalist will mir das Wahlrecht nehmen“ weiterlesen

Nicht-Flugtaxi: Lilium-Märchen wird immer abstruser

Wenn man denkt, der Gipfel der Absurdität müsste langsam überschritten sein, geht der Steigflug plötzlich weiter. So ist es beim Nicht-Flugtaxi „Lilium Jet“ – und der Berichterstattung über einen Unternehmer, bei dem das Jahr 403 Tage hat.

Kürzlich hatte ich hier schon am Beispiel eines Beitrags aus der „Welt“ die vollkommen weltfremden Behauptungen des Weßlinger Flugzeug-Nichtherstellers Lilium auseinandergenommen, die es trotz ihres eklatanten Mangels an Plausibilität in die Presse geschafft hatten. Heute legte die Zeitung aus dem Springer-Verlag noch einmal nach und bewies damit, dass PR- und IR-Manager mit der nötigen Chuzpe manchen Kollegen – und Investoren – wirklich die abstrusesten Zahlen vorlegen können, ohne dass diese endlich mal sagen: „Ja, spinnt Ihr denn jetzt endgültig?“

Schon die Überschrift des Beitrags anlässlich des jetzt vorgestellten Börsenprospekts ist eine reinrassige Ente. Lilium wolle für 1,16 Euro je Kilometer fliegen, heißt es unter der – ebenso entenhaften – Dachzeile „Flugtaxi-Start-Up“. Es wird sich allein schon deshalb niemand für 1,16 Euro pro Kilometer ein Flugtaxi kommen lassen können, weil niemand Flugtaxis bauen will, sondern den „ICE der Lüfte“.

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Lilium: Flixflugzug zum Taxipreis

Habe ich schon mal erwähnt, dass der Aerokurier fast das einzige deutsche Medium ist, dem ich beim Thema Flugtaxis wirklich vorbehaltlos vertraue, weil der zuständige Kollege die richtigen Fragen™ stellt? Wenn nicht, sei dies hiermit nachgeholt. An den Medien, mit denen der Weßlinger Flugzeugkonstrukteur Lilium unaufgefordert spricht, also etwa ausgewählten Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern, verzweifle ich hingegen. Selbst Kollegen, die ich sonst eigentlich schätze, lassen sich blenden, statt mal zum Taschenrechner zu greifen und die Plausibilität der PR-Ansagen zu checken.

Screenshot von welt.de

Ich möchte niemanden persönlich durch den Kakao ziehen, an der Nennung des Mediums Welt komme ich aber nicht vorbei. Dort las ich gestern, Lilium (der Möchtergern-Hersteller des eleganten 36-rotorigen Senkrechtstarters für fünf oder sieben Insassen) positioniere sich „nicht als Großstadt-Flugtaxi, sondern als Ersatz für ICE- oder Autobahnverbindungen für bis zu 250 Kilometer Entfernung“. Lassen wir mal außer acht, dass ein Unternehmen weder ein Taxi sein noch eine ICE-Verbindung ersetzen kann. Wir wissen ja, was der Autor meint.

Interessant ist daran, dass Lilium angeblich Menschen befördern will, die sich heute entweder allein zu selbstbestimmter Zeit in ihr Auto setzen, um ohne Umsteigen von einem Haus in A-Stadt zu einem Haus in B-Stadt zu fahren, oder sich einem fixen Fahrplantakt unterwerfen, um bequemer und schneller gemeinsam mit Hunderten anderen Menschen von A-Stadt Hbf nach B-Stadt Hbf zu sausen, wobei sie natürlich auch noch irgendwie vom und zum Bahnhof kommen müssen. Für das Geschäftsmodell ist es ziemlich entscheidend, ob Lilium das eine oder das andere angreifen will: Der Verweis auf die Autobahn ist absurd, wenn die Fliegerchen nicht die gleiche Leistung erbringen wie ein Taxi oder eben der motorisierte Individualverkehr, nämlich (zumindest annäherungsweise) von Haus zu Haus fahren.

Ist das nicht möglich (Spoiler: das ist es wirklich nicht), unterliegt dieses Verkehrsmittel ohne Wenn und Aber den Gesetzmäßigkeiten des öffentlichen Personenverkehrs: Es ist dann Teil einer mehrgliedrigen Mobilitätskette, die mit Fahrrad, ÖPNV oder eigenem Auto beginnt und/oder endet. Um konkurrenzfähig zu sein, müssen die kleinen Batterieflugzeuge außerdem ihre Transportleistung schneller oder billiger erbringen als das Verkehrsmittel, das sie verdrängen sollen. Oder beides: schneller und billiger.

Rechnen wir mal nach: Bis zu 250 Kilometer – das wäre zum Beispiel die Strecke München-Stuttgart. „Lilium: Flixflugzug zum Taxipreis“ weiterlesen