Ungesunder Menschenverstand

Lange haben wir uns ungeniert als Homo sapiens bezeichnet. Dann kam ein Virus über uns. Seither frage ich mich im sicheren Home Office, wann die Evolution unseres Großhirns endlich weitergeht.

 

Liebe Mit-Heimarbeiter und Mit-Heimarbeiterinnen an den Bildschirmen!

Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Das heißt: Sie haben eine ganz normale Körpertemperatur und leiden weder an irgendeiner Atemwegserkrankung noch an Panikattacken noch an Hypochondrie. Sie waren weder beruflich in China noch zum Skifahren in den italienischen Alpen, haben den linksrheinischen Karneval und alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern gemieden. Auch Ihre schulbefreiten Kinder nerven hoffentlich nicht rum, weil Sie ihnen zumuten, die fünfwöchigen Osterferien mutterseelenalleine am verhassten Computer daddelnd zu verbringen, stundenlang zu whatsappen oder sich sterbenslangweilige Netflix-Serien reinzuziehen, nur weil Mama und Papa ungestört und uninfiziert ihre Projekte abarbeiten wollen und ein Besuch bei Oma und Opa unverantwortlich wäre.

Ich hoffe außerdem, dass nicht Sie es waren, der oder die neulich bei Nacht und Nebel ins Altenheim geschlichen ist, um die letzten drei Großverbraucherflaschen Sterilium zu entwenden – und das vor dem eigenen Gewissen mit einem außergesetzlichen Notstand namens „Lieferengpass“ gerechtfertigt hat. Dass nicht Sie im Drogeriemarkt das Regal mit dem Hygiene-Handgel leergekauft haben, das zwar 99 Prozent der Bakterien umbringt, aber Viren aller Art in Frieden lässt. Und dass Ihre Mitmenschen bei Pasta-Appetit nicht mühsam Lasagne zubereiten müssen, weil Sie ihnen zuvorgekommen sind und die lokalen Restbestände aller anderen Nudelformen in Ihrem Vorratskeller gebunkert haben.

Wenn der Klügere der Dumme ist

Wenn das so ist, attestiere ich Ihnen hiermit feierlich, dass Sie nicht an zerebraler Corona-Insuffizienz leiden. Sie dürften daher ein offenes Auge haben für ein paar selbstkritische Worte über die Menschenaffenart namens Homo Sapiens. Der angeblich „weise“ oder vielmehr „wissende“ Primat – sapiens ist das Partizip Präsens des lateinischen Verbs sapere, das „wissen“ bedeutet – ist nämlich ein Wesen, das oft nicht für zwei Cent mitdenkt. Es ist dabei auch vollkommen egal, ob man Proletarier oder Politiker ist, Analphabet oder Akademiker, Chinese, Italiener oder Deutscher. Sie und ich haben vielleicht den größten Unsinn nicht mitgemacht, den Menschen anstellen, wenn sie es mit der Angst zu tun kriegen, und können uns jetzt einreden, es sei unser „gesunder“ Menschenverstand, der uns leitet. Wissen Sie, was das Problem ist? Das glauben die Schlaumeier, die im geborgten weißen Kittel Desinfektionsmittel „beschaffen gehen“, von sich auch. Niemand denkt, er selbst sei der Narr. Von Ulrich Wickert wissen wir ohnehin, dass der Klügere hinterher immer der Dumme ist, weil er dauernd nachgibt.

999 Fußballfans auf ihrem Weg zum Würstchenstand

Was also können wir aus „Corona“ lernen? Zum Beispiel, dass die Art, wie wir unser ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis ruhigzustellen pflegen, in einem aberwitzigen Verhältnis zu den tatsächlichen Risiken steht. Verläuft sich eine kerngesunde gutbürgerliche Urlauberin im Sicherheitsbereich des Flughafens, werden sofort alle Abflüge annulliert, als sei ein Klon von Osama bin Laden gesichtet worden. Bricht aber eine Seuche aus, wartet man damit ab, bis man sich nach Wochen international geeinigt hat, dass eine Pandemie vorliegt. Oder: Was ist wohl hygienisch bedenklicher? Ein Besuch im halbleeren Restaurant oder ein Einkauf im Supermarkt, bei dem die Kunden Schlange stehen und mit ungewaschenen Fingern bar bezahlen statt kontaktlos per Smartwatch? Oder: Wenn sich a) 1001 Fußballfans auf den Rängen der FC-Bayern-Arena verlaufen, wenn es b) deren nur 999 sind oder wenn c) drei Ingenieure eines Autozulieferers einen Tag in einem kuschelig-engen Besprechungsräumchen mit einer Kollegin aus Schanghai verbringen, deren Eltern ihr den Virus aus Wuhan mitgebracht hatten? Okay, das war jetzt einfach. Aber manche Zeitgenossen müssen auch ganz einfache Dinge noch kapieren, etwa dass die momentane Situation nur deshalb nicht der Normalzustand ist, weil zum Glück die meisten Menschen gegen viele Infektionskrankheiten geimpft sind. Dummerweise strotzt der aluhütige Teil des Internets vor radikalen Impfgegnern, die nicht einmal glauben wollen, dass Viren überhaupt existieren.

Videochat statt Hausarrest

Noch etwas erkennen wir vielleicht trotz unserer limitierten Lernfähigkeit: dass viele anstrengende, klimaschädliche Dienstreisen im Zeitalter der Videochats völlig überflüssig sind. Wir reden doch dauernd von digitaler Transformation und vom CO2-Sparen. Hätten wir damit früher und konsequenter losgelegt, säßen jetzt wahrscheinlich weniger Menschen in Hausarrest. Womöglich erleben wir gerade ja auch den nächsten Evolutionsschritt mit: Wenn sich unsere Großhirne so umbauen, dass wir uns nur noch vor realen Gefahren schützen, überlebt der Homo sapiens sapiens am Ende sogar seinen selbstgemachten Klimawandel.

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