Habe ich schon mal erwähnt, dass der Aerokurier fast das einzige deutsche Medium ist, dem ich beim Thema Flugtaxis wirklich vorbehaltlos vertraue, weil der zuständige Kollege die richtigen Fragen™ stellt? Wenn nicht, sei dies hiermit nachgeholt. An den Medien, mit denen der Weßlinger Flugzeugkonstrukteur Lilium unaufgefordert spricht, also etwa ausgewählten Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern, verzweifle ich hingegen. Selbst Kollegen, die ich sonst eigentlich schätze, lassen sich blenden, statt mal zum Taschenrechner zu greifen und die Plausibilität der PR-Ansagen zu checken.
Ich möchte niemanden persönlich durch den Kakao ziehen, an der Nennung des Mediums Welt komme ich aber nicht vorbei. Dort las ich gestern, Lilium (der Möchtergern-Hersteller des eleganten 36-rotorigen Senkrechtstarters für fünf oder sieben Insassen) positioniere sich „nicht als Großstadt-Flugtaxi, sondern als Ersatz für ICE- oder Autobahnverbindungen für bis zu 250 Kilometer Entfernung“. Lassen wir mal außer acht, dass ein Unternehmen weder ein Taxi sein noch eine ICE-Verbindung ersetzen kann. Wir wissen ja, was der Autor meint.
Interessant ist daran, dass Lilium angeblich Menschen befördern will, die sich heute entweder allein zu selbstbestimmter Zeit in ihr Auto setzen, um ohne Umsteigen von einem Haus in A-Stadt zu einem Haus in B-Stadt zu fahren, oder sich einem fixen Fahrplantakt unterwerfen, um bequemer und schneller gemeinsam mit Hunderten anderen Menschen von A-Stadt Hbf nach B-Stadt Hbf zu sausen, wobei sie natürlich auch noch irgendwie vom und zum Bahnhof kommen müssen. Für das Geschäftsmodell ist es ziemlich entscheidend, ob Lilium das eine oder das andere angreifen will: Der Verweis auf die Autobahn ist absurd, wenn die Fliegerchen nicht die gleiche Leistung erbringen wie ein Taxi oder eben der motorisierte Individualverkehr, nämlich (zumindest annäherungsweise) von Haus zu Haus fahren.
Ist das nicht möglich (Spoiler: das ist es wirklich nicht), unterliegt dieses Verkehrsmittel ohne Wenn und Aber den Gesetzmäßigkeiten des öffentlichen Personenverkehrs: Es ist dann Teil einer mehrgliedrigen Mobilitätskette, die mit Fahrrad, ÖPNV oder eigenem Auto beginnt und/oder endet. Um konkurrenzfähig zu sein, müssen die kleinen Batterieflugzeuge außerdem ihre Transportleistung schneller oder billiger erbringen als das Verkehrsmittel, das sie verdrängen sollen. Oder beides: schneller und billiger.
Rechnen wir mal nach: Bis zu 250 Kilometer – das wäre zum Beispiel die Strecke München-Stuttgart. Mit dem eigenen Auto kostet das bei 30 Cent pro Kilometer gute 70 Euro, mit dem Zug ohne Bahncard etwas über 50 Euro für eine Person. Beides dauert in etwa gleich lang, etwa zweieinhalb Stunden. Nur im Vergleich von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof liegt die DB klar vorn, wobei es aber sein kann, dass man nach seinem Termin eine Dreiviertelstunde Leerlauf hat, bis der nächste Zug geht. Nehmen wir die unrealistische PR-Aussage von Lilium von 300 km/h über diese Reichweite für bare Münze, wäre der Miniflieger also wirklich sehr viel schneller. Billiger muss er dann nicht sein, kann das aber auch nicht. Dazu gleich mehr.
Seltsamerweise lesen wir im Online-Focus, der sich seinerseits vom Wirtschaftskurier mit Content beliefern lässt, dass Lilium-Geldgeber Frank „RTL-Höhlenlöwe“ Thelen in Lilium eine Konkurrenz für den Flixbus sieht. Wofür steht die Marke Flixbus? Richtig, für langsames Reisen, das billiger ist als ICE-Fahren. Lilium-Gründer Daniel Wiegand hat zwar jahrelang beteuert, dass Flüge mit seiner Erfindung erschwinglich sein würden. Deshalb hat er vom Fliegen zum Taxipreis gesprochen, das aber natürlich anders gemeint als die Werber von Ryanair, bei denen der Flug nach Malle selbst incl. Bordgesöff und Gepäck weniger kostet als die Taxifahrt von Giesing nach MUC/FJS. Aber da kein Mensch, der nicht zuviel Geld hat, auf die Idee käme, von München nach Stuttgart mit dem Taxi zu fahren, hatten auch meine Journalistenkollegen natürlich bei Lilium immer das Dorobär’sche Flugtaxi im Sinn, mit dem man innerhalb eines Ballungsraums unterwegs ist. Unbefangene Leser mussten annehmen, dass sich jemand aus Neuaubing für den Flug nach Riem so eine Drohnendroschke kommen lässt, die kurz in seinem Garten senkrechtlandet, wieder senkrechtstartet und ihn mit 300 km/h in direkter Linie quer über die City hinweg zur Messestadt West bringt. Klar, dass das schneller geht als mit dem Mercedes Diesel über den verstopften Mittleren Ring. Da Luftlinie auch noch viel weniger Kilometer bedeutet, wäre das bei derzeit zwei Euro pro Kilometer und 4,70 Euro Anflugpauschale ein echtes Schnäppchen gewesen.
Ja, Bullshit. Der Vergleich mit dem Taxi war von Anfang an Quatsch. Ein derart teures Fluggerät mit der Fahrgastzahl eines Straßentaxis – deutlich unterhalb von 2,0 – zu betreiben, wäre wirtschaftlicher Wahnsinn. Wenn überhaupt, wäre eine plausible Analogie das vollbesetzte Anrufsammeltaxi gewesen, bei dem aber (Achtung!) jeder Insasse den vollen Tarif bezahlt. Ein Flug von A nach B hätte dann beim Fünfsitzer (vier Passagiere plus Pilot) soviel gekostet wie vier Taxifahrten zwischen denselben Destinationen, und zwar gerechnet nach Kilometern am Boden, nicht Luftlinie. Wir schauen uns nachher mal an, wie das zur Realität passt.
Vorher noch mal zu Wiegands Businessengel, der vom „Flixbus für die Lüfte“ quasselt. Frankieboy Thelen wollte doch wohl nicht andeuten, der Lilium-Kurzstreckenflug von AFX nach BFX werde so günstig sein wie die Fahrt im Setra-Hochdecker? Dann könnte er sein Geld gleich verbrennen. Schauen wir uns an, was München-Stuttgart beim grünen Busunternehmen kostet: Die Skala beginnt bei 11,99 Euro, wobei die Fahrt passenderweise am Flughafen Leinfelden-Echterdingen endet, von wo aus man mit der S-Bahn noch mal eine halbe Stunde in die Innenstadt braucht.
So, jetzt nehmen wir den Taschenrechner zur Hand und lesen noch mal genau, was die Welt schreibt: Für jeden Lilium-Jet sollen 2027 jährlich 30.000 Tickets verkauft werden, die zusammen fünf Millionen Dollar einbringen. Da das vermutlich ohne Mehrwertsteuer gemeint ist, sagen wir gerundet: Es sind 4,8 Millionen Euro brutto. Ein durchschnittlicher Flug würde also 160 Euro kosten, wäre somit zwar billiger als eine Taxifahrt, aber etwa 10- bis 13-mal so teuer wie eine Flixbus-Fahrkarte. Es sollte jedem Journalisten, der darüber schreibt, auffallen, dass da etwas nicht stimmen kann – und zwar nicht nur wegen der krassen Diskrepanz zwischen dem Bericht der Welt und Thelens Aussage gegenüber dem Wirtschaftskurier. Denn schon die von der Welt genannten Zahlen sind völlig unrealistisch. 30.000 Tickets sind 30.000 besetzte Sitzplätze pro Jahr. Da bei Lilium mal von einem Fünf-, mal von einem Siebensitzer die Rede ist, bei dem jeweils ein Pilot an Bord ist, gehen wir mal von fünf Passagieren pro Flug aus, um die mögliche Passagierzahl bei Vollauslastung zu kennen. Demnach müsste jeder Jet 6000 Flüge im Jahr absolvieren und 6000 mal die Akkus aufladen.
Das Jahr hat aber gerade mal 8760 Stunden (okay, 2028 hat 8784 Stunden). Davon fallen nur 6570 Stunden in die Zeit zwischen 5 und 23 Uhr, die im günstigsten Fall als Betriebszeit für ein Flugzeug denkbar wäre – wegen Nachfrage und Lärmschutz. Von diesen 6570 müssen wir eigentlich noch Sonn- und Feiertage sowie zwingend Wartungs- und Reparaturzeiten abziehen. Da wir dabei gewiss unterhalb von 6000 denkbaren Stunden Betriebszeit landen, hieße dass, dass die Flieger binnen weniger als 60 Minuten Senkrechtstart, Schwebeflug, Senkrechtlandung, Taxiing zur Ladesäule und Aufladung hinbekommen müssten. Mit einem Flug über 250 Kilometer Distanz wäre das Zeitbudget aber bereits ausgeschöpft. Anders gesagt: Nicht einmal bei 100 % Auslastung ist das physikalisch möglich. Und da haben wir uns noch mit keinem Wort über die Batterietechnik unterhalten müssen. Rein hypothetisch würde allenfalls ein Boxenstop im Formel-1-Tempo mit Schnellwechselakku diesen hohen Takt erlauben, aber das wäre bei einem Passagierflugzeug auf keinen Fall genehmigungsfähig. Es gibt bisher auch keinerlei Verlautbarungen von Lilium, die auf nicht fest eingebaute Batterien hindeuten würden. (Übrigens ändert sich nicht viel, wenn man einen Siebensitzer zugrundelegt, also sechs Passagiere, denn nur bei Vollauslastung von früh bis spät wäre die Ticketanzahl mit 5000 Flügen zu bewältigen – und zwar durchschnittlich für jedes Exemplar einer Flotte von 1000 Lilium Jets weltweit. So glatt sehen die Nachfragekurven im Tagesverlauf aber bei keinem Verkehrsmittel aus. )
Somit hat entweder der Kollege von der Welt nicht richtig mitgeschrieben. Dann muss sich Daniel Wiegand fragen lassen, warum er die Redaktion nicht auf den Lapsus aufmerksam gemacht hat. Es wäre doch peinlich für jeden seriösen Unternehmer, unsinnige Zahlen in der Welt stehen zu lassen (ob „Welt“ mit und ohne Gänsefüßchen). Oder die Angaben stammen wirklich so von Lilium. Wäre Wiegand dann nicht einer der größten Aufschneider seit Jürgen Schneider, Horst-Dieter Esch oder Thomas Middelhoff?
Aber, aber, höre ich die Verblendeten unter meinen Kollegen japsen, hat sich denn nicht Honeywell gerade an Lilium beteiligt? Der Zulieferer würde sich doch nicht an einer Hochstapelei beteiligen. Ja, das klingt nach einem Argument, ist aber letztlich nur ein Grund, die nächsten richtigen Fragen zu stellen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter Berufung auf das Totschlagargument „Geschäftsgeheimnis“ nicht beantwortet würden:
– Wie hoch ist Honeywells Anteil an Lilium in Euro und Prozent?
– Handelt es sich um einen Equity Deal dergestalt, dass Lilium Honeywells Rechnungen (zum Teil oder ganz) in Aktien statt bar bezahlt?
– Wieviele Mitarbeiter beschäftigt Lilium genau (sind es wirklich 600) und wie hoch sind die laufenden Personalkosten pro Monat (es müssten weit über 3 Mio. Euro sein)?
– Wie dringend ist Lilium auf Einnahmen aus dem angekündigten SPAC-Aktiendeal in den USA angewiesen, um mit derzeitiger Personalstärke weitermachen zu können?
– Welche der derzeitigen Investoren warten insgeheim auf eine Chance zum gesichtswahrenden Exit, bei dem sie möglich viel vom eingesetzten Kapital mitnehmen können?
Lars Reinhold, übernehmen Sie!
Nachtrag 29.6.2021
Heute las ich in der „Welt“, Lilium habe in den USA den Ticketpreis genannt, er liege bei 2,25 Dollar pro Meile oder 1,16 Euro pro Kilometer. Damit würde ein Flug über die im Artikel genannten 240 Kilometer (schon wieder ein Stückchen kürzer!) 278,40 Euro kosten. Natürlich verstehen sich Preisangaben in den USA ohne Mehrwertsteuer. In Deutschland käme der Kilometer damit brutto auf 1,38 Euro. München-Stuttgart würde dann unter dem Strich 330 Euro kosten – bzw. für vier Passagiere rund 1300 Euro. Und was ist die Überschrift in der ach so seriösen Qualitätszeitung „Welt“?
Genau das hat aber nicht einmal Lilium behauptet, also die Firma, die zudem auch kein „Flugtaxi-Start-Up“ (siehe Dachzeile) mehr sein will. Sie würde jedem Fluggast 1,16 Euro berechnen, also für 4,64 Euro fliegen. Und das ist nicht „günstig“, wie die Headline suggeriert, sondern liegt weit oberhalb dessen, was ein Taxi kosten würde.
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Ui! Das war gut!