Es gibt Menschen, die leben in einer Traumwelt, aber nicht in einer schönen, sondern in einer dystopischen. Es sind Menschen, die getrieben sind von irrationalen Ängsten, welche sich zu fixen Ideen steigern. Für das gedeihliche Zusammenleben in einer Demokratie und deren Funktionsfähigkeit ist es fatal, wenn eingebildete und ausgedachte Bedrohungen das politische Handeln bestimmen. Solche Leute trifft man meistens im Internet. In kleineren Kommunen wie hier in Kaufering, wo fast jeder jeden kennt, begegnen sie einem auch live – und leider haben sie eine informelle Macht, die ihnen nicht gebührt.
Nein, ich meine nicht die Besorgten Bürger™, die zum Markenzeichen von Pegida und AfD geworden sind. Nicht die Leute, die glauben, Angela Merkel habe Grenzen geöffnet, die seit Bestehen des Schengen-Abkommens offen waren. Nicht die Leute, die glauben, dass Ausländer, also Menschen aus Gegenden östlich von Deutschland oder südlich von Österreich, genetisch zur Missachtung des Strafgesetzbuchs prädisponiert wären. Auch nicht die Leute, die sich vor Mobilfunk und Kondensstreifen fürchten. Ich meine Wutbürger wie Roland Jakob und seine Freunde, die sich Tempo-30-Aufkleber an die Brust heften und vor dem Saal Spalier stehen, in dem der Gemeinderat tagt, und aggressiv Mitbürger angehen, die sich erlauben, die völlig verkorkste und sogar gesetzwidrige Einführung einer flächendeckenden Tempo-30-Zone zu kritisieren. Ich meine Leute, die solche Aufkleber benutzen, um Mitbürger gut sichtbar in Freund (trägt das 30-Schild) und Feind (nimmt das kostenlos angebotene Schild nicht an) zu scheiden.
Auch ich mache mir Sorgen – nicht nur um die politische Kultur in Kaufering, auch um die Verkehrssicherheit, die obige Leute wie eine Monstranz vor sich her tragen, ohne sich ernsthaft für sie zu interessieren. Und ich verzweifle an Gemeinderäten, die die Chuzpe besitzen, den von der neuen Bürgermeisterin auf die gestrige Tagesordnung gesetzten TOP 3 („Tempo 30“) über einen Nichtbefassungsantrag zu kippen – unter dem vom Grünen Alex Glaser vorgebrachten Vorwand, es gäbe keine neuen Erkenntnisse und keine veränderte Rechtslage. Konkret: Meine Kritik gilt allen gestern anwesenden Gemeinderäten, soweit sie nicht den Fraktionen der UBV und der Kauferinger Mitte angehören. SPD, CSU und Grüne haben geschlossen ihr Desinteresse am Willen der Bürger demonstriert und sich für Klientelpolitik zugunsten einer lautstarken Minderheit populistischer Aktivisten um Herrn Jakob und seinen Mitstreiter Jürgen Strickstrock entschieden.
Das sind harte Worte, gewiss, aber niemandem ist geholfen, wenn man sie nicht ausspricht. Was man gestern abend im Feuerwehrhaus erleben durfte, war nicht nur eine Diskussionsverweigerung, die eines demokratischen Gremiums unwürdig war. Es war ein Schlag ins Gesicht für alle Bürger, die nach einer konstruktiven Lösung suchen, nach einem konsensfähigen Ausweg aus dem Schlamassel, das ein pragmatisch-bauernschlauer Bürgermeister und sein überforderter Nachfolger unter tätiger Mithilfe politikunfähiger und politikunwilliger Gemeinderatsmitglieder hinterlassen haben.
Welchen Stil die Rechts-vor-Links-Extremisten im zwischenmenschlichen Umgang pflegen, zeigt der verbale Ausfall eines 30-Schild-Trägers in Richtung des anders denkenden Ruheständlers Raimund J. Stolz bei einem Streit von Anhängern und Kritikern der Zonen-Regelung vor dem Feuerwehrhaus. Er wünsche ihm, so der cholerische Freund-Feind-Denker zum Kritiker, dass dessen Enkel von einem Auto mit Tempo 50 überfahren würden. Solche menschenverachtenden Sprüche kennt man leider aus „sozialen“ Medien; von Angesicht zu Angesicht sind sie zum Glück selten. Mit viel christlicher Nachsicht nachvollziehbar wäre diese unentschuldbare Entgleisung vielleicht noch, hätte es in Kaufering oder anderen Landkreisgemeinden eine Häufung von Rasern verschuldeter Unfälle mit Verletzten gegeben. Davon kann keine Rede sein. Als Kronzeuge drängt sich ausgerechnet der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club auf, genauer gesagt: der örtliche Ableger des Möchtegern-ADACs für Radler. Der hat dem Gemeinderat eine Polizeistatistik über die Unfälle zukommen lassen, bei denen in den vergangenen fünf Kalenderjahren Radfahrer zu Schaden kamen (sprich: Fahrrad kaputt und/oder verletzt). Unter den insgesamt 74 Fällen sind genau zwei, in denen als Unfallursache eine „unangepasste Geschwindigkeit“ erfasst wurde. Rasende Autofahrer waren allerdings keine beteiligt: Die Radfahrer waren schneller unterwegs, als ihre Bremsen erlaubten. Einer dieser Fälle liegt fünf Jahre zurück, einer ein Jahr.
Wer wirklich etwas für die Verkehrssicherheit in Kaufering tun will, liebe Gemeinderäte und -ratlose, sollte sich die polizeilichen Statistiken wirklich mal anschauen. Kein einziger der Unfälle, die der ADFC als Argumentationshilfe für die Zonenausweisung vorgelegt hat, wäre vermieden worden, wenn zu dieser Zeit bereits eine Zone existiert hätte. Denn der alles überragende Unfallschwerpunkt ist mit 20 Unfällen – also einem pro Quartal – die Bayernstraße, die als Kreisstraße nicht in eine Tempo-30-Zone eingebaut werden kann; wer dort den kombinierten Rad-/Fußweg benutzt, muss sich vor Abbiegern oder Einbiegern in Acht nehmen. Und er sollte selbst die Verkehrsregeln beachten: An jedem zweiten Unfall ist der Radler selber schuld.
Innerhalb des Gebiets, das von der ersten (Juli 2016) und zweiten Phase (Februar 2018) der Zonenregelung im Westen oder der Ost-Zone nördlich der Bayernstraße betroffen ist, sowie im Dorf (das demnächst verrechtsvorlinkst werden soll), passierte in den fünf Jahren insgesamt sehr, sehr wenig. Allerdings wurden aus den kleinen Zahlen nach Einführung der ersten neuen Großflächenzonen etwas größere: 2013 zeigt die Liste sechs Unfälle, 2014 und 2015 je sieben, 2016 acht und 2017 vierzehn.
Nicht einmal die Kolpingstraße mit ihren Parkplatz-Zufahrten fällt durch eine Unfallhäufung auf. 2013 kollidierte ein Radler mit einem motorisierten Zweiradfahrer, 2015 wurden zwei Radler angefahren (einer an einer Ausfahrt, dem anderen wurde die Vorfahrt genommen), 2016 stürzte einer – dem Statistikschlüssel zufolge – wohl wegen einer aufgerissenen Autotür, 2017 wurde nochmals eine Person an einer Ausfahrt angefahren. Das passiert, obwohl kein Mensch mit 30 km/h auf einen Parkplatz brettert. Diese gemeingefährlichen Traumtänzer schauen halt nicht hin und schneiden einem kurz vor dem Vorderrad den Weg ab. Und dann reicht halt manchmal des Radls Bremsweg nicht. Zum Glück passiert dabei nur extrem selten etwas, denn jeder halbwegs erfahrene Radler passt für den Autofahrer mit auf. Völlig gerechtfertigte Beschimpfungen von derlei Hasardeuren durch Rad fahrende Mitbürger sind an der Kolpingstraße Alltag – fragen Sie die Anwohner oder die Radler!
Was es sehr wohl immer wieder gab, sind Unfälle wegen Missachtung der Rechts-vor-Links-Regel. Und deshalb, Herr Jakob, Herr Strickstrock und Herr Baumeister, sind Menschen wie Herr Stolz, Frau Kramer, meine Wenigkeit und sehr viele andere gegen flächendeckendes Rechts-vor-Links – und nicht etwa grundsätzlich gegen Tempo 30. Wir sind für Vorfahrtsstraßen und die Einhaltung der StVO, die nun mal aus gutem Grund nicht erlaubt, Vorfahrtsschilder (Typ 306, die Spiegelei-Raute) einfach abzumontieren und zu ignorieren, dass einige Straßen einst bewusst als Vorfahrtsstraßen geplant und angelegt wurden. An dieses simple Faktum erinnert noch einmal das aktuelle Rechtgutachten von Christian Geppert, Fachanwalt für Verkehrsrecht in der Landsberger Kanzlei Kappes & Kollegen, das den Markt-Gemeinderäten vorliegt, das aber unsere Anti-Bürgermeisterinnen-Kenia-Koalition meint ignorieren zu können.
P.S.: Bei der Bürgerbefragung der Bürgermeisterin war eine klare Mehrheit gegen die Zonen. Die Aussage, es habe ein Patt gegeben, ist dem Umstand geschuldet, dass die Verwaltung die Unterschriften unter einer Unterschriftenliste der Aktivisten um die Herren Jakob und Strickstrock mitgezählt hat, nicht aber die Unterschriften, die Dagmar Kramer schon im Winter gesammelt hatte. Würde man diese berücksichtigen, wären die Mehrheitsverhältnisse sehr, sehr eindeutig gegen den groben Unfug mit der illegalen Aufhebung der Vorfahrtsstraßen.
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