In Berlin und in München glauben Politiker, in ihrem Land sei genau dreierlei wichtig: Fußball, deutsche Autos und Arbeitnehmer. Selbständige und Künstler werden dagegen noch weniger wertgeschätzt als Menschen, die sich in Pflegeberufen abmühen. (Ja, das geht.) Die Ungleichbehandlung in Covid-19-Zeiten ist eine eklatante Missachtung des Grundgesetzes. Darin liegt der Skandal – nicht in den Hirngespinsten, die die durchgeknallten Anhänger der Paranoikerpartei „Widerstand 2020“ auf die Straße treiben.
Zunächst in grün/kursiv ein paar Vorbemerkungen: Wenn jemand unserer Gesellschaft schadet und die Demokratie aufs Spiel setzt, sind es Menschen, die dichtgedrängt ohne Mundschutz Hetzern bei ihren Volksreden applaudieren, aber nicht Merkel und Söder. Die deutsche Politik hat zwar Fehler gemacht, aber sie hat auf die Covid-19-Epidemie in China nicht überreagiert. Man kann ihr vielmehr vorwerfen, dass sie zu spät reagiert hat. Es ist gut, wie sie den Schaden begrenzt hat, nachdem sie die Tragweite der Pandemie erkannt hatte. Es war auch richtig, auf Christian Drosten zu hören, den renommiertesten deutschen Spezialisten für Coronaviren. Ein Fehler in der Krisenkommunikation dagegen war, die Schutzfunktion einfacher und selbstgemachter Gesichtsmasken aus einer klinisch-perfektionistischen Perspektive heraus kleinzureden, weil sie halt nicht die zertifizierte 100-prozentige Sicherheit der kaum lieferbaren 2-Wege-Profi-Masken bieten. Ein Fehler der darüber berichtenden KollegInnen war, nicht nachzufragen,
– warum eigentlich eine simple Maske „nicht“ ihren Träger schützt (eine korrekte Antwort wäre gewesen: dass ihre Effektivität von so vielen Variablen abhängt und beeinträchtigt werden kann, dass man keine allgemeingültigen Aussagen über den Umfang des Schutzes treffen kann)
– warum überhaupt relevant sein sollte, ob man mit Maske auch sich selbst schützt oder „nur“ die Anderen (eine korrekte Antwort wäre gewesen: jeder von uns kann Überträger sein, ohne es zu wissen, und deshalb ist es für uns alle besser, wenn so ein Ding die Tröpfchen zumindest bremst und einen Teil von ihnen abfängt, schließlich ist die Gesundheit anderer Leute genauso wichtig wie die eigene)
Fazit: Im Großen und Ganzen haben Merkel, Söder & Co. sinnvolle Entscheidungen getroffen. Bei der konkreten Umsetzung haben sich die beauftragten Behördenmenschen leider nicht getraut, aus der Perspektive der Bürger zu denken, zu sprechen, zu argumentieren: Die Texte und Begründungen der Allgemeinverfügungen waren nicht vom Empfänger her gedacht – was kommt bei den Leuten an? –, sondern vom Absender: Alles, was ich jetzt schreibe, könnte gegen mich verwendet werden; also äußere ich mich so, dass mich niemand haftbar machen kann, selbst wenn ich die Bürger verunsichere, die das Warum und Wieso nicht verstehen. Diese Diskrepanz zwischen den Statements aus der Politik und dem archaisch-obrigkeitsstaatlich erscheinenden (!) Handeln unbekannter Ministerialbürokraten könnte das Misstrauen derer geschürt haben, die jetzt die Verschwörungsmythen abgedrehter Zeitgenossen wie Attila Hildmann, Xavier Naidoo, Oliver Janich oder Rolf Kron nachplappern und so sendungsbewusst auftreten, als hätten sie gerade die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Der Vertrauensverlust ist also in Teilen hausgemacht.
Soviel zur Vorrede.
Was sich unser politisches Führungspersonal vorhalten muss, weil es wirklich ein sehr großes Problem darstellt, ist die geradezu vorsätzlich anmutende Gedankenlosigkeit bei den bisherigen Versuchen, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Die Politik wird ihrer Verantwortung gegenüber denen nicht gerecht, die am meisten unter den Folgen des Lockdowns zu leiden haben. Ich will das an ein paar Aspekten festmachen: faktischen Berufsverboten, falsch verstandenem Keynesianismus, willkürlicher und volkswirtschaftlich kurzsichtiger Subventionierung der Autokonzerne und last not least peinlichem Kulturbanausentum.
Bevor ich das Wort ergreife, hier ein Video einer bayerischen Initiative von Kulturschaffenden:
Künstler und Selbständige fordern einen „Platz am Tisch“
Berufsverbot für Kulturschaffende, Wirte u.a.
Wenn es nötig ist, Theater, Kinos, Kneipen und Sportstätten dichtzumachen, weil sie potenzielle Hotspots für Ansteckungen sind, dann ist das halt so. Aber wer so etwas anordnet, übernimmt damit eine Fürsorgepflicht für diejenigen, die in diesen Bereichen ihren Lebensunterhalt verdienen – und zwar unabhängig davon, ob diese im Angestelltenverhältnis arbeiten oder nicht. Denn für viele Betroffenen bedeuten die Schließungen und Betriebsuntersagungen nichts anderes als ein mit hundertprozentigem Einnahmeausfall einhergehendes Berufsverbot. Es ist ein existenzielles Risiko, gegen das sie sich nicht versichern konnten: Die Policen, die sie angeboten bekommen, decken nur Berufsunfähigkeit ab, aber nicht staatlich angeordnete Berufsuntätigkeit.
Betroffen sind sogar Gastronomen, die sich eigentlich – im Gegensatz zu Einzel-„Unternehmern“ wie Schauspieler, Musiker, Tontechniker, Konzertkritiker, Sportreporter u.v.a.m. – gegen Betriebsausfälle durch infektionsbedingte Schließungen versichern können und dies wegen der latenten Gefahr durch Salmonellen und EHEC auch getan haben. Sie rennen jetzt ihrer Entschädigung hinterher, weil Politiker meinten, in Hinterzimmergesprächen mit Verbands- und Versicherungsvertretern Deals schließen zu müssen, die bestehende Policen angeblich nichtig werden ließen. Solche Zahlungsverweigerungen werden wegen der Vertragsfreiheit (pacta sunt servanda) vor Gericht wahrscheinlich nicht halten, bedrohen aber gleichwohl die Liquidität von Betrieben und könnten wegen des langen Instanzenwegs zu Insolvenzen führen.
Für bestimmte Gruppen von Kulturschaffenden wurden zwar mehrfach Trostpflästerchen angekündigt, aber nie war etwas dabei, das auch nur annähernd vergleichbar war mit dem, was für Pflichtmitglieder der Arbeitslosenversicherung (vulgo: Angestellte und Arbeiter) getan wurde. Für sie griff die Regierung kurzerhand via Kurzarbeitergeld in eine Sozialkasse, die nicht dafür geschaffen wurde, dass Menschen aufgrund staatlicher Verfügung nicht arbeiten dürfen. Es ist der falsche Topf: Eigentlich wäre nicht die Versichertengemeinschaft in der Haftung, sondern der Steuerzahler. Denn die Regierung hat zu verantworten, dass nach dem Bekanntwerden des Covid-19-Ausbruchs in Wuhan nicht nur der Flugverkehr zwischen China und Deutschland noch wochenlang aufrechterhalten wurde, sondern dass symptomfreie Einreisende selbst dann nicht in Quarantäne kamen, wenn sie mit Infizierten in einer Maschine gesessen hatten. Nicht einmal Kontaktbeschränkungen wurden ihnen auferlegt.
Die Zögerlichkeit der Politik Ende Januar und noch im Februar war erkennbar allein den Interessen der deutschen Industrie geschuldet. Ihre vielfältigen Aktivitäten in China sollten nicht stärker beeinträchtigt werden, als unbedingt nötig erschien – eine teure Fehleinschätzung. Leider betreffen die Auswirkungen der Pandemie aber eben nicht nur diejenigen, die mit China Geschäfte machen, sondern alle Bürger – und besonders hart die als nicht „systemrelevant“ (s.u.) betrachteten Berufe und Solo-Selbständigen, also Freiberufler ohne Angestellte.
Diese haben mit Import und Export nun wirklich nichts zu tun. Warum sollte also ausgerechnet ihnen eine individuelle, eigenverantwortliche Risikovorsorge obliegen für den Fall, dass infolge der industriellen Globalisierung fahrlässigerweise Viren ins Land gelassen werden? Anders gefragt: Warum wird von VW und Adidas nicht erwartet, dass sie eine Versicherung für solche Fälle abschließen, während unsereins (von welchem Geld eigentlich?) dafür ein Extra-Finanzpolster auf die Seite legen soll, das ihm das Finanzamt nicht einmal als Vorsorgeaufwendung anerkennen würde? Was läuft schief in einer Gesellschaft, in der auch nur darüber diskutiert wird, ob man wirklich den armen Aktionären die Dividenden streichen kann und ob es wirklich nötig ist, die berufliche Existenz dieser nichtsnutzigen Kulturschaffenden zu sichern, die lieber musizieren und Theater spielen, anstatt wie ein anständiger Deutscher zu arbeiten? Man verzeihe mir diesen bösen Sarkasmus, aber solche Gedanken liest man in den asozialen Netzen tatsächlich.
Also: Eine Gleichbehandlung aller Betroffenen (unter Berücksichtigung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art. 14 GG) ist zwingend geboten, denn laut Grundgesetz sind wir vor dem Gesetz alle gleich. Ein Infektionsschutzgesetz kann keine Ausnahme machen. Es darf weder Angestellte besser stellen als Selbständige noch Menschen durch willkürliche Einstufung als „irrelevant“ für das „System“ diskrimieren, stigmatisieren und ihnen aufgrund dessen Entschädigungen für hoheitliche Eingriffe in ihre Grundrechte vorenthalten.
Ganz abgesehen von verfassungsrechtlichen Grundsätzen ist es auch politisch dumm, sich überhaupt solche Kriterien auszudenken, denn es bestärkt diejenigen in ihrem Standpunkt, die pauschal „das System“ kritisieren oder es rundweg abschaffen wollen. „System“ ist ursprünglich ein deskriptiver Begriff aus den Sozialwissenschaften (speziell der Politologie), war aber nie ein verfassungsjuristischer Terminus. Da er längst zum Kampfbegriff demokratiefeindlicher Kräfte geworden ist, tun unsere Verfassungsorgane sich selbst und unserem Staat keinen Gefallen, wenn sie sich aufs „System“ berufen. Ein System, in dem die Kultur (zu der, by the way, auch der Journalismus, die Schriftstellerei und das politische Kabarett gehören) keinen Stellenwert mehr hat, stellt im Übrigen seine eigene Legitimität in Frage. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage eines lebendigen Kulturlebens ist konstituierend für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung: ohne Kultur keine FDGO, ohne FDGO keine BRD.
Aiwangers zur Schau gestellte Dummheit
Es muss schon einiges passieren, damit ich einen demokratisch gewählten Politiker öffentlich als Dummkopf und Kulturbanausen ersten Ranges bezeichne. Der bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident hat das geschafft – zuletzt in einem Interview mit der „Radiowelt“ auf Bayern 2. So sehr sich Moderator Matthias Dänzer-Vanotti auch mühte und nachhakte, aus Hubert Aiwanger (konn olles außer Hochdeutsch und dem Buchstoben A) wor kein auch nur onsotzweise durchdochtes Statement herauszuholen. Es ging um seine Rechtfertigung von Kaufprämien für Autos. Aiwanger glaubt, dass es der deutschen Wirtschaft insgesamt nutzt, den Kauf von Neu- oder Jahreswagen zu subventionieren, und lässt Einwände an sich abprallen.
Zumindest fürs Protokoll möchte ich hier noch mal zusammenfassen, warum das sowohl dumme als auch willkürliche und unfaire Politik ist:
Wer sich auch nur ein bisschen mit Keynesianismus befasst hat, weiß, dass staatliche Ausgaben dann volkswirtschaftlich am effizientesten sind, wenn das aufgewendete Geld schnell im Wirtschaftskreislauf ankommt. Am schnellsten kommt es dort an, wenn es Menschen in die Hand bekommen, die knapp bei Kasse sind. Schon Helikoptergeld ist ineffizient, weil es in gleicher Höhe an alle fließt, unabhängig davon, ob sie bedürftig sind. Wer eigentlich genug hat, freut sich über die Staatsknete, hätte dieselbe Anschaffung aber früher oder später sowieso getätigt. Faktisch landet die Subvention auf seiner Hohen Kante, anstatt den Konsum anzukurbeln.
Eine Neuwagen-Subvention ist viel schlimmer: Sie unterstützt unabhängig von der Bedürftigkeit all jene, bei denen eine Neuanschaffung zufällig in nächster Zeit ansteht, und die auch den Rest des Kaufpreises aufbringen können, ohne sich übermäßig zu verschulden. Dies trifft überproportional für Menschen zu, die sich ein höherpreisiges Auto leisten können. Wer durch Kurzarbeit oder ausgefallene Aufträge oder Auftritte ohnehin knapp bei Kasse ist, hat nichts von der Kaufprämie. Über die Mehrwert- und Einkommensteuer bezahlt er sie sogar noch mit. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als seine alte Möhre weiterzufahren, denn jede Neuwagensubvention lässt den Marktwert von Gebrauchtwagen ins Bodenlose stürzen.
Widersinnig als (nationales) Konjunkturprogramm ist die Kaufprämie auch deshalb, weil man den Zuschuss nicht auf deutsche Marken beschränken kann, ohne das EU-Beihilferecht zu verletzen, und die Lieferketten der Autoindustrie globalisiert sind. Wer sich von Vater Staat einen SUV von BMW oder Mercedes sponsern lässt, kauft sich zum Beispiel mit hoher Wahrscheinlichkeit ein amerikanisches Auto. In den Genuss der Prämie kämen auch Käufer von Autos aus japanischer, koreanischer, britischer oder rumänischer (etc. pp.) Produktion. So eine Politik kann man machen, wenn man die globalisierte Arbeitsteilung (die in ihrer derzeitigen Form die Ausbreitung von Viren begünstigt) fördern will, anstatt erst einmal Lieferketten und Standortstrategien zu überdenken. Aber dann sollte man so ehrlich sein, nicht von Trickle-down-Effekten zu fabulieren, die durch den vermehrten Konsum deutscher Automobilfacharbeiter ausgelöst wurden. (Nein, Aiwanger hat das Wort „Trickle-down“ nicht benutzt, er kennt es wahrscheinlich nicht. Aber sinngemäß glaubt er genau daran.)
Ein Keynesianer würde daher zusehen, dass die Binnenkonjunktur dadurch wieder angekurbelt wird, dass
– der Staat in die öffentliche Infrastruktur investiert, etwa die Sanierung der Schulen und der Schienennetze oder den Ausbau des Öffentlichen Personenverkehrs in der Fläche;
– diejenigen wieder Geld in die Tasche bekommen, die momentan nicht nur leer ausgehen, sondern sogar genötigt werden, unter großen Verlusten ihre Altersvorsorge anzugreifen, weil Grundsicherung nur Menschen zugute kommt, die keine Rücklagen fürs Alter gebildet haben.
Minister Aiwanger meint, Künstler seien halt Fälle für die Sozialhilfe. Wie er das ausdrückt, dieser Mann der Automobilkultur, ist hier zu lesen:
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HG Butzko zu diesem Thema:
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