Lieber kommentieren als Fakten servieren

Frage an Journalistenschüler: Zu welcher Textgattung gehört wohl der hier zitierte Artikel?

„Der Mann hat sich, so wie man das von linken Grünen und grünen Linken auch in Deutschland kennt, zu einem Ordnungsfreund der Gewichtsklasse Otto Schily gewandelt.“

Kommentar, sagt Ihr? Ja, das hätte ich früher auch gesagt. Aber: nein! Dann vielleicht ein Blogpost, etwa aus Netzpolitik.org? Auch nicht. Und auch kein Spruch von Ärwin Bälzich.

Der Satz stammt von der Medienseite der Süddeutschen Zeitung, aus einem wie ein Bericht layouteten Text mit der Überschrift „Grenzgebiete“. Der Beitrag handelt vom isländischen Innenminister Ögmundur Jonásson, der gerne Netzsperren gegen Pornografie einführen würde, und die übrigen Sätze sind auch nicht besser als dieses Zitat. Die Besseren lesen sich wie aus einem Leitartikel, andere sind schlicht polemisch. Vor allem fehlen Fakten, die man schon vor fünf Tagen in der Online-SZ fand: 

„Wie genau das Gesetz technisch umgesetzt werden soll, ist noch unklar. … Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht vor, Adressen von pornografischen Webseiten vollständig zu sperren. Zudem soll es nicht mehr möglich sein, sich über isländische Kreditkarten Zugang zu pornografischen Bezahlangeboten zu verschaffen. Die geltenden Gesetze in Island verbietet bereits den Import, den Druck und die Verbreitung von Pornografie.“

Dafür sind andere Tatsachenbehauptungen in der Print-Ausgabe zweifelhaft, schief, irreführend:

„Das Internet in den Grenzen eines Nationalstaats zu zensieren, ist technisch zunächst einmal möglich. Es bedeutet, bei den Service-Providern (in Deutschland zum Beispiel Telekom oder Vodafone), welche die Verbindung zwischen globalem Netz und Endkunde kontrollieren, eine Sperre einzubauen. Diese Sperren kosten in der Regel Millionen Euro und können für Zensur jeder inhaltlicher Ausprägung genutzt werden.“

Wäre dies das Szenario – außen die böse Pornowelt, an der Grenze ein staatlich überwachter Server des Providers – bräuchte ein isländischer Pornoanbieter seinen Content ja nur irgendwo in eine innerisländische Cloud zu legen. Es wäre also Pornoprotektionismus. Die Behauptung mit den Millionen Euro wiederum lässt völlig außer acht, dass die Kosten nicht daher kommen, dass eine physische Barriere aus Hardware errichtet würde, die man zum Preis X anschaffen müsste. Sie ergeben sich aus Softwarelizenzen und dem Aufwand für den laufenden Betrieb, also Personal, Strom und Traffic, korrelieren also mit der Zahl der überwachten Verbindungen. Zahlen, mit denen der deutsche ECO-Verband einst die Zensursula-Debatte anheizte, lassen sich folglich nicht auf ein 320.000-Einwohner-Ländchen wie Island übertragen.

Die unglücklichste bis peinlichste Passage des Beitrags hat aber nichts mit der Unfähigkeit zu tun, technische und wirtschaftliche Zusammenhänge korrekt und allgemeinverständlich zu beschreiben. Sie lautet:

„Im Gegensatz zu den klassischen Medien findet im Netz keine Kontrolle vor der Veröffentlichung von Inhalten statt. Im Netz zu finden ist, was irgendjemand einspeisen wollte. Es ist das radikalste Versprechen auf Meinungsfreiheit, das es jemals gegeben hat.“

Was hieße es, wenn es diesen Gegensatz gäbe? Richtig: Zensur fände statt, in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen. Und die Chinesen oder Iraner, deren Texte in staatlichen Sperren hängen bleiben, bevor sie einer gelesen hat, bilden sich dann auch nur ein, dass man sie an einer Veröffentlichung gehindert hätte.

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