Vorsicht bei mobiler Elektrizität! Wer sich auf Ladestandsanzeigen verlässt, ist verlassen.
Neulich vor dem Badezimmerspiegel habe ich endlich kapiert, was „Memory-Effekt“ heißt. Bisher dachte ich, der Terminus technicus beziehe sich auf das Gedächtnis des berüchtigten NiCd-Akkus. Dieser Elefant unter den wiederaufladbaren Batterien merkt sich bekanntlich, wie weit ich ihn zuletzt ge- und entladen habe, und sagt fortan schon an diesem Punkt: „Ich mag nicht mehr.“ Nein, es geht um mein Gedächtnis. So hatte ich mich bemüht, den Akku meines Bartstutzers strikt nach Anleitung zu pflegen: möglichst weit entladen, erst dann wieder ans Netz. Nach sieben bis acht Stutzungen sollte man genau hinhorchen, ob der Sound noch kräftig genug klingt.
Leider hatte ich vergessen mitzuzählen – und plötzlich, ssssrrrrrr-rrr-rr-r-p!, stand ich da mit meinem Likurela-Bart: links kurz, rechts lang. Die nächsten 14 Stunden konnte ich nicht unter Menschen gehen. Solange der Netzstecker steckt, hält der Haarschneider nämlich seine Messerchen still, und ihn vor der Zeit abzustöpseln, ist mir – siehe oben – zu riskant. Die grüne „Ladeanzeige“-LED am Netzteil hilft nicht. Sie zeigt nicht an, wann’s reicht, sondern – kein Witz – dass der Stecker in der Dose steckt.
Dass so eine museumsreife Technik im 21. Jahrhundert noch verkauft wird, ist natürlich unsere eigene Schuld. Spätestens seit Erfindung des Funktelefons lassen wir uns im Elektromarkt ja alles andrehen, Hauptsache es hat kein Kabel. Plug and play? Ach was, das ist Steinzeit. Plug nicht and play trotzdem, lautet die heutige Anforderung an den häuslichen Kleingerätezoo. Mit dem Telefon fing alles an. Wir nahmen dem Mobilteil die wohnungsweiten Suchaktionen nicht krumm und störten uns auch nicht an den spontanen Gesprächsabbrüchen. Das waren schließlich die geringeren Übel, verglichen mit dem Sturzflug über verzwirbelte Strippen. Als begeisterte Anhänger der Schnurlosigkeit lernten wir nie, vor dem Kauf eines Geräts zur Abschreckung die Pflegeanleitung des Akkumulators zu lesen.
Das hätten wir besser tun sollen. Zur Strafe sitzen wir jetzt da mit unserem Arsenal an aufladbarer Technik, einem Sammelsurium an Nickel-Cadmium-, Nickel-Metallhydrid-, Lithium-Polymer- und Lithium-Ionen-Akkus in diversen Variationen. Nichts bräuchten wir dringender als eine iPad-App, die uns sagt, wann was wieder ans Netz muss und wie lange: Rasierer und Nasenhaarschneider, Zahnbürste und Milchaufschäumer, iPod und Kopfhörer, Maus, Tastatur und Computer, Foto- und Videokamera, Schraub- und Bohrmaschine, Schwingschleifer, Rasenmäher, Graskantenschere. Plus die Mignonzellen, die sich auf ein Dutzend anderer Gerätschaften verteilen, die irgendwo im Haus herumliegen. Alles frei nach dem Motto: Ich werde gleich die Welt retten, muss nur noch kurz meine 148.713 Netzteile checken.
Blöd ist nur, dass der Akku im iPad schlappmachen könnte, bevor wir damit fertig sind. Apples allerneuester Brettcomputer bezieht seine Energie zwar aus einem ganz modernen Lithium-Speicher mit ausgeklügelter Steuerelektronik. Wie sich kürzlich herausstellte, ist die Ladeanzeige aber nicht viel hilfreicher als die in meinem Bartstutzer. Nicht dass sie – wie branchenüblich – eine schwankende oder viel zu optimistische Restlaufzeit nennen würde. Es ist andersherum: Das Display zeigt beim Aufladen schon 100 Prozent an, lange bevor der Akku voll ist. Ein Softwarefehler.
Wenn die Autoindustrie ähnlich arbeitet, bin ich gespannt, wie es in ein paar Jahren auf unseren Straßen zugehen wird. Falls der „Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität“ aufgeht, genügt dann ein missratenes Software-Update eines großen E-Autoherstellers, und schon fahren Hunderttausende Pendler mit halbleerer Batterie los. Und die Autobahnen werden zu verkehrsberuhigten Zonen.
ULF J. FROITZHEIM, Radfahrer und Ladekontroll-Pessimist, konnte sich noch nicht zu einem Pedelec durchringen. Ein normales Fahrrad lässt sich leichter bergauf schieben.
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