Rezo oder die Zerstörung der Blauhaarfrisur – Teil I

Lieber Yannick*,

Du hast Dich kürzlich bei Deinen Youtuber-Freunden Fabian und Steven hämisch über zwei Themen ausgelassen, die mich beruflich wie demografisch leider triggern: Printmedien und ältere Mitbürger.

Bevor jemand erwidert, das hättest Du nie so gesagt oder getan: Genau genommen hast Du Dich über bestimmte Boulevardzeitungen verbreitet und über Leute, die Dir alt erscheinen. Deshalb könnte ich jetzt sagen: 1. Ich arbeite für diese Medien nicht. 2. Ich und alt? So weit kommt‘s noch!

Doch ich habe mir vorgenommen, nichts genauer zu nehmen als Du, und fühle mich daher gemeint. Als ich so jung war wie Du heute, fand ich jemanden, der so alt war wie ich heute bin, ja auch alt. Seither hat sich mein Blickwinkel geändert. Nun fühle ich mich eher wie ein Pikantje-Gouda: mittelalt. Denn ich habe außer zwei Kindern, die ein bisschen jünger sind als Du, auch noch eine Mutter und einen Schwiegervater. Die sind fast soviel älter als ich, wie ich älter bin als Du.

Egal, lassen wir fünfe gerade sein: Ich bin ein alter Journalist, der für Zeitungen schreibt, die er Zeitschriften nennt – falls Du dieses antiquierte Wort schon mal gehört hast. Und als solcher kann ich mir nicht verkneifen, Dir die Leviten zu lesen (zumal Du ja selbst ein leidenschaftlicher Levitenleser bist). Was ich mitzuteilen habe, reicht für eine Miniserie. Heute also …

Teil 1: Oppa erzählt vom Kriech

Ob‘s Dir passt oder nicht: Wir beide haben einiges miteinander gemeinsam, lieber Yannick. Das meine ich nicht nur geografisch – als gebürtiger respektive zugezogener Öcher – sondern auch kritisch-selbstkritisch. Wir sind Besserwisser, die gerne anderen die Welt erklären und selbige vor Leuten retten würden, die den Klimawandel leugnen, Regenwälder abholzen, Flüchtlinge untergehen lassen und andere üble Dinge tun. Ich verstehe auch gut, dass Du an Leuten verzweifelst, die a) ganz selbstverständliche Dinge nicht (mehr) raffen und b) älter sind als Du. Das Gefühl kannte ich schon, da warst Du noch gar nicht geboren. Nur habe ich seither gelernt, dass es zwischen diesen beiden Faktoren trotz statistisch auffälliger Koinzidenz keine zwingende Korrelation oder gar Kausalität gibt. Valide ist allein die Aussage, dass die Inzidenz von Begriffsstutzigkeit mit dem Alter signifikant zunimmt. Aber sie ist halt bereits bei Jungen erschreckend hoch und tritt bei überraschend Vielen auch im hohen Alter nicht ein. Anders gesagt: Altersdiskriminierung ist genauso hirnrissig wie die zunehmend populäre Diskriminierung von Migranten. Schubladendenken löst keine Probleme, es verstärkt sie.

Der große Unterschied zwischen uns, außer der Haarfarbe, -dichte und -länge: Als ich jung war, konnte man von so etwas wie Youtube nur träumen. Jemand mit einem Mitteilungsdrang wie wir zwei Hübschen hatte damals nur die Wahl, als Journalist zum Fernsehen, zum Radio oder zu einem Printmedium zu gehen. Worüber wir Studenten allerdings schon damals Anfang/Mitte der Achtziger geredet haben, war die nach Science-fiction klingende Idee, mit Online-Medien – das hieß damals in Deutschland Bildschirmtext, in Frankreich Minitel, in den USA Prodigy – könnten wir uns irgendwann, wenn wir schon ziemlich alt sind, zu Hause eine personalisierte Zeitung ausdrucken (!) mit den Nachrichten, die uns wirklich interessieren. (Schau Dir im Computermuseum an, wie Bildschirme damals waren! Du hättest auch Papier haben wollen.) 1995 wollte Nicholas Negroponte vom MIT Media Lab das Modell als Daily Me automatisieren – eine selbstlernende digitale Zeitung, die die Vorlieben der Leser erkennt.

Wir träumten auch von Bildtelefonen und basisdemokratischen Bürgermedien. Aber dass das, was wir anno 2019 an Technik zur Verfügung haben, im Lauf unseres Berufslebens für Normalbürger erschwinglich sein würde, erschien zu weit hergeholt, um es ernsthaft zu behaupten. Ein LTE-Smartphone für 199 Euro? Bis Bill Gates 1990 seine Vision Information At Your Fingertips präsentierte, wäre man für solche Prophezeiungen für verrückt erklärt worden.

Damit sind wir bei Dir. Du erklärst Leute für verrückt, weil Du sie nicht verstehst: „Wir werden auch irgendwann alt sein und diese psychologischen Fehler haben.“ Du Oberschlaumeier hältst es offenbar für eine degenerative geriatrische Erkrankung, Medien nicht genau so zu konsumieren wie Deine Generation, also online, non-linear und natürlich audiovisuell. Und Du hältst es für lustig, Menschen zu verspotten, die Deiner küchenpsychologischen Ansicht nach nur krank sein können. Nee, nee, humortechnisch ist da noch Luft nach oben.

Deshalb setz Dich gefälligst gerade an den Essenstisch, um es mit Oppa zu sagen, dann hebt sich Dein Blick nämlich automatisch über den Tellerrand, der sonst Deinen Horizont begrenzt: Die neuen medialen Nutzungsformen, die Du so liebst, sind komplementär, nicht zwingend substitutiv. Sie erweitern die Möglichkeiten. Nur weil sie anders sind, sind sie noch nicht besser, jedenfalls nicht für jeden. Wir Älteren finden Videos mit schnellen Schnitten eher anstrengend, weil unsere Synapsen sich zu einer Zeit manifestierten, als das Tempo noch nicht so hoch war (nicht einmal in den damaligen Videogames) und weil das Reaktionsvermögen der Sinnesorgane im Alter nachlässt. Das ist kein „psychologischer Fehler“ oder ein Grund, uns abzuschreiben, sondern etwas völlig Normales. Zu erwarten, dass jeder alles Neue mitmacht, weil es neu ist (nicht weil er es gut und überzeugend findet), ist deshalb überheblich, dumm und letztlich totalitär.

Es ist genauso überheblich und dumm, wie alten Menschen nicht zuzuhören, weil sie ja alt sind und deshalb automatisch nur noch Honig im Kopf haben. Mich erinnert diese Einstellung an den immer noch beliebten Spruch „Oppa erzählt vom Kriech“. Den hat natürlich nicht Eure Generation erfunden, sondern (spätestens) unsere; Eure Opas waren im Krieg ja noch Kinder oder höchstens Teenies, ermüden Euch also eher mit länglichen Stories aus der schwierigen Nachkriegszeit.

Wir dagegen haben noch gelernt, dass es so‘ne Oppas gibt und so‘ne: Die einen (wie mein Großvater mütterlicherseits) forderten blindgehorsamen „Respekt vor dem Alter“ (als sei Alter ein Verdienst), waren nicht wirklich entnazifiziert worden und redeten sich die Hitlerzeit schön; das brauchte kein Mensch. Die anderen sind Zeitzeugen, Leute wie der rüstige KZ-Überlebende Max Volpert, der noch regelmäßig aus Israel hierher nach Kaufering kommt, wohin er als Jugendlicher von den Nazis verschleppt worden war, und Schülern erzählt, was er durchgemacht hat. Wer dem alten Herrn zugehört hat, dem bleibt jeder jugendlich-übermütige Spott über alte Menschen im Hals stecken. Solchen Alten gebührt Respekt, ohne Wenn und Aber. Vermutlich hast Du auch schon so beeindruckenden Persönlichkeiten zugehört und dummerweise ausgerechnet in dem Moment nicht mehr daran gedacht, als Du Senioren als irgendwie meschugge beschrieben hast, denn: Die lesen ja noch Zeitungen. Und ein nicht meschuggener Mensch käme nicht auf die Idee, eine Zeitung in die Hand zu nehmen.

Also merk Dir die gute Nachricht, Yannick: Mit etwas Glück wirst Du im Alter nicht dement, entwickelst keinen „psychologischen Fehler“ und lachst rückblickend darüber, wie eingebildet und doof Du als 27-Jähriger warst.

* Yannick F. aus A., bekannt unter seinem Künstlernamen Rezo

Morgen in diesem Theater:

Teil 2 – Geh unter normale Menschen!

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