Sebastian Heiser, Kollege bei der taz, hat sich unbeliebt gemacht, indem er das offizielle Wording der Piratenpartei vom „fahrscheinlosen Nahverkehr“ missachtet und statt dessen im Klartext „kostenlos“ geschrieben hat. Auf die Proteste reagierte er – wie der Freischreiber-Newsletter meldet – mit der Gegenüberstellung eines von ihm verfassten „falschen“ (also normalen) Textes mit einem „richtigen“, der von vorne bis hinten aus formal korrekten Juristizismen und offiziellen Lesarten zusammengesetzt ist.
Der Schuss ging allerdings nach hinten los. Die Kommentarspalte ist voll von Leserpostings, in denen das bürokratendeutsche Geschwalle als besser bezeichnet wird. (Das kann zweierlei heißen: Freunde des Amtsdeutschen sind in der Mehrheit – oder sie sind nur fleißigere Leserbriefschreiber.) Auffällig oft verteidigen die bürokratischen Besserwisser das Piratendeutsch.
Der orangefarbenen Splitterpartei ist es sichtlich wichtig, den Bürgern vorzumachen, es gehe nicht darum, Schwarzfahren zu entkriminalisieren (und Wähler aus diesem Milieu zu hätscheln), sondern den Nahverkehr zu modernisieren.
Ich selbst verstand unter „fahrscheinlos“ bisher mein Handyticket bei der Deutschen Bahn. Anstelle des Fahrscheins zeige ich einen QR-Code auf dem Mobiltelefon vor. Denkbar wäre auch, dass ich mein Handy oder meinen Schlüsselanhänger kurz an ein NFC-Lesegerät halte und am Monatsende eine Abrechnung bekomme, die nach dem für mich günstigsten Tarif berechnet ist. Das ist die Idee hinter dem Touch & Travel-Konzept. Beides bedeutet für mich fahrscheinlos zu reisen, aber keineswegs kostenlos.
Was die Berliner Piraten in Wahrheit meinen, ist – wie Sebastian Heiser sehr richtig schrieb – kostenloser Nahverkehr. Kostenlos bedeutet schließlich nicht, wie das einige leserbriefschreibende Haarspalter insinuieren, dass es niemanden etwas kosten würde, sondern dass es den Nutzer nichts kostet. Sogar Freibier kostet etwas, nämlich den Brauer oder Wirt die Gestehungskosten.
Würde die Piratenidee umgesetzt, könnten nicht nur die Berlinerinnen und Berliner von früh bis spät auf Steuerzahlerkosten in der Stadt umherfahren, sondern auch Tagestouristen. Wer übernachtet, soll zwar über die geplante City Tax – eine Art Kurtaxe in Höhe von fünf Prozent des Übernachtungspreises – an den Kosten beteiligt werden. Bei einem preiswerten Hotel wären das aber nur 2,50 Euro – für An- und Abreisetag zusammen. Das ist nicht einmal die Hälfte des Preises einer Tageskarte. Als gelegentlicher Gast der Stadt würde ich also profitieren, während Berliner Gäste bei uns in Bayern weiterhin Fahrscheine kaufen müssten.
Gleichzeitig würden aber auch manche Einheimische, denen es einfach nur langweilig ist und die vielleicht nicht mehr alle völlig nüchtern sind, kreuz und quer durch die Stadt fahren. Niemand würde mehr die Stoßzeit meiden, weil es ja nach 9 Uhr nicht mehr billiger würde – weniger als Nulltarif geht nicht. Im besten Fall bräuchten die Verkehrsbetriebe nur zusätzliche Busse und Züge und mehr Personal. Im schlimmsten Fall wäre der Anteil an Betrunkenen, die gemütlich ihren Rausch im warmen Bus oder in der S-Bahn ausschlafen, irgendwann so hoch, dass andere Passagiere sich abgewöhnen, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Kontrolleure, die ihn vor der dritten Tour Rudow-Spandau und zurück wecken und mangels Fahrschein an die frische Luft komplimentieren, hätte der schnarchende Säufer ja nicht mehr zu fürchten. Sie wären allesamt arbeitslos.
Im zweiten Fall hätte die Politik das Ziel, die Menschen zum ÖPNV zu bekehren, verfehlt. Der erste hätte eine Steuererhöhung für alle Berliner zu Folge, auch für die, die zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren. Dabei wäre nicht einmal sicher, dass die Zusatzsteuern wirklich den Verkehrsbetrieben für Investitionen zur Verfügung stünden. Eine solche Zweckbindung ist steuerrechtlich gar nicht möglich. Hinzu kommt, dass der Wegfall der Fahrscheineinnahmen dem Management der Verkehrsbetriebe auch noch den letzten Anreiz nähme, Passagiere zu zufriedenen Stammkunden zu machen. Die BVG hinge am Tropf eines fast bankrotten Senats, dem sie umso mehr Geld aus dem Kreuz leiern müsste, je mehr Fahrgäste das Gratisangebot nutzen wollten. Wer mit den bescheidenen Mitteln auskommen will, tut also gut daran, Kunden abzuschrecken. Warum noch putzen, wenn dadurch kein Cent mehr in die Kassen kommt?
Das ist das, was das schöne Wort „fahrscheinlos“ bemänteln soll. Es ist ein Euphemismus, eine verlogene Wahlkampfparole von Leuten, die keinen attraktiven Nahverkehr wollen, sondern aus ideologischen Gründen einen zwangsfinanzierten anstreben. Seltsam nur, dass dieses steinzeitkommunistische Konzept von Leuten kommt, die von Musikern und Autoren erwarten, dass sie die galoppierende Entwertung ihrer Arbeit schlicht als Folge einer unumkehrbaren Marktentwicklung hinnehmen und sich eben selber neue „Geschäftsmodelle“ ausdenken. In diesem Weltbild darf der Komponist oder Schriftsteller kein geistiges Eigentum beanspruchen, aber dafür mit dem klapprigen Bus zur Suppenküche fahren, ohne einen Fahrschein kaufen zu müssen.
Solche Wählerveräppelung zu entlarven, ist die Aufgabe von Journalisten. Quod erat demonstrandum. Danke, Kollege Heiser!
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Herzlichen Dank für diesen Beitrag, den ich mit Genuss gelesen habe. Mich nervt nämlich auch dieses dämliche Gerede der Piraten und manch anderer Netzpolitiker, die – bezüglich der Urheberrechte von Kulturschaffenden – allzu gerne von „veralteten Geschäftsmodellen“ reden. Das ist diese Art von „Mitbürgern“, denen ich die Suppenküche sogar wünsche. Denn manche müssen wohl erst erleben, was das für sie selbst bedeutet. Indes hatten wir das Scheitern des Kommunismus ja schon mal im Osten Deutschlands beobachtet, und die Steinzeit ist auch schon ein paar Tausend Jahre vorbei. Aber um daraus zu lernen, müsste man sich mit Kultur und Geschichte auseinandersetzen, nicht jeder kann das. Was zu beweisen war …