Dirk von Gehlen arbeitet für die Contentindustrie, für einen Arbeitgeber aus dem Sektor der Mainstream-Medien, also für einen papierverarbeitenden Betrieb – den Süddeutschen Verlag. Er hat die Deutsche Journalistenschule absolviert, sitzt neuerdings sogar im Vorstand ihres Förderkreises. Qua Amt gehört er also prinzipiell in die Schublade Old School, passt demnach eigentlich ins Feindbild derer, die man heute „Netzgemeinde“ nennt, wenn man sich als Digitaler Einwanderer beschimpfen lassen möchte. Da er jedoch für den SZ-Jugend-Ableger jetzt verantwortlich ist, schreibt er nicht seinem Arbeitgeber, sondern seiner Zielgruppe nach dem Mund.
So hat sich Kollege Gehlen kürzlich in einem Beitrag für den Deutschlandfunk Gedanken über eine zeitgemäße Adaption des Metakommunikativen Axioms von Paul Watzlawick gemacht, wonach man „nicht nicht kommunizieren“ könne. Nach seiner Ansicht…
„…bekommt Paul Watzlawiks Feststellung man könne nicht nicht kommunizieren eine neue duplizierende Bedeutung: Man kann nicht nicht kopieren. Kopieren ist Bestandteil unseres Alltags geworden und insofern kein tauglicher Gradmesser (mehr) für illegales Verhalten.“
Die These ist natürlich so steil wie eine hochgeklappte Zugbrücke, denn zum Kopieren braucht man ein Gerät, und so lange man dieses nicht besitzt oder nicht einschaltet, kopiert man nichts. Eine nennenswerte Minderheit der Bevölkerung hält also das, was angeblich unmöglich ist, stunden-, tage-, wochen- oder monatelang durch. Manche haben es in ihrem Leben noch nicht (selbst) getan.
Wenn es das metakopistische Axiom nach Gehlen schon nicht gibt, könnte man immerhin zugeben, dass man nicht nicht zitieren kann. Dem hätte auch Watzlawick gewiss zugestimmt. Diese kleine Blogpost-Reihe zum Beispiel nennt sich „Wozu Urheberrecht?“, und als ich ihr diesen Titel gab, existierte bereits eine – mir noch nicht bekannte – Dissertation, die fast genauso heißt. (Ob „warum“, „weshalb“, „wieso“ oder „wozu“, das sei egal.)
Aber Gehlen bezieht sich explizit aufs Kopieren, und das ist nun einmal die 1:1-Replikation des Originals oder wesentlicher Teile davon. So verweist er auf einen Text der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Guy Kirsch und Volker Grossmann im FAZnet, in dem hierzu folgender Gedanke steht:
„Gesetze aber, die dem Rechtsempfinden zuwiderlaufen, sind auf die Dauer nicht durchzusetzen; mehr noch: Sie zerstören den Glauben an die Gesetzlichkeit. Somit besteht die Gefahr, dass das ohnehin schon problematische Verhältnis der Bürger zum Staat weiteren Schaden nimmt.“
Ein höchst gefährlicher Gedanke: Es käme nicht mehr auf Legalität, Legitimität oder Verfassungsnormen an, sondern auf subjektives Rechtsempfinden der Bürger. Wäre es in Emden nach dem „Rechtsempfinden“ erschreckend vieler (auch junger und netzaffiner) Deutscher gegangen, wäre nicht nur ein Mädchen gestorben, sondern auch ein zu Unrecht verdächtigter junger Mann. Nach verbreitetem Rechtsempfinden, das gemeinhin mit dem adjektivischen Adelsprädikat „gesund“ daherkommt, hätten wir längst einen unbefristet vorratsspeichernden Überwachungsstaat, denn der Gute Deutsche hat bekanntlich nichts zu verbergen und daher nichts zu befürchten. Es gäbe Zwangs-DNS-Massenuntersuchungen, unmittelbaren Zwang in Verhören, nachträgliche Sicherungsverwahrung und früher oder später vielleicht sogar die Todesstrafe.
Es zeichnet den Rechtsstaat aus, dass er sich nicht von noch so verständlichen subjektiven Empfindungen leiten lässt, sondern populistischen Anfechtungen widersteht. Zudem widerspricht die These, ungeliebte Gesetze förderten die Staatsverdrossenheit, der Erfahrung: Geschwindigkeitsbegrenzungen und Parkverbote werden keineswegs abgeschafft, Steuerhinterziehung nicht legalisiert, obwohl der Staat auch auf diesen Gebieten die Gesetze nicht ansatzweise gegen Abermillionen gewohnheitsmäßiger Rechtsverletzer durchzusetzen vermag, deren Unrechtsbewusstsein mindestens so unterentwickelt ist wie das der Schwarzkopierer.
Gehlen jedoch spinnt den Gedanken der Schweizer Ökonomen (merke: keine Juristen oder Politologen) weiter und überhöht die bloße Übernahme fremder Leistung zum Akt der Kreativität und Partizipation:
„Kreatives Kopieren ist zum Motiv gesellschaftlicher Teilhabe geworden.“
Pardon, Kollege: Am Kopieren ist nichts kreativ – am Vervielfältigen von Popmusik und Kinofilmen, das im Mittelpunkt des ganzen Streits ums Urheberrecht steht und alle anderen Nutzerinteressen weit überragt, schon gar nicht. Ich muss schon in der Auseinandersetzung mit dem Werk eines anderen etwas eigenes schaffen, und zwar etwas, das keinen Zweifel daran lässt, dass es mir nicht ums Sparen eigener Kosten und Mühen geht wie einst dem gestrauchelten Verteidigungsminister. Sähen alle es wie Sie, wäre „Teilhabe“ ein so sinnentleerter Begriff wie das „Teilen“ im Social Network, das ja in Wahrheit nur ein Mitteilen ist. Gesellschaftliche Teilhabe heißt mitzudenken, eigene Gedanken zu entwickeln, selbst kreativ und aktiv zu werden.
Dass eine fleißige Aktivistenschar durchs Netz brüllt „Legalize it“, ist noch lange kein Grund, ihr den Gefallen zu tun, zumal es einige dieser Leute meisterhaft verstehen, ihr eigenes Echo durch Crossposting in verschiedensten Foren massiv zu verstärken. Wer versucht, dagegenzuhalten, kommt sich vor wie ein Hase, der überall liest: „War schon hier. Igel.“ Nur dass der heutige Igel keine Frau mehr braucht, sondern sich mittels der Kulturtechnik Cut & Paste selbst klonen kann, was seiner Ubiquität sehr zugute kommt.
Wenn schon Legalize, dann wäre es gesellschaftlich allemal wichtiger und dringender, THC-haltige Präparate für medizinische Anwendungen auf Krankenschein zu legalisieren. Die sind nämlich nur deshalb verboten, weil das Rechtsempfinden der Deutschen zu Kiffern nicht so gnädig ist wie zu Säufern.
Fortsetzung folgt.
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