Wer am Sonntag von Nordrhein-Westfalen mit der Bahn in den Süden wollte, brauchte Nehmerqualitäten. Es war ja nicht ein Fernschnellzug, bei dem die DB Chaos veranstaltete, sondern derer mindestens drei. Einer davon war ein Intercity, der von Hamburg über Münster, Köln, Mainz und Hanau nach Nürnberg zockelt und dafür neun Stunden braucht. Dieser Zug musste nicht nur an einer spontan eingerichteten Baustelle im Norden Westfalens vorbeischleichen, nein, er litt auch unter Personal mit schwerer Dyskalkulie. So erfuhren die wartenden Fahrgäste an rheinischen Bahnsteigen, dass die DB-Mitarbeiter im hohen Norden am Versuch gescheitert waren, das rollende Material korrekt durchzunummerieren:
„Der Wagen 5 befindet sich zwischen Wagen 6 und Wagen 7. Die Platzreservierungen aus Wagen 5 finden Sie in Wagen 7.“
In meiner Jugend, also in der analogen Bahnsteinzeit vor Erfindung des Reisendeninformationssystems RIS, hätte man einfach ein paar Blechtäfelchen an Waggontüren umgesteckt. Das geht heute nicht mehr. Um elektronische Nümmerli umzuprogrammieren, bedarf es eines Bordtechnikers. Ein solcher fährt aber im IC nicht mit.
Der ICE, in dem zu reisen ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, führte laut Ansage „heute leider nur die Wagen 21 bis 28“. Mithin fehlte die Hälfte der Sitzplätze, aber dummerweise nicht die Hälfte der Passagiere. Darum mussten sich ein paar Hundertschaften von Reisenden, darunter ein Rudel Lufthansa-Kunden auf dem Weg nach Rhein-Main, ungeachtet ihrer Platzreservierungen mit ihren Rollkoffern in Gänge und Eingangsbereiche quetschen. Zusätzlich zu den ohnehin auf diesen Zug überbuchten Beförderungsfällen waren in Köln noch Umsteiger aus einem um 20 Minuten verspäteten IC von der Ostsee gedrängt, denen der fahrplanmäßige Anschlusszug pünktlichst davongefahren war. (So jedenfalls zeigte es die Handy-App „DB Navigator“ an.)
Die Fahrt gen Süden in dem Halbzug, der anstelle des Vollzugs verkehrte, war eine Strafe – der ICE als Straf-Voll-Zug, von dem das Eisenbahnbundesamt besser nichts mitbekommen hat. Ein bisschen Luft war lediglich in der 1. Klasse, aber auch nur deshalb, weil die meisten deutschen Fahrgäste derart schicksalsergebene Untertanen sind, dass keine Obrigkeitsstaatsbahn sie sich braver wünschen könnte.
Aufmüpfigere Zeitgenossen hätten schnell in Erfahrung gebracht, dass die in der Ersten sitzenden Mitfahrer keineswegs alle über entsprechende Tickets verfügten. Einige hatten nur zwecklos gewordene Reservierungen für ausgefallene Waggons der 2. Klasse in der Tasche. Sie waren entweder von Zugbegleitern unauffällig zu den besseren Plätzen bugsiert worden, damit sie sich wieder abregen, oder sie hatten sich aus eigenem Antrieb dorthin verzogen und warteten nun auf das Personal, das sich aber lange nicht zu ihnen durchkämpfen und ihnen deshalb auch weder ein Ticket für den Übergang in die Erste verkaufen noch einen Bahnbonus-Upgrade-Coupon abknöpfen konnte.
Hätte sich das unter den gen Stuttgart reisenden Wutbürgern zweiter Klasse herumgesprochen, wäre es wohl zum großen Hauen und Stechen gekommen. Tatsächlich blieb alles erstaunlich friedlich – selbst das gestresste Zugpersonal, das sich irgendwann einen Weg durchs Gewühl bahnen konnte. Wer keinen Anschluss mehr in seine provinzielle Heimat fand, durfte sich sogar für das letzte Stück auf Bahnkosten ein Taxi nehmen.
Auch wenn jeder noch irgendwie nach Hause kam – die Bahn könnte es in NRW durchaus besser machen, nämlich so, wie sie es im bayerischen Süden manchmal schon tut. Da werden nicht mehr die eigenen Mitarbeiter von spontanen Bauarbeiten entlang ihrer Strecke überrascht, denn wo immer gebuddelt wird, macht die DB Tage vorher ihre Pläne publik. Ganze Streckenfahrpläne werden vorübergehend geändert, und zwar nach Möglichkeit so, dass die Züge am Startbahnhof früher losfahren, statt am Zielbahnhof später anzukommen. Notfalls wird der Zug überhaupt erst hinter der Baustelle eingesetzt, bis dorthin pendeln Busse. Die Unannehmlichkeiten beschränken sich damit auf die Bewohner der Region, in der gebaut wird. Anschlusszüge auf wichtigen Umsteigebahnhöfen werden erreicht, Verspätungen schaukeln sich nicht so auf.
Andererseits: Warum sollte sich die Bahn im Nordwesten diese Arbeit machen, wenn die Menschen dort doch so viel sanftmütiger und leidensfähiger sind?
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Das mit dem elektronischen Umprogrammieren macht viel Freude, wenn man sich in Dräsden in den ICE setzt, in den Wagen, für den man reserviert hat, und nach Verstauen allen Gepäcks dann die Nummern mal eben neu programmiert werden :-/
Dafür funktionieren die ICE-Kupplungen nun auch elektrisch, soll heißen: nicht. Man sitzt dann also beim 2. Versuch auf einem korrekt reservierten Sitzplatz, der jedoch leider kein Fahr-, sondern nur ein Stehplatz ist. Wer lieber fahren will, muß nochmal umsteigen und einen dritten Platz erobern…