Nerds waren immer schon ein bisschen anders. Jetzt kaufen sie sogar Sehhilfen im Internet.
Das Bildchen, das Sie unten sehen, ist nicht mehr ganz aktuell. Nachdem ich die Schrift auf meinem Computerdisplay immer größer einstellen musste, habe ich mich nämlich aufgerafft, meine Schreibstube verlassen und bin zu Frau Schmid gegangen. Die hat ein hübsches Brillengeschäft in der Altstadt, was an sich nichts Besonderes wäre, denn wenn bei uns ein Ladenlokal frei wird, kann man wetten, dass am nächsten Morgen kein Automatenunterhaltungscenter drin ist und kein Damisches Matratzenlager, sondern der nächste gut sortierte, vom Innenarchitekten durchgestylte Augenoptiker-Meisterbetrieb.
Womit mich Meisterin Schmid gekriegt hat, war denn auch weniger das nette Ambiente als die futuristische Apparatur, mit der sie im Hinterzimmer des mittelalterlichen Gemäuers meine krummen Hornhäute aufs Exakteste vermaß. Jetzt trage ich im Büro eine neue randlose Brille, von einer charmanten Optikerin individuell zugeschnitten und mit Augenmaß plus Engelsgeduld so lange zurechtgebogen, bis weder an Ohr noch Nase irgendetwas kniff und drückte. War nicht mal teuer.
Und was lese ich nun mit dieser perfekten Sehhilfe gestochen scharf in meinem E-Postfach? Dass ich faul sitzen bleiben und mir die Brille online hätte ordern können. Wie das? Nun, ein „Netzoptiker“ mit dem schönen Namen Lars Leber und sein Konkurrent „Mister Spex“ bieten mir an, jedes Modell probehalber meinem virtuellen Alter Ego auf die Nase zu setzen, zum Beispiel eine „Nerdbrille“. Ich solle einfach ein Foto von mir hochladen.
Na gut, probieren kostet nix. Bevor ich per Webcam ein Selbstporträt knipse, muss ich allerdings die Schmid-Brille absetzen (auch Nerds tragen meines Wissens keine zwei Sehhilfen übereinander) und Kontaktlinsen einsetzen, damit ich auf dem Monitor noch was erkenne. Zum Beispiel, was die Online-Optiker alles von mir wissen wollen – Dioptrien links und rechts, Zylinder samt Winkel, Pupillenabstand. Wie gut, dass mir Frau Schmid einen Brillenpass ausgestellt hat, sonst müsste ich mir einen Termin beim Augenarzt besorgen, der mir Praxisgebühr abknöpft und als individuelle Gesundheitsleistung eine kostenpflichtige Augeninnendruckmessung andreht.
Dass mir das alles ein bisschen gewöhnungsbedürftig vorkommt, liegt bestimmt daran, dass ich kein Nerd bin. Aber es muss viele geben. Wenn keiner online Brillen kaufen würde, gäbe es die Läden ja nicht. Darum wage ich jetzt mal eine Prognose, was auf uns zukommt, wenn die ersten Nerds in die Jahre kommen: zuerst das Nerd-Hörgerät. Man braucht nur einen Online-Hörtest zu machen und mit der 3D-Kamera die Ohrmuscheln einzuscannen. Dann dauert es nicht mehr lange, bis man seine dritten Zähne, die beim deutschen Zahntechniker ein Vermögen kosten würden, zum halben Preis in China bestellen kann. Die Krönung der Selbstbedienung ist das neue Gelenk für den vom vielen Sitzen hüftsteif gewordenen Nerd. Die einzige Herausforderung für die Erfinder solcher Selbstbedienungs-Dienstleistungen: Wie bekommt man diese Stubenhocker zum X-ray-yourself- Röntgenautomaten am Flughafen?
ULF J. FROITZHEIM,TR-Kolumnist, versucht unverdrossen, trotz seiner Kurzsichtigkeit jeden Monat an dieser Stelle Weitblick zu beweisen.
Aus der Technology Review 10/2010, Kolumne FROITZELEIEN
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