Jeanette Müller in ihrem Zürcher Büro zu erwischen, ist nicht einfach. Die Fachfrau für europäische Forschungsprogramme ist dauernd unterwegs. Heute Dublin, morgen Tiflis. Dann gönnt sie sich, nach Monaten ohne freies Wochenende, eine kleine Auszeit in den Bergen, und gleich wieder ab nach Brüssel. Ruhe für ein entspanntes Gespräch findet sie – puh! – an einem Samstag.
Das Naturell der promovierten Wirtschaftsgeografin mit „rastlos“ zu beschreiben, wäre untertrieben. Müller, die öffentliche und private Forschungslabors bei Förderanträgen berät, kennt alle fünf Kontinente. „Mein Leben“, sagt sie fröhlich, „bestand bisher größtenteils aus Reisen.“ Nach dem Abi ein Jahr Australien, als Au-Pair nach Frankreich. Studium in Bayreuth, Perpignan, Aberystwyth in Wales. Der erste Job? In der Schweiz. Nirgends hielt es sie lange: „Ich bin nicht für die Anstellung geeignet.“ Die unternehmerische Ader sei ihr wohl angeboren. Doch auch als Co-Chefin eines Start-Ups wurde sie nicht glücklich.
Im März 2008 erreichte die Heidelbergerin endlich ihr Ziel. Sie gründete ihre eigene Firma, die Accelopment AG – in Zürich, der Nabe, um die sich die Welt der hypermobilen 40-Jährigen dreht. In landesüblicher Aussprache ist Müller nun „Präsidantin vom Verwaltigsrot“, aber das will der badischen Alemannin, die fließend Englisch und Französisch spricht, dann doch nicht über die Lippen.
Wie das? Eine Ausländerin darf einfach so Alleinaktionärin einer Schweizer AG werden? Wer Emil Steinbergers Filmsatire „Die Schweizermacher“ kennt, reibt sich die Augen. Die helvetische Konföderation hat sich in den vergangenen Jahren dermaßen geöffnet für Zuwanderer, die mehr geistiges als monetäres Kapital mitbringen, dass der „Praxisratgeber zu den bilateralen Abkommen Schweiz-EU“, den Müller erst 2004 für die Handelskammer Deutschland-Schweiz schrieb, schon wieder Makulatur ist. Einst seien zur Gründung einer AG mindestens drei Personen nötig gewesen, und zwar mehrheitlich Schweizerbürger. Dann seien auch Ausländer mit Wohnsitz im Land toleriert worden, „und jetzt reiche ich allein im Verwaltungsrat aus“.
Seit ihrer Annäherung an die Freizügigkeitsregeln der EU bereichert die Alpenrepublik das Spektrum an Standorten für Unternehmensgründer, die in Deutschland keine gute Perspektive sehen oder – wie Müller – von vornherein eine internationale Klientel anpeilen. Schließlich ist es nicht jedermanns Sache, in ein Land zu ziehen, das zwar der EU angehört, dessen Sprache aber noch fremder klingt als der Rachenkratzer Schwyzerdütsch. Etwa nach Schweden, wo der Ex-Bergbau-Manager Michael Meyer (50) heute als Importeur von Müesli, Mehl und Vollkornnudeln aus Dinkel lebt. Da fällt es manchem noch leichter, nach alter Väter Sitte nach Übersee auszuwandern wie der Diplom-Ingenieur Bernd Fehrenbach (38), der in Pennsylvania ein Fachgeschäft für Schwarzwälder Kuckucksuhren und handgeschnitzte Krippenfiguren betreibt.
Auch in der Ferne nah
So unterschiedlich die Tätigkeiten und Persönlichkeiten der drei Gründer auch sein mögen: Ihre Lebensläufe sind exemplarisch für deutsche Migranten im Zeitalter von WWW und Globalisierung. Wer fortgeht, weiß besser als je zuvor, was ihn erwartet. Dank Videotelefonie via Internet und Billigfliegerei ist er für Freunde und Familie nicht aus der Welt. Die Rückkehroption gehört heute sowieso dazu.
Ohne das Internet wäre keiner der drei da, wo er heute ist – buchstäblich-topografisch oder im übertragenen Sinn. Vielfliegerin Müller hält von unterwegs via Skype und E-Mail Kontakt zu ihren oft Tausende Kilometer entfernten Auftraggebern. Müesli-Mann Meyer, der in einem abgelegenen Skiparadies lebt, müsste ohne online-basierte Logistik in Stockholm, Malmö oder Göteborg wohnen. Und der Folklore-Vermarkter Bernd Fehrenbach hätte sich ohne Google sehr viel schwerer getan, den Absatzmarkt Amerika auszuloten.
Der „resident alien“ (Ausländer mit Wohnsitz in den USA) ahnte vor 15 Jahren nicht, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde, der in Schonach eine kleine Kuckucksuhrenschnitzerei betrieb. Nicht, dass es ihm am Interesse an diesem Traditionshandwerk gemangelt hätte; er sah es nur zur brotlosen Kunst werden. „Der Trend ging zur Schnitzerei im Ausland“, sagt der 38-Jährige, „die Aufträge der Uhrmacher wurden weniger.“ Darum ging der Junior studieren, arbeitete dann als Produktmanager beim Sensorspezialisten Sick in Waldkirch im Breisgau.
Der Vater suchte derweil ein Zubrot im Direktvertrieb und bot Schwarzwälder Uhren auf Verbrauchermessen und Weihnachtsmärkten feil – in Deutschland. Hierzulande waren Kuckucksuhren allerdings schon etwas aus der Mode, der Großteil der Produktion ging an Touristen, vor allem Amerikaner. Mit 27 hatte Fehrenbach jr. sein Aha-Erlebnis: Ein Schulfreund schwärmte ihm etwas vor von „Arts & Crafts Shows“, Verkaufsmessen für Kunsthandwerkliches. Er recherchierte im Web, fand Informationen über eine große Show bei Pittsburgh und das Oktoberfest in Columbus (Ohio), schlug seinem Vater vor, es mal gemeinsam auszuprobieren – und investierte seinen Jahresurlaub 2000 in das Experiment. Ergebnis: Die Nachfrage war okay, die Fixkosten etwas hoch. „Wenn ich zehn Wochen drüben bleibe“, kalkulierte Fehrenbach, „rechnet sich das.“
Ein ein paar Monate später hängte er seine Karriere in der Hightech-Industrie an den Nagel und stieg ins old-fashioned Kuckucksuhren-Business des inzwischen 65-jährigen Seniors ein, freilich mit neuem Geschäftsmodell. Als Ein-Mann-Unternehmen mit Sitz in Schonach tingelte er mit Geschäftsreisenden-Visum durch die Vereinigten Staaten, klapperte mit Mietwägen und später mit einem eigenen Gebraucht-Van lukrative Shows ab.
Gastarbeiter aus dem Schwarzwald Bis 2007 ging das so mit dem transatlantischen Pendlerdasein, ein paar Mal flog Fehrenbachs Frau mit. Erst als sie schwanger wurde, reifte der Gedanke, sich dauerhaft in den USA niederzulassen. Die perfekte Home Base für die Tingeltouren war schnell skizziert: ein Ladengeschäft in der Nähe eines Ballungsraums mit zahlungskräftigem Publikum, in einer hübschen Gegend.
Also fragte der Schwarzwälder Händlerkollegen und Kunden auf „seinen“ Märkten an der Ostküste. So erfuhr er von Peddler´s Village, einem familienfreundlichen Ausflugsziel in grüner Hügellandschaft mit allerlei Krimskramsläden, Gastronomie und Entertainment. Die Anlage bei Doylestown, einem beschaulichen, geschichtsbewussten Städtchen, ist beliebt bei gut situierten Bürgern aus einem Einzugsgebiet, das von Washington im Süden über Baltimore, Philadelphia und New Jersey bis nach New York City im Norden reicht. Peddler´s Village zelebriert als sein USP, sprich Alleinstellungsmerkmal, dort gebe es all das zu kaufen, was man rund um die Fifth Avenue vergeblich sucht.
„Wir haben uns hier sehr schnell heimisch gefühlt“, sagt Fehrenbach. Die Region sei geprägt von deutschen Einwanderern, es gebe deutschstämmige Bäcker und Metzger. Weil sein Laden sieben Tage pro Woche geöffnet ist und er nach wie vor an wichtigen Arts & Crafts Shows teilnimmt, hat Fehrenbach inzwischen außer Saison- und Teilzeitkräften einen Gastarbeiter in Vollzeit eingestellt – den 26-jährigen Sohn eines Kunden seines Vaters, also jemanden mit Ahnung und dem richtigen Stallgeruch. „Das ist das Wichtigste im Verkauf: Er ist Deutscher“, sagt der Geschäftsmann. Die Kunden wüssten diese Authentizität, die er durch einige schwarz-rot-goldene Accessoires in seinem Sortiment unterstreicht, sehr zu schätzen.
Der Standort des Familienbetriebs Dinkelboden ist dagegen kein Resultat strategischer Planung. Am Anfang stand auch keine Geschäftsidee, sondern die Liebe von Michael und Ulrike Meyer zu Schweden. Als sie 1999 nach Duved in der nordschwedischen Wintersportregion Årefjällen umsiedelten, ahnten die Meyers nicht einmal, dass sie eines Tages eine Lebensmittelfirma gründen würden. Das Fernweh nach Norden trugen sie seit einer Studienreise 1994 im Gepäck. Als es mit dem Specksteinwerk im Fichtelgebirge abwärts ging, in dem der Familienvater damals arbeitete, suchte ein in Åre ansässiger Konkurrent einen Produktionsleiter. Meyer ergriff die Chance – und durchlitt bald einen Konkurs sowie die Rettung durch einen Schweizer Investor. „In der Mineralienindustrie ging es rauf und runter“, erinnert sich Meyer.
Er wollte weg – aus dem unsicheren Job, nicht aus Åre. Mit seiner Frau spielte er die Optionen für eine Selbständigkeit durch: Sollten sie etwas mit Wintersport machen? Ein deutscher Lieferant, von dem sich die Vollkornfans Dinkelmehl schicken ließen, um nicht das fluffige schwedische Weißbrot lutschen zu müssen, brachte sie auf eine originellere Idee: „Wenn das bei Euch so schwer zu kriegen ist, warum bestellt Ihr nicht mehr davon?“ Die Marktlücke war gefunden. Nach Tupper-Vorbild luden die Meyers zu Dinkel-Partys. Die deutsche Vollwertkost schmeckte auch den Schweden. 2003 eröffnete das Paar – abgesichert durch staatliches Überbrückungsgeld, das auch Ausländern zusteht – einen kleinen Laden, die Dinkelbude, schwedisch: Boden. Nur zwei Jahre später standen Produkte der Marke Dinkelboden landesweit in den Regalen der Supermarktkette ICA. Im Nachhinein staunt Meyer selbst, wie seine Frau und er das alles zu zweit hinbekommen haben. „Wir hatten keine Ahnung“, gibt der Autodidakt zu. Ohne jede kaufmännische Vorbildung hatten sich der Techniker und die Arzthelferin in das Abenteuer gestürzt. Verpackung, Marketing, Logistik? Alles Neuland. Die Meyers lernten schnell, zahlten aber manche Krone Lehrgeld.
Heute stehen die Auswanderer am Scheideweg. Etablierte Müsli- und Nudelhersteller haben den Trend erkannt und unterbieten Dinkelboden mit „Dinkel“-Produkten, die mit billigem Hafer oder Weizen gestreckt sind. Diese Tricksereien müssten die Meyers mit massivem Marketing kontern, doch dafür ist ihre Bude zu klein. Michael Meyer sucht nun einen finanzstarken Investor, der hilft, die Qualitätsmarke aus der Nische zu holen und auch bei anderen Ketten zu platzieren. Er strebt aber keinen Exit an, sondern eine Partnerschaft, denn er brennt für die Firma. „Ich arbeite immer noch wie ein Deutscher“, sagt Meyer, der sich anfangs erst an die eher stoische Mentalität der Skandinavier gewöhnen musste.
Zurück in die alte Heimat zieht ihn nichts, seine Kinder findet er „mehr schwedisch als deutsch“. Als die 18-jährige Tochter, ein großes Langlauftalent, mit dem schwedischen Team zur Junioren-WM nach Hinterzarten durfte, waren die Eltern dabei. Da sei ihm „extrem aufgefallen“, wie viele Menschen hier gestresst wirkten, sagt der Papa: „Das ist ein anderes Leben in Deutschland.“ Auch Gründer Fehrenbach, der spät den endgültigen Schritt nach Amerika wagte, leidet nicht an Heimweh: „Ich hätte es schneller machen können. Sechs Jahre waren zu lang.“ Und Unternehmerin Müller? Die zählt die Monate bis zur ihrer Einbürgerung im Kanton Zürich. In zwei Jahren darf sie etwas tun, was zu „Schweizermacher“-Zeiten nicht einmal allen Inländerinnen erlaubt war: abstimmen. Das Beste: Ihren deutschen EU-Pass darf die Wahl-Schweizerin behalten.
Ulf J. Froitzheim
aus dem impulse-Sonderheft Gründerzeit 1/2010
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