Eine Lanze für den Leserbriefredakteur

Wenn in einer großen Zeitungsredaktion jemand einen wirklich undankbaren Job hatte, war es der Leserbriefredakteur. Er fischte aus dem Eingangskorb die Texte heraus, die interessante Gedanken enthielten, und filterte Hassreden, Wichtigtuerei und dummes Zeug weg. Er kürzte bei Bedarf Redundantes und verdichtete die Pro- und Contra-Äußerungen auf verdauliche Länge. Dafür hassten ihn alle, die sich nicht 1:1 (oder gar nicht) im Blatt wiederfanden, und auch sein Sozialprestige innerhalb der Redaktion war meist eher bescheiden.

Wie wertvoll die Arbeit eines Gatekeepers bei Leserbriefen war/ist, erkennt man, wenn man den Fehler macht, im falschen Online-Forum seine Meinung abzugeben – etwa bei welt.de, einer Website, die für solche Zwecke den Dienst disqus nutzt.

Beispiel Bundespräsident: Zur so genannten* Kreditaffäre nervt da nicht nur völlig ungefiltert jene Sorte Mensch herum, die am Stammtisch nur dann mal kurz zu Wort kommt, wenn die Wortführer gerade verhindert sind, weil sie Bier nachkippen oder entsorgen müssen. Außer diesen uninspirierten, reaktionären Hassknechten, die gerne mal anzüglich-primitive Bemerkungen über Bettina Wulff loslassen, um ihren Mann zu verletzen, breiten sich auch Kommentarspammer aus. Wer sich noch einigermaßen Anstand bewahrt hat, bekommt einfach nur noch Mitleid mit den Wulffs.

Fazit: Die Hoffnung, die Befreiung des Leserfeedbacks vom Gatekeeper werde zu einer besseren Partizipation der Bürger am gesellschaftlichen Diskurs führen, war naiv. Hält sich bei SpOn und Heise der Anteil an Dummschwätzern, Trollen und selbstgerechten Cholerikern noch halbwegs in Grenzen, ist es reine Zeitverschwendung, bei der Welt Disqus-Kommentare zu abonnieren – und sei das Thema noch so interessant.

Dass es anders geht, zeigt Google+: Da ich mir aussuchen kann, wessen Beiträge ich lesen möchte, und diese Personen ihrerseits handverlesene Diskurs-Partner in ihre „Kreise“ gezogen haben, kommt wirklich etwas rüber. Dass die Hemmschwelle der Verbalvandalen bei Facebook – wie ich bei Google+ las – niedriger liegt, erkläre ich mir damit, dass dort nicht so viele Menschen ihren Klarnamen verwenden und die FB-Mitglieder weniger wählerisch beim „Befreunden“ sind.

Leider liegen die Kampagnenjournalisten mit ihrer Wulffsjagd wahrscheinlich richtig: Der Mob will, wie ein Mitgoogler schrieb, Blut sehen. Meine ausgewählten Kontakte sind einfach nicht repräsentativ.

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Eine Antwort auf „Eine Lanze für den Leserbriefredakteur“

  1. Also bei Heise ist es abhängig von Wochentag, Uhrzeit und Thema schon auch sehr durchwachsen. Außerdem werden bei Welt.de glaube ich die redakteure weniger attackiert.

    Nur ist der Morast in Threads bei Heise besser durchschaubar als bei Spiegel und anderen, wo alles linear angezeigt wird.

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